Wer kennt sie nicht, die Namen der großen Epen "Ilias" und "Odyssee" des Homer, in denen die Ereignisse des Trojanischen Krieges und der Zeit danach niedergelegt worden sind für die Ewigkeit. Zwar ist bis heute umstritten, ob es die Person Homer wirklich gegeben hat. Doch das mehrt eigentlich nur den Ruhm der beiden griechischen Werke, die mit einem Alter von schätzungsweise rund 2700 Jahren als Initialzündung der abendländischen Dichtkunst gelten, als frühe Meisterwerke der Weltliteratur.
Eine der zentralen Figuren, die in beiden Epen vorkommen, ist Odysseus, der König von Ithaka, ein Held des Trojanischen Krieges, der nach dem Ende des epochalen Ringens zunächst nicht nach Hause zu seiner Gattin Penelope zurückkehren darf, sondern von den Göttern auf eine Irrfahrt geschickt wird. Der Grund: Er hatte den Kyklopen Polyphem geblendet und so den Zorn von dessen Vater, dem Meeresgott Poseidon, auf sich gezogen. Zehn Jahre wird der namensgebende Held der "Odyssee" fortan versuchen, in seine Heimat und zu seiner Familie zurückzukehren. Zehn Jahre voller sprichwörtlich gewordener Begebenheiten, wie die von der Zauberin Kirke (gesprochen Zirze), die Odysseus Begleiter in Schweine verwandelt. Oder dem Meeresungeheuer Charybdis, dem Odysseus und seine Getreuen ausweichen wollen, dabei aber in die Fänge des Seemonsters Skylla geraten.

Was hat es mit den Ruinen auf sich?
Nun hat ein Archäologenteam von der Universität Ioannina, Griechenland, das seit 2018 auf der Heimatinsel des Odysseus forscht, konkrete Hinweise dafür gefunden, mit was für einem Gebäudekomplex man es hier zu tun hat.
Im Zentrum des Projektes steht der Fundplatz Agios Athanasios im Norden der Insel, dessen Ruinen seit dem 19. Jahrhundert auch als "Schule des Homer" bekannt sind. Die architektonischen Relikte, darunter ein Turm und ein größeres Gebäude, liegen getrennt auf zwei aus dem Felsen geschlagenen Terrassen, die durch gemeißelte Treppen miteinander verbunden sind. Zahlreiche Wasserquellen entspringen an dem Ort. Funde von Steingeräten, Keramik und auch Schmuck belegen bisher eine Besiedlung über viele Jahrtausende hinweg. Die Nutzungsgeschichte des Platzes reicht mindestens von der jüngeren Jungsteinzeit bis in die griechisch-römische Antike in den Jahrhunderten um Christi Geburt.

Prächtige mykenische Scherben aus dem 14. und 13. vorchristlichen Jahrhundert weisen zudem auf eine große Bedeutung des Ortes während der Bronzezeit hin. Jener Epoche, in der auch der Trojanische Krieg stattgefunden haben soll. Die Forschenden gehen davon aus, dass der Platz – möglicherweise sogar ein Palastort – zu einem Netzwerk mehrerer mykenischer Siedlungen auf der Insel gehört und strategische Bedeutung hatte, für die Kontrolle des Hafens etwa und die Aufsicht über das Hinterland.

Eine Kultstätte für Odysseus
Wie die "Greek City Times" berichtet, sind vor allem die Funde von beschrifteten Dachziegeln von Interesse. Denn zwei davon tragen eindeutig Varianten des griechischen Namens Odysseus "ΟΔΥCCEOC" und "ΟΔΥC[CEI]". Schon zuvor waren wohl in der Nähe Weihgeschenke entdeckt worden, eines mit der Aufschrift: "Odysseus gewidmet".
Doch erst jetzt sind sich die Forschenden wirklich sicher: Sie haben ein Odysseion entdeckt, eine Kultstätte für die Verehrung des homerischen Helden auf dessen Heimatinsel. Und tatsächlich ist ein solches Heldenheiligtum für Ithaka aus einer Inschrift aus der Zeit um 207 v. Chr. aus dem kleinasiatischen Magnesia belegt. Ein Ziel für Pilger und vielleicht auch Hilfesuchende also, die sich des Beistandes des listenreichen Kriegers und Königs Odysseus versichern wollten. Eines Mannes, der es gewagt hatte, sich mit den Göttern anzulegen. Und siegreich daraus hervorging.