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Kai Wiedenhöfer Der Fotograf, der die Macht der Mauern dokumentierte

Der Fotograf Kai Wiedenhöfer hat Zeit seines Lebens gezeigt, was Menschen trennt, und gesucht, was sie verbindet. Auf seinen vielfach ausgezeichneten Bildern gehen Mauern durch Städte und Länder in aller Welt. Oft fotografierte er im Westjordanland, im Gazastreifen. Auch nach seinem Tod bleiben diese Bilder aktuell – wie die Hoffnung auf Versöhnung
Berliner Mauer mit Grenzpolizist
Auslöser Mauerfall: Am 11. November 1989 fotografierte Kai Wiedenhöfer am Potsdamer Platz den Grenzübergang von Ost- nach Westberlin
© Kai Wiedenhöfer

Sein Lebensthema hat Kai Wiedenhöfer am 10. November 1989 gefunden. Nur wusste er es noch nicht. Da stand er an der Berliner Mauer, diesem 155 Kilometer langen Monstrum, das die Stadt 28 Jahre, zwei Monate und 26 Tage lang geteilt hatte. Sie existierte noch in all ihrer brutalen Hässlichkeit. Aber seit 23 Uhr 30 in der Nacht zuvor waren die ersten Tore offen, seit Mitternacht sämtliche Übergänge. 

Und Kai Wiedenhöfer, eilig aus Essen angereist, wo er im ersten Semester an der Folkwang-Universität Dokumentarfotografie studierte, dachte, dies könne das Ende aller Mauern sein. Aller Mauern, von denen Völker eingesperrt werden. Das Ende vielleicht sogar aller Mauern, die Nationen oder Religionen trennen. Und Arm und Reich. Von einer freien, einer grenzenlosen Welt träumte der damals 23-Jährige. Er täuschte sich.

An diesem Tag machte er sich auf den Weg, die Mauern zu bekämpfen. Einfach, indem er sie fotografierte, weltweit. Indem er sie als die Gewaltakte dokumentierte, die sie sind: als Menschentrenner aus Beton und Stacheldraht, als Schreckensbauten, als Fallen mit Bewegungsmeldern und Infrarotkameras.

Soldaten sprechen mit einem Mann
Mauern sind Macht: Immer wieder reiste Wiedenhöfer nach Israel, ins Westjordanland und nach Gaza. Hier diskutieren israelische Grenzschützer mit einem Palästinenser (2003)
© Kai Wiedenhöfer

Kai Wiedenhöfer, im März 1966 im baden-württembergischen Schwenningen geboren und am Kirchheimer Ludwig-Uhland-Gymnasium zur Schule gegangen, hat schon dort ein besonderes Interesse am Nahen Osten entwickelt. Während seines Studiums in Essen nutzt er die Semesterferien zu Auslandsreisen, fotografiert Konzentrationslager, jüdische Friedhöfe. Und 1989 erstmals auch in Jerusalem und auf der Westbank, bevor er 1991/92 für 15 Monate in Damaskus Arabisch lernt und im Jahr darauf für zehn Monate in den Gaza-Streifen zieht.

Dort und im Westjordanland kann er, auf einem Motorrad unterwegs, dabei zusehen, wie die Sperranlagen wachsen: auf Anweisung des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin und heute 52 Kilometer lang, den Gazastreifen umschließend. Beginn einer Abgrenzung ist das, die vor Terroranschlägen schützen soll und im Westjordanland ab 2002 fortgesetzt  wird, über 700 Kilometer inzwischen; etwa 30 Kilometer davon sind mit einer bis zu neun Meter hohen Betonwand gesichert.

Mauer in Israel
Dokument der Trennung: 2002 begann Israel, Mauern um das Westjordanland zu errichten (das Foto entstand 2004). Heute sind die Sperranlagen auf mehr als 700 Kilometer angewachsen und beeinträchtigen den Alltag der Palästinenser erheblich
© Kai Wiedenhöfer

Eher selten sind auf Wiedenhöfers Mauerbildern auch Menschen zu sehen. Mit einer analog arbeitenden Großbild-Kamera im Negativ-Format von 6 x 17 Zentimetern, von der es nur sehr wenige Exemplare gibt, dokumentiert er vor allem die architektonische Monstrosität solcher Anlagen. Je größer, das ist sein Credo, um so dramatischer offenbare sich die Kapitulation der Politik bei der Suche nach friedlicheren Lösungen für das Zusammenleben.

Trennen, aussperren, abwehren: Im nordirischen Belfast fotografiert Wiedenhöfer dieses, wie er findet, "doch völlig absurde Konzept" mit sieben Meter hohen Mauern aus Ziegelsteinen, Beton und aufgesetzten Gittern, um katholische und protestantische Wohnviertel voneinander zu trennen. "Peace lines" werden die ab 1969 errichteten Bauwerke genannt die sich auch anderenorts im Nordirland finden. Heute soll es etwa 100 davon geben, Gesamtlänge mehr als 30  Kilometer, tagsüber an Durchgängen passierbar, nachts geschlossen. 

Rund 180 Kilometer lang ist die "Grüne Linie" aus Mauern, Stacheldraht und Trümmern, die Zypern in einen türkischen und einen griechischen Teil trennt, von UN-Truppen bewacht und Nikosia durchschneidend, das damit nach dem Mauerfall in Berlin die weltweit einzige geteilte Hauptstadt ist. Wiedenhöfer reist dort ebenso hin wie in die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, wo sich Europa von Marokko seit 1995 auf zusammengerechnet etwa 20  Kilometern Länge gegen Migranten aus Afrika abschottet, seit 2005 mit drei Reihen aus sechs Meter hohen – zeitweilig mit NATO-Draht bewehrten – Zäunen und einer paramilitärisch ausgerichteten Polizeieinheit. 

Er reist an die mit Wachtürmen, Panzersperranlagen, Schützengräben und Hochspannungszäunen bestbewachte Grenze der Welt, jene 248 Kilometer lange "demilitarisierte Zone" zwischen Nord- und Südkorea. Er fährt an den seit 2006 befestigten Grenzanlagen der mehr als 3100 Kilometer langen Grenze der USA zu Mexiko entlang, wo rund 17 000 Polizisten meterhohe Zäune und Metallwände bewachen, mit Nachtsichtgeräten, Wärmemeldern im Boden und Drohnen ausgestattet. 

Grenzzaun Marokko
Schwerstarbeit: Nur Handgepäck kommt zollfrei über die Grenze. Die marokkanischen Lastenträgerinnen und -träger müssen ihre in Europa aussortierte Second-Hand-Ware deshalb mit Muskelkraft über die Grenze von Melilla nach Marokko wuchten (2009)
© Kai Wiedenhöfer

Es sind die damals bekannten Grenzbarrieren der martialischsten Art. Andere existieren ohne sonderliche Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Etwa die 4000 Kilometer lange "Null-Linie", ein mit teils unter Strom zu setzendem Stacheldraht gesicherter Wall, mit dem sich Indien gegen Bangladesch abschottet, 1989 begonnen. Oder die "Line of control", ein bis zu drei Meter hoher Zaun, der auf 550 Kilometer Länge den indischen vom pakistanischen Teil Kaschmirs trennt, teils mit Minen versehen. Oder der "Berm", ein etwa 2700 Kilometer langer befestigter Sandwall, ebenfalls mit Minen ausgestattet, den Soldaten Marokkos in der westlichen Sahara bewachen. Wiedenhöfer verschafft einer weiteren weithin unbekannten Mauer mit seinen Bildern Beachtung: jener im irakischen Bagdad, 2007 von US-Soldaten errichtet. Sie separiert, gut dreieinhalb Meter hoch, fünf Kilometer lang, eine sunnitische Enklave von schiitischen Teilen der Stadt.

War es genug? Hätte Wiedenhöfer noch immer das Ziel gehabt, diesen Anachronismus im Zeitalter der Globalisierung anzuklagen – Waren und Geldströme dürfen nahezu jede Grenze übertreten, Menschen aber nicht –, so wäre er wohl verzweifelt. 

Grenzzaun in Arizona
Eine Mauer, die die Landschaft zerschneidet: In den 1990er-Jahren begannen die USA, Zäune an der Grenze zu Mexiko zu errichten. Seitdem haben sie die Sperranlagen immer weiter ausgebaut (hier in Arizona 2008)
© Kai Wiedenhöfer

Denn gab es im Jahr des Berliner Mauerfalls noch rund ein Dutzend kaum zu überwindende Sperranlagen weltweit, so waren es 2023 schon fast 80, davon allein 18 in Europa. Nach einem Bericht des Migration Policy Instituts sind vor allem die Migrationsbewegungen seit 2015 ein Treiber der aktuellen Abschottungspolitik. Fast ein Drittel der neuen Grenzanlagen richtet sich danach gegen Migrantinnen und Migranten, für gut ein Fünftel sei Kriegsangst verantwortlich. 

So baute Nordmazedonien einen Zaun an der Grenze zu Griechenland, und Griechenland wiederum verlängerte gerade seinen  Zaun am Grenzfluss zur Türkei. Ungarn hat Zäune an den Grenzen zu Kroatien und Serbien errichtet, Bulgarien an der Grenze zur Türkei. Polen baut seit 2021 auf 186 Kilometer Länge eine Abwehr gegen Menschenströme aus Weißrussland auf, Finnland  an einer 200 Kilometer langen  Barriere gegen Russland, die Türkei seit 2018 auf 828 Kilometern eine Abschreckung gegen Flüchtlinge, Schmuggler und "Terroristen" aus Syrien. Pakistan will Flüchtende aus Afghanistan seit 2017 mit einem Bollwerk aufhalten. Und neue Zäune sollen auch den Bewohnern der baltischen Staaten ein größeres Sicherheitsgefühl geben; die Anlagen sind seit Russlands Annexion von Teilen der Ukraine im Jahr 2014 im Bau.

Soldaten stehen in der demilitarisierten Zone
Die wohl bestbewachte Grenze der Welt: die "demilitarisierte Zone" zwischen Nord- und Südkorea. In Panmunjeom wurde 1953 das Waffenstillstandsabkommen zur Beendigung des Koreakriegs unterzeichnet (2009)
© Kai Wiedenhöfer

So hat sich die Geschichte nicht nach dem Idealisten Kai Wiedenhöfer gerichtet, der es als "einfältige Idee" empfand, mit Mauern Probleme lösen zu wollen. Und der einmal sagte: "Der Frieden beginnt dort, wo Mauern enden." Das mag stimmen. Nur ist halt kein Frieden. Und so ist es vermutlich kein Zufall, dass der großartige Fotograf der Mauern, geehrt mit zahlreichen internationalen Auszeichnungen der Branche und mit Ausstellungen seines Werks von London bis Bamako, von Paris bis Dubai gewürdigt, damit beginnt, seine Kamera intensiver als zuvor auf die Menschen zu richten. Nach drei außergewöhnlichen Büchern, die im Panorama-Format eine Architektur der Angst und der Aggression vor den Augen der Betrachter ausbreiten, erscheint 2015 Wiedenhöfers Fotoband "Forty out of one million".

In 40 stillen, unspektakulär eindringlichen Porträts, aufgenommen in Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern in Jordanien und dem Libanon, zeigt er entwurzelte Menschen, die sich aus dem Bürgerkrieg in Syrien nur verletzt und verstümmelt retten konnten. Kinder darunter, die sieben Operationen hinter sich haben. Die den Tod ihrer Familie miterleben mussten. Die mit Granatsplittern im Kopf überdauern. Es ist Wiedenhöfers Versuch, etwas zu bewirken, was Opferzahlen, je größer und damit unvorstellbarer sie werden, nicht gelingt: Es ist sein Versuch, Empathie zu erzeugen, Mitgefühl.

Mauer in Belfast
Ein Zaun – mitten durch Wohnviertel: In Belfast trennen sogenannte peace lines Protestanten und Katholiken (2008)
© Kai Wiedenhöfer

Er selbst, im Gazastreifen einmal angeschossen und in mehreren Ländern in großer Gefahr gewesen, kann die Zahlen der Vereinten Nationen zu den Toten in Syrien zwar benennen: bis September 2014 sind es etwa 250 000. Und von den Hundertausenden zerstörten Häusern in diesem Land hat er in der Ruinenlandschaft von Kobane nicht wenige persönlich gesehen. Aber es sind halt Steine. Mit seinen 40 Porträts will Wiedenhöfer nun eine andere Intimität.  

Will weg von der Dokumentation der Schreckensbauten. Hin zu jenen, die den Schrecken nicht nur sehen. Sondern erfahren. Er habe nicht die emotionale Distanz, die sein Beruf als Dokumentarfotograf eigentlich verlange: Das hatte sich dem Redakteur einer heimatlichen Lokalzeitung, die über Wiedenhöfer 2013 schrieb, schon vermittelt. Aber das genau ermögliche ihm doch die Nähe zu den Menschen, deshalb werde er auch im Nahen Osten als ein "Freund" empfunden.

Und deshalb hat Wiedenhöfer ein Gefühl dafür bekommen, was es heißt, wenn eine plötzlich hochgezogene Mauer das Leben neben ihr zerstört. Auch wenn sie, wie er in einem Interview ebenfalls von 2013 sagt, im Verlauf der Geschichte meist nur ein "Geschwindigkeitshemmer" sei.

Kai Wiedenhöfer auf einer Alm mit Schafen
In freier Natur: Mit Mauern Probleme lösen zu wollen, empfand Kai Wiedenhöfer (hier 2022) als "einfältige Idee". Der Fotograf starb am 9. Januar 2024
© Davide Monteleone

"Wall and Peace" wird nun ein neues, das letzte Buch von Kai Wiedenhöfer heißen; es kommt nach seinem überraschenden Tod am 9. Januar demnächst im Verlag Steidl heraus. Und hat mit Frieden, obwohl im Titel, wenig zu tun. Noch einmal wird dieses Buch die erdrückende Übermacht von Mauern zeigen. Von jenen Mauern, die das Leben der Palästinenser nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland, das doch ihr Land sein sollte, immer mehr erstickt. Zu einem Leben im Gefängnis macht. Die Mauern oft so dicht vor dem Fenster wie einst in der Bernauer Straße zu Berlin, wenige Meter nur. Wiedenhöfer hat Israel zu einer Zeit erlebt, als er noch mit dem Taxi von Jerusalem nach Gaza-Stadt fahren konnte wie von Hamburg nach Bremen. Damals spielten palästinensische Kinder mit israelischen Soldaten Fußball.

Frieden entsteht durch Vertrautheit, Entfremdung durch Trennung. Weil Trennung die Klischees und Feindbilder über jene jenseits der Mauer verstärkt. Das ist Wiedenhöfers Überzeugung bis zuletzt geblieben. Im November 2018 ist er noch einmal an den Mauern Israels gewesen. Und fand vor, dass die Mauern jene Gewalt verstärken, die sie doch eigentlich ausbremsen sollen. Weil sie Leben zerstören für die Menschen hinter der Mauer.

Und dass Mauern es nicht einmal vermögen, wenigstens den Menschen diesseits von ihnen den behaupteten Schutz zu gewähren. Der 7. Oktober 2023, der Tag des Überfalls terroristischer Hamas-Brigaden auf friedliche Zivilisten in Israel, hat Wiedenhöfer auf die denkbar tragischste Weise Recht gegeben.