Eines vorweg: Hormesis ist nicht Homöopathie. Die Begriffe gleichzusetzen ist falsch. Bei der Homöopathie sollen nicht nachweißbare Mengen einer Substanz als Heilmittel wirken. Hormesis bedeutet etwas anderes. Beispielsweise, dass ein in hoher Konzentration schädlicher Stoff in niedriger Dosis den gegenteiligen Effekt haben kann. Die Dosis macht das Gift – das postulierte bereits im 16. Jahrhundert der berühmte Schweizer Arzt und Naturphilosoph Paracelsus. Giftstoffe können so auch zu medizinischen Zwecken eingesetzt werden. Beispielsweise Digoxin, gewonnen aus Fingerhut, einer Pflanzart, deren Verzehr für uns tödlich sein kann. In der richtigen Dosierung verabreicht, kehrt sich seine schädliche Wirkung um, und es hilft etwa bei Herzerkrankungen und zu hohem Blutdruck.
Gut dosierter Stress kann Abwehrkräfte aktivieren
Das Grundprinzip der Hormesis (griech.: "Anregung", "Anstoß") lässt sich so verallgemeinern: Ereignisse, die unseren Körper in Maßen stressen, können Schutz-, Aufbau- und Reparaturmechanismen auslösen. In der richtigen Dosierung bewirkt Stress also positive Veränderungen in Zellen, Organen und Nervensystem. Das gilt beispielsweise auf für Sport, der grundsätzlich Stress für den Organismus bedeutet. Körperliche Aktivität führt zu mehr Sauerstoffumsatz in den Mitochondrien, dem Ort innerhalb einer Zelle, der für die Energieerzeugung verantwortlich ist. Dadurch fallen dort mehr aggressive Sauerstoffmoleküle (ROS) an, die eigentlich schädlich sind. Dem setzt der Organismus allerdings die Produktion von Antioxidantien entgegen, welche die körpereigenen Entgiftungssysteme aktivieren und heilsam wirken. Dieser Prozess wird auch als Mitohormesis bezeichnet.
Auch wenn wir in der Sauna schwitzen oder ins eiskalte Wasser springen, gilt das Hormesis-Prinzip. Denn eigentlich sind die extremen Temperaturen schädlich für uns, in der richtigen Dosierung werden jedoch Stoffwechselvorgänge in Gang gesetzt und Abwehrkräfte aktiviert. Fasten bedeutet ebenfalls zunächst Stress, hilft allerdings bei Aufräumarbeiten innerhalb des Körpers. Durch diesen als Autophagie bezeichneten Vorgang können beschädigte Zellbestandteile abgebaut werden und die Zellen wieder effektiver arbeiten.
Hormesis ist nicht auf alle Phänomene anwendbar
Hormesis hat allerdings auch ihre Grenzen. So ist die Strahlenhormesis, die Anwendbarkeit des Prinzips auf ionisierende Strahlung, in Fachkreisen hochumstritten. Zu den prominentesten Befürwortern zählt der US-amerikanische Toxikologe Edward Calabrese. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Studien und verweist beispielsweise auf Experimente, die eine lebensverlängernde Wirkung geringer Dosen radioaktiver Strahlung auf Insekten und Nagetiere zeigen. Das Bundesamt für Strahlenschutz und andere Expertengremien halten die bisherigen epidemiologischen und tierexperimentellen Untersuchungen allerdings für widersprüchlich und unzureichend. Trotzdem werden in Deutschland inzwischen vor dem Hintergrund möglicher Hormesis-Effekte "Heilkuren" mit ionisierender Strahlung angeboten: In Naturbädern (Balneotherapie) oder in radonhaltigen Bergwerksstollen setzen sich Menschen dabei freiwillig radioaktiver Strahlung aus. Sie erhoffen sich Linderung bei rheumatischen Erkrankungen oder Schuppenflechte. Das Bundesamt für Strahlenschutz warnt vor solchen Anwendungen: Eine erhöhte Radonbelastung steigert das Lungenkrebsrisiko deutlich.
Es gibt auch ökologische Bedenken. Niedrigere Dosen von Schadstoffen oder Radioaktivität auch für die Umwelt als sicher oder sogar vorteilhaft anzusehen, wie es der Toxikologe Calabrese ebenfalls vorschlägt, könnte schädliche Auswirkungen auf Ökosysteme und unsere Gesundheit gleichermaßen haben, besonders wenn man langfristige und kumulative Effekte einrechnet.
Weitere Forschung ist daher essenziell, um die Möglichkeiten und Risiken von Hormesis überblicken zu können. Bis dahin ist es wahrscheinlich meistens sinnvoller, die Belastung durch Giftstoffe oder Strahlung zu vermeiden.