Auge in Auge 30 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda: Opfer und Täter versuchen Versöhnung

  • von Dick Wittenberg
Vedaste Macumu, 70 (l.) und Ildephonoe Mugwaneza, 50, wollen den brennenden Hass gemeinsam besiegen
Vedaste Macumu, 70 (l.) und Ildephonoe Mugwaneza, 50, wollen den brennenden Hass gemeinsam besiegen
© Jan Banning
Lässt sich das Unverzeihliche verzeihen? In Ruanda sind vor drei Jahrzehnten unaussprechliche Gräueltaten geschehen. Jetzt wagen Opfer und Täter erste Schritte aufeinander zu

Im April 1994 versinkt Ruanda in Gewalt: Angehörige der Hutu-Mehrheit ermorden mehr als 800.000 Menschen, vor allem aus der Volksgruppe der Tutsi. Nach gut drei Monaten Bürgerkrieg bringen Tutsi-Rebellenführer Paul Kagame und seine Truppen das Land unter ihre Kontrolle. Das Morden endet, die Regierung initiiert Gerichtsverfahren, Reparationszahlungen, eine Kommission und Dorfprojekte für die Aufarbeitung und Versöhnung.

Auch Nichtregierungsorganisationen engagieren sich. Eine davon ist CBS Rwanda, die in den Gemeinden Menschen für Gruppentherapien ausbildet. In 15 Wochen sollen Opfer und Täter lernen, Erinnerungen zu bewältigen und gegen­seitiges Vertrauen, Mitgefühl und Sicherheit aufzubauen. 

Die folgenden Doppelporträts zeigen Betroffene, die an diesen Therapien teilgenommen haben.

    
Es hat geholfen, dass die Täter die Wahrheit aussprachen. Ich habe erkannt, dass auch sie Menschen sind
Alphonse Kanyemera (links) war an der Ermordung von Liberatha Nyirasangwes Bruder beteiligt
Alphonse Kanyemera (links) war an der Ermordung von Liberatha Nyirasangwes Bruder beteiligt
© Jan Banning

Liberatha Nyirasangwe, 70: "Dieser Völkermord hat mich verrückt gemacht. Ich rannte nackt nach draußen. Ich beschimpfte alle, die mitgemacht hatten. Die Leute kamen, um sich zu entschul­digen. ‚Ich werde dir nie vergeben‘, schrie ich. Ich habe sie verflucht. Der Wahnsinn quälte mich über Jahre. Bis ich an dieser Gruppentherapie teilnehmen konnte. Zu den ersten beiden Sitzungen mussten sie mich allerdings abholen. Beim dritten Mal dann verspürte ich einen Anflug von Freude. Es hat geholfen, dass die Täter die Wahrheit aussprachen. Ich habe erkannt, dass auch sie Menschen sind."

Alphonse Kanyemera, 78: "Ich war an der Ermordung ihres Bruders beteiligt. Ich habe auch einen Priester mit einem Messer getötet. Der Teufel muss in mich gefahren sein. Im Gefängnis wurde ich sehr krank. Ich war überzeugt, sie würden mich töten. Aber sie brachten mich in ein Hospital. Dort traf ich eine Krankenschwester aus meiner Gegend, eine der Überlebenden. Sie sorgte für mich. Jetzt kümmern Liberatha und ich uns umeinander. Wir wohnen auf demselben Hügel. Ich höre, wenn sie mich ruft."

Was ich getan habe, ist unverzeihlich. Und doch hat Rose mir vergeben. Wir unterstützen uns gegenseitig
Ezechiel Niyibizi (links) tötete das Baby von Rose Mukarusagara
Ezechiel Niyibizi (links) tötete das Baby von Rose Mukarusagara
© Jan Banning

Rose Mukarusagara, 60: "Ich war gerade dabei, mein Baby zu stillen, als der Mob auf mich zukam. Jemand erschoss das Baby, ich wurde ins Bein getroffen. Ein anderer wollte mir mit einer Machete den letzten Schlag versetzen. Ich wehrte ihn ab, mit meinem Arm, der dann stark zu bluten begann, auch mein Ohr wurde getroffen. Ich fiel nach vorn auf mein Baby und verlor das Bewusstsein. Die Männer dachten wahrscheinlich, ich sei tot oder würde ohnehin verbluten. Nach dem Ende des Völkermords litt ich ständig unter Kopfschmerzen. Jede Nacht suchten mich wieder diese Bilder heim. Ich war erfüllt von Hass. Erst die Gruppentherapie hat mir geholfen, wieder ein Mensch zu werden. Die Therapie folgte dem Grundsatz ‚Heile du mich, ich heile dich.‘ Und so haben wir es gemacht."

Ezechiel Niyibizi, 46: "Ich war Teil des Mobs. ‚Wenn nicht wir sie töten, werden sie uns töten‘, hatten die Anführer uns eingetrichtert. Nach dem Ende des Völkermords floh ich in den Kongo. Bei meiner Rückkehr erwarteten mich zehn Jahre Gefängnis. Was ich getan habe, ist unverzeihlich. Und doch hat Rose mir vergeben, Roses Sohn bringt meine Tochter zur Schule. Wir unterstützen uns gegenseitig."

Erst nach Jahren wurde mir klar, dass ich Leben zerstört hatte. Ich habe auf Knien um Vergebung gebettelt
Jean Baptiste Sibomana (rechts) zündete mit seinen Brüdern das Haus an, in dem viele Verwandte von Epiphanie Mukamazinpaka starben
Jean Baptiste Sibomana (rechts) zündete mit seinen Brüdern das Haus an, in dem viele Verwandte von Epiphanie Mukamazinpaka starben
© Jan Banning

Epiphanie Mukamazinpaka, 37: "Ich war zu spät dran an diesem Tag. Die meisten aus unserer Familie waren bereits zum Haus meiner Großeltern geflohen. Brüder, Schwestern, Tanten, Onkel, viele mit ihren Kindern. Vom Wald aus sah ich, wie das Haus mit Treibstoff übergossen und in Brand gesteckt wurde. Ich hörte sie drinnen schreien. Dieser Mann hat es getan, zusammen mit seinen Brüdern. Außer einem. Und dieser eine Bruder und seine Mutter haben mich gerettet. Sie führten mich von Versteck zu Versteck, unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Jahrelang hatte ich Angst, mich unter ­Menschen zu bewegen. Aber die Gruppentherapie hat mich gelehrt, mich von der Vergangenheit nicht lähmen zu lassen. Auch dieser Mann hat gelitten."

Jean Baptiste Sibomana, 49: "Ich verbrachte zwölf Jahre im Gefängnis. Dann noch einmal drei Jahre, weil ich in betrunkenem Zustand mit meiner Teilnahme am Völkermord geprahlt habe. Erst dann wurde mir klar, dass ich Leben zerstört hatte, einschließlich meines eigenen und derjenigen meiner Familie. Ich habe auf den Knien um Vergebung gebettelt."

Marc Nyandekwe (l.) ermordete während des Völkermords die ältere Schwester von Marianna Nyiranta­gorama (r.). Nach einer Therapie lernte Marianna, ihm zu verzeihen

Völkermord in Ruanda Lässt sich das Unverzeihliche verzeihen?

Angehörige der Hutu-Mehrheit ermordeten im ruandischen Bürgerkrieg vor 30 Jahren mehr als 800 000 Menschen, vor allem aus der Volksgruppe der Tutsi. Tutsi-Rebellenführer Paul Kagame ist seit dem Jahr 2000 Präsident Ruandas und strebt mit aller Macht Versöhnung an. Über die Vorgeschichte und die gesellschaftlichen Folgen des Genozids sprach GEO mit Dr. Julia Viebach
Dieser Mann hat meine Schwester ermordet. Dank der Therapie konnte ich ihm verzeihen
Marc Nyandekwe (links) tötete die ältere Schwester von Marianna Nyiranta­gorama
Marc Nyandekwe (links) tötete die ältere Schwester von Marianna Nyiranta­gorama
© Jan Banning

Marianna Nyiranta­gorama, 58: "Ich bin die Einzige aus unserer Familie, die den Völkermord überlebt hat. Meine Mutter, zwei Brüder und vier Schwestern liegen in einem Massengrab. Ich war immer eine der wenigen Überlebenden unter all den Toten. In der Kirche, wo der größte Teil meiner Familie umgebracht wurde. Später auf dem Besesero-Hügel, wo sich die letzten Tutsi bis zum Äußersten gegen eine Übermacht wehrten. Ich lag zwischen ­blutigen Leichen und stellte mich tot. Dieser Mann hier hat meine älteste Schwester ermordet. Dank der Gruppentherapie konnte ich ihm verzeihen. Ich habe seine Reue anerkannt."

Marc Nyandekwe, 60: "Ich war sechs Jahre und neun Monate inhaftiert. Nach meiner Entlassung habe ich mich nicht getraut, Marianna zu begegnen. Zuerst habe ich mich in meinem Haus verkrochen. Später ging ich fort, um anderswo zu arbeiten. Hin und wieder kehrte ich zurück zu meiner Familie. Marianna sagte meiner Frau, dass ich nicht mehr zu fliehen brauche. Ich hatte Angst, dass es eine Falle sei. Aber sie hat uns Geld geliehen. Sie half mir, Arbeit zu finden. Die Frau, deren Schwester ich getötet habe, hat mich am Leben erhalten."

Wir sind jetzt wie Brüder zueinander. Es fühlt sich wie eine unerhörte Gnade an
Celestin Musengimana (links) erstach den Bruder von Clever Kadurira an einer Straßensperre
Celestin Musengimana (links) erstach den Bruder von Clever Kadurira an einer Straßensperre
© Jan Banning

Clever Kadurira, 68, (r.), in seinem Hinterhof, neben dem Grabstein seines älteren Bruders: "Von 1993 bis 2000 war ich Soldat in der Befreiungsarmee des jetzigen Präsidenten Paul Kagame, die im Juli 1994 dem Völkermord ein Ende setzte. Ich habe den Weiler, aus dem ich kam, gemieden. Es war der Ort, an dem meine Frau und meine drei Kinder ermordet worden sind, außerdem meine Eltern, vier Brüder, meine Schwester. Ich bin erst 2019 zurückgekehrt in dieses Geisterdorf. Dieser Mann war schon einmal auf mich zugegangen. Er hat immer wieder betont, wie sehr er die Untaten bereut."

Celestin Musengimana, 74: "Nicht einmal zehn Meter von meinem Haus entfernt haben mein Kumpel und ich seinen älteren Bruder an einer Straßensperre erstochen. Ich war 21 Jahre lang im Gefängnis. Ich habe bereits dort ein schriftliches Geständnis abgelegt, später noch einmal vor dem Dorfgericht. Es hat meine Strafe nicht verkürzt, aber mein Gewissen beruhigt. Ich kann immer noch nicht fassen, dass ich getötet habe. Wir sind jetzt wie Brüder zueinander. Auch das kann ich nicht recht verstehen, es fühlt sich wie eine unerhörte Gnade an."

Ich überlebte, aber ich fühlte mich tot. Wir haben beide gelitten. Jetzt stützen wir uns gegenseitig
Der Vater von Solange Uwamahirwe (hinten) tötete die Eltern von Elie Zmanizaboyo
Der Vater von Solange Uwamahirwe (hinten) tötete die Eltern von Elie Zmanizaboyo
© Jan Banning

Solange Uwamahirwe, 23: "Ich war sieben Jahre alt, da eröffnete mein Vater mir, dass auch er ein Mörder sei. ‚Ich habe Nachbarn getötet‘, das sagte er im Gefängnis, wo ich ihn mit meiner Mutter besuchte. Danach habe ich mich nicht mehr in die Nähe anderer Dorfbewohner getraut. Vielleicht hatte mein Vater ihre Verwandten umgebracht? Ich war überzeugt, dass ich kein Recht hatte, zu existieren."

Elie Zmanizaboyo, 40: "Ich musste mit ansehen, wie meine Eltern ermordet wurden. Mein Vater mit einer Machete. Und meine Mutter mit einem Morgenstern, einer dieser Kampf­keulen mit ­scharfen Spitzen. Ich konnte mich im Gebüsch verkriechen. Menschen mit einem guten Herzen haben mich versteckt, bis der Völkermord ein Ende hatte. Ich überlebte, aber ich fühlte mich tot. In der Gruppentherapie hörte ich die Geschichte von der Tochter jenes Mannes, der meine Eltern umgebracht hatte. Über ihr Aufwachsen ohne Vater. Mit einer Mutter, die sich nicht um ihre Kinder kümmern konnte. Sie hatte immer Angst, schämte sich. Wir haben beide gelitten. Jetzt stützen wir uns gegenseitig."

Dass mich jetzt der Mann willkommen heißt, dem ich Leid zugefügt habe, gibt mir Hoffnung
Ildephonoe Mugwaneza (rechts) plünderte und zerstörte das Haus von Vedaste Macumu
Ildephonoe Mugwaneza (rechts) plünderte und zerstörte das Haus von Vedaste Macumu
© Jan Banning

Vedaste Macumu, 70 (links): "Ich habe im Januar 1995 erneut geheiratet, weil ich einen Ausweg aus der Einsamkeit suchte. Sie war 17. Sie hatte ihre gesamte Familie verloren. Ich war 41. Meine Frau, mein Sohn, meine fünf Töchter: alle tot. Wir haben dann sieben Kinder bekommen. ‚Warum haben andere Kinder Großväter, Großmütter, Onkel und Tanten, Cousins? Und warum nicht ich?‘, fragte mein Ältester mich einmal. Dieser Mann hier neben mir und andere haben damals unser Haus geplündert und zerstört. Er hat mir erklärt, wie sehr er es bereut. Das fühlte sich gut an. Es vertreibt die brennende Wut, die mich über Jahre gequält hat."

Ildephonoe Mugwaneza, 50: "Ich saß in sieben Gefängnissen ein, von 1996 bis 2020. Das erste bot Platz für 3000 Menschen, wir waren 12 000, mussten dicht aneinander­gedrängt schlafen. Anfangs wurden wir täglich geschlagen. Ich dachte: Ich komme hier nie lebend raus. Meine Frau hat wieder geheiratet. Meine Familie hat mich vergessen. Die Tatsache, dass mich jetzt der Mann willkommen heißt, dem ich Leid zugefügt habe, gibt mir Hoffnung."

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