Unter den zahllosen Mythen, die sich um das Himalaya-Gebirge ranken, ist dieser wohl einer der merkwürdigsten: ein winziger See im indischen Teil des Gebirgsmassivs, auf über 5000 Metern Höhe gelegen, elf Monate im Jahr unter Eis und Schnee verborgen – und gesäumt von menschlichen Knochen.
Rund um den nur 40 Meter breiten Roopkund Lake, im Volksmund auch Skeleton Lake genannt, liegen Schätzungen von Experten zufolge die Überreste von 600 bis 800 Personen. Über die Umstände ihres Todes war bislang nichts bekannt.
Einer lokalen Überlieferung zufolge soll es sich um Pilger gehandelt haben, die sich auf dem Weg zum Schrein der Berggöttin Nanda Devi gemacht hatten. Weil sich König und Königin mitsamt ihrem Gefolge aber ungebührlich aufgeführt hätten, so die Folklore, habe die Göttin sie vernichtet. Anderen, eher weltlichen Erklärungsversuchen zufolge könnte es sich auch um die Überreste einer Armee oder Händler gehandelt haben, die hier in ein tödliches Unwetter gerieten. Oder um die Opfer einer Epidemie.
Nicht eine – sondern mehrere Katastrophen
Eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern, darunter auch Forscher des Jenaer Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte, wollte das Rätsel nun mit modernsten archäologischen Verfahren lüften. Und fand Erstaunliches: Einer Genom-Analyse zufolge stammen von den 38 männlichen und weiblichen Skeletten, die die Forscher untersuchten, eines aus dem südöstlichen Asien und 14 aus dem östlichen Mittelmeerraum. Eine Radiokarbon-Datierung ergab zudem, dass die Menschen nicht zur gleichen Zeit starben. Die Individuen indischer Abstammung starben – wenn auch nicht alle gleichzeitig – rund um das Jahr 800. Alle anderen Menschen dürften um das Jahr 1800 den Tod gefunden haben.
Damit ist das Rätsel um die Toten vom Roopkund-See allerdings nicht gelöst – sondern erscheint sogar noch mysteriöser. Einen Erklärungsversuch wagen die Forscher dennoch: Der See liegt zwar an keiner der üblichen Handelsrouten – doch führt noch heute ein Pilgerweg in seine Nähe. Alle zwölf Jahre machen sich Pilger auf den Weg zum Heiligtum, versammeln und feiern entlang der Route. Dieses Ritual ist zwar erst seit dem späten 19. Jahrhundert überliefert, doch Inschriften in nahe gelegenen Tempelbauten aus dem 8. bis 10. Jahrhundert deuten auf einen früheren Ursprung hin.
Wer waren die Menschen aus der Mittelmeerregion?
Zumindest die Gruppe der südasiatischen Männer und Frauen, so vermuten die Forscher, könnten also als Pilger von einem Unwetter überrascht worden sein. Sei es, dass sie sich hier zum Feiern versammelt hatten, sei es, dass sie am See Zuflucht gesucht hatten und dort erfroren.
Komplett rätselhaft bleibt allerdings das Geschick der Männer und Frauen aus dem östlichen Mittelmeerraum. Zwar mutet eine Pilgerreise wegen der großen räumlichen Distanz und der religiösen Unterschiede unwahrscheinlich an. Doch die Erstautorin der Studie, Éadaoin Harney von der Harvard University in Cambridge, USA, vermutet, „dass der Roopkund-See nicht nur von lokalem Interesse war, sondern dass Menschen aus der ganzen Welt hierher kamen“. Die Forscher hoffen nun, Hinweise in Archiven und Aufzeichnungen zu finden. Denn das Verschwinden einer großen Gruppe fremdländischer Menschen wird kaum unregistriert geblieben sein.
An eine gründliche Untersuchung des Tatorts mit modernen Methoden hat sich erstaunlicherweise bislang niemand gewagt. Denn eine Rekonstruktion der Umstände erschien wenig erfolgversprechend: Am See kommt es oft zu Gerölllawinen, die die Knochen umlagern oder verschütten. Zudem haben Pilger und Wanderer hier immer wieder Knochen bewegt – oder sogar mitgenommen.