Plötzlich ist alles weg. Der Pazifik – weg. Die Stadt, ebenso. Sogar die Straße, auf der der Bus jetzt für peruanische Verhältnisse ungewöhnlich langsam weiterzuckelt – verschluckt vom grauen Nichts. Ja, davon hatte man zuvor gelesen. Vom berühmten Nebel Limas. Einem Frühlings-Phänomen in Perus Hauptstadt, wenn der kühle Pazifik und die warme Küstenluft sich zu einer unglaublichen Suppe vereinen. Eine stille Naturgewalt, die sich plötzlich aus dem Meer zu erheben scheint und alles einhüllt. „Garua!“, ruft der Busfahrer. Er scheint erregt, weil er doch tatsächlich die Scheibenwischer einschalten darf. Die quietschen jetzt altersschwach über die Frontscheibe. "Garua", das soll wohl Regen heißen. Denn tatsächlich nieselt es draußen. In einer Stadt, in der es niemals regnet. Alle Fahrgäste drücken sich aufgeregt die Nasen platt an den bis eben staubigen Scheiben, an denen jetzt der Regen seltsame Muster von nassen Staubschlieren hinterlässt. "Garua", bezeichnet aber eigentlich den Nebel, der oft über und in Lima hängt. Für Regen haben sie in Lima kein besseres Wort. Die Stadt sei wie der Bauch eines Esels, sagt man, fahl und struppig. 200 Meter hoch auf einem Kliff an der pazifischen Küste gelegen, mitten in einer 2000 Kilometer langen Wüste. Die typisch lateinamerikanische Mischung aus Moloch und Moderne.
In Peru wächst und gedeiht das pralle Leben
Dass man wegen ein paar Regentropfen in Lima so aus dem Häuschen gerät, ist schon bemerkenswert. Denn eigentlich ist man jedes Klima gewöhnt – zumindest landesweit betrachtet. Der Begriff Klimawandel trägt hier eine ganz eigene Bedeutung. Mehr als 80 der rund 100 weltweit vorkommenden Mikroklimata sind zwischen Pazifikküste, Andenhochland und Amazonasgebiet zu finden. Dreiviertel der weltweit vorkommenden Lebensräume von Flora und Fauna existieren in Peru. Dank seiner Lage knapp unterhalb des Äquators und seiner geografischen Vielfalt ist eine Reise durch Peru immer auch eine Reise durch die Welt im Kleinen: Es geht durch die Wüste, durch die milden aber extrem trockenen Küstenregionen, ins kalte, karge Hochgebirge und in den tiefsten Dschungel. Deshalb wächst und gedeiht hier auch das pralle Leben, Peru gilt als eines der Länder mit der größten biologischen Buntheit weltweit: über 3000 Kartoffelsorten, tausende Varianten von Mais, unzählige exotische Früchte und Gemüse, rund 2000 Fisch- und Schalentierarten im Humboldtstrom vor der Küste, Krebse und Riesenfische im Amazonas.
Erst Wollmütze, dann T-Shirt
In ein, zwei Tagen kann man vom 5000 Meter hohen, eiskalten Andenpass in das schwül-heiße Amazonasbecken reisen. Das ist selbst für peruanische Busfahrer eine nicht nur geografische Herausforderung sein. Das öffentliche Nah- und Fernverkehrssystem besteht in Peru im Wesentlichen aus altersschwachen, bunt bemalten und völlig überladenen Fahrzeugen, die aber jeden Pass hochschnaufen und durch eigentlich unpassierbare Dschungel-Furten pflügen. Doch wer eben noch auf 5000 Metern Höhe nach Luft japste und sich die Wollmütze tief über die Ohren zog, darf kurz darauf schon im feucht-warme Klima des Regenwaldes ein T-Shirt nach dem nächsten durchschwitzen. Um ein bisschen Orientierung in das Ganze zu bringen, hat man daher jeder Klimazone einen passenden Namen verliehen: Tierra caliente zum Beispiel nennt sich das "heiße Land" des tropischen Regenwaldes mit Durchschnittstemperaturen um die 25 Grad, dank der hohen Luftfeuchtigkeit gefühlt aber 40 Grad. Tierra fria hingegen beschreibt das "kalte Land", in dem spärliche Wälder auf rund 2000 Meter Höhe wachsen. Hier leben, abgesehen von der Küstengroßstadt Lima, bei Temperaturen zwischen 12 und 18 Grad die meisten Menschen in Peru, bauen Gemüse an und Coca-Pflanzen, aus denen wahlweise Illegales oder aber wohlschmeckender Tee gewonnen wird. Tierra nevada schließlich, das "Schneeland", erstreckt sich jenseits der Höhe von 5000 Metern.
Bei Regen fühlt sich Lima an wie eine normale Großstadt
Am unwirtlichsten aber ist es, abgesehen natürlich vom "Schneeland" hoch in den Anden, direkt am Meer. Das ist ungewöhnlich für ein Land, dessen Fläche immerhin zu gut zehn Prozent aus einer 2000 Kilometer langen Küstenregion besteht. Die Durchschnittstemperatur beträgt auch angenehme 18 Grad – doch es ist trocken wie in der Wüste. Und natürlich finden sich hier auch Wüstengebiete, in denen das ganze Jahr über immer wieder Sandstürme wüten und einfach nichts wachsen will. Nur ganz selten, wenn sich "Garua" über dem Pazifik bildet und für wenige Minuten ein feiner Regen fällt, fühlt sich auch das Leben in der Küstenmetropole Lima an wie in einer ganz normalen Großstadt. Hat sich "Garua" aber wieder verflüchtigt und sind die altersschwachen Scheibenwischer verstummt, gleißt die Sonne wieder milchig am Himmel und weht der Staub durch die Straßen. Da mag man kaum glauben, dass nur wenige hundert Kilometer entfernt das wilde, grüne, saftige Leben tobt am Amazonas.