Am Abend, wenn die Händler ihre Ware, Plastikschuhe, Tontöpfe und Glasarmreifen, vom Bürgersteig auflesen, verwandelt sich die Chitpur Road im Norden Kalkuttas in einen Schlafsaal. Rikschafahrer strecken sich am Boden aus, mit einer Hand an den Speichen, damit ihr Gefährt nicht gestohlen wird. Jungen mit nacktem Oberkörper schmiegen sich auf Pappkartons zusammen. Eine Mutter spannt zwischen zwei Pfeilern ein Moskitonetz für ihr Baby auf. Und über den Menschen, die in der stickig-nassen Luft bei über 40 Grad Celsius Hitze den Schlaf suchen, erheben sich: Säulen mit korinthischen Kapitellen, geschwungene Lilienfriese, Stucklöwen mit vorgestreckter Vorderpfote, Venusstatuen und die Zinnen schottischer Ritterburgen.
Es ist ein einzigartiges architektonisches Erbe, das da im letzten Abendlicht aufleuchtet: Es sind die Stadtpaläste der Babus, jener Kaufleute, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts durch den Handel mit der British East India Company zu fabelhaftem Reichtum gekommen waren. Sie ließen Schlösser errichten, deren Fassaden den klassizistischen Bauten der Kolonialherren nachempfunden waren. Kalkutta wurde zur "Second City of the Empire", zur zweitprächtigsten Metropole nach London.
Im Inneren aber bewahrten diese Häuser eine indische Seele. In den Salons wurde bald nicht nur über Schiffsladungen und Kricket gesprochen, sondern auch über politische Reformen, revolutionäre Literatur – und die Unabhängigkeit von England. Nirgendwo sind sich das alte Indien und das junge Empire näher gekommen als entlang der Chitpur Road. An dieser Schnittstelle zweier Zivilisationen stehen die Wiegen des modernen Indiens, 200, 300 Häuser sind es vielleicht noch. Und nach jedem Monsun sind es ein paar Häuser weniger.