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Wir liegen lachend im rosshaardicken Gras, wenige Schritte vom Abgrund entfernt. Knapp 100 Meter unter uns lässt der Ärmelkanal die Kieselsteine an die Kalkklippen klickern. Cyriaque hat den Kopf voll verrückter Zitate, eins davon stammt von Guy de Maupassant.
»Eine bewunderungswürdige Straße zwischen Himmel und Meer, eine Wiesenstraße verläuft über dieser großen Mauer, am Rand der Erde, über dem Ozean«, rezitiert mein Wanderabschnittsgefährte den an der Alabasterküste aufgewachsenen Romancier.
Wandern entlang der Alabasterküste

Cyriaque ist nicht nur Naturführer, sondern zugleich Mitarbeiter der Küstenschutzbehörde und Bürgermeister eines Dorfs am Kap d’Antifer. So einer kennt sich mit allem aus, was an der 140 Kilometer langen Küste zwischen Le Havre im Westen und Le Tréport im Osten von Bedeutung ist. Wandern über den Klippen oder am Strand etwa geht nicht überall. Wo die Klippen zu brüchig sind oder regelmäßig Tonnen von Kreidefels herunterdonnern, kann es lebensgefährlich sein. Gut, dass ich mit Cyriaque unterwegs bin. Unsere Wanderung führt über eine schwindelerregende Treppe hinunter an den Strand.
Vor uns breitet sich die Strandsichel von Étretat aus. Im berühmtesten Ort der Côte d’Albâtre brummt’s. Belle-Époque-Villen machen sich mit Türmchen und Erkern wichtig. Zu Uferbars umfunktionierte Fischerboote thronen auf dem Kai. In den Gassen tummeln sich die Tagesausflügler. Von der Falaise d’Aval, der Klippenkante am Westende des Strands, ist der Blick auf die Aiguillet, eine einsam aus dem Wasser aufragende Felsnadel, und die wuchtige Manneporte, ein Felstor weiter westlich, schlicht umwerfend.
Étretat als Inspiration für Künstler
Étretats großes Klippenkino fasziniert seit Generationen Künstler. Maupassant sah in der Falaise d’Aval einen Elefanten, der den Rüssel ins Wasser steckt. Regisseur Stéphane Brizé verfilmte hier jüngst dessen Roman »Ein Leben«. Monet stellte die Staffelei auf. Operettenfürst Jacques Offenbach ließ sich vom Meeresrauschen inspirieren. Und Wim Wenders nutzte die bleichen Klippen von Varengeville-sur-Mer als Kulisse für das Entführungsdrama »Grenzenlos«.
Die Gärten in Varengeville-sur-Mer

Kein Weg führt in Varengeville-sur-Mer über die Klippen, und vorm Spaziergang am Strand warnen Schilder – immer wieder stürzen Kreideblöcke herunter. Dafür laden drei außergewöhnliche Gärten zum Flanieren ein. Le Vasterival ist das Lebenswerk der rumänisch-moldawischen Prinzessin Greta Sturdza. Die 2009 hochbetagt verstorbene Gartenautodidaktin hat in einem Tal mehr als 10.000 seltene Baum- und Pflanzenarten angepflanzt.
Very british wirkt Le Bois des Moutiers. Sir Edwin Landseer Lutyens, der später gemeinsam mit einem Kollegen Neu-Delhi entwerfen sollte, baute 1898 das Landhaus im Arts-&-Crafts-Stil um. Bei den Gärten arbeitete Lutyens mit Gertrude Jekyll zusammen, die durch die Gestaltung der südwestenglischen Hestercombe Gardens berühmt wurde. Lasst Hortensien sprechen! 1200 Sorten aus Japan, China, Amerika blühen im Sommer in der Collection Shamrock – Weltrekord!
Per Boot auf Entdeckungstour ab Fécamp
Der drahtige, kleine Mann am Steuerrad nennt sich Asterix und sieht mit Schnauzbart auch so aus. Seinen Nachnamen konnte mir nicht einmal das Office de Tourisme in Fécamp nennen, über das ich den Törn mit »Tante Fine« gebucht habe. Das Langustenfischerboot, Baujahr 1960, gehört einem Verein, der noch ein zweites historisches Segelschiff in Tausenden von Arbeitsstunden restauriert hat. Im Hafen tuckern wir am im Dezember 2017 eröffneten Museum Les Pêcheries vorbei. Der Bau war ursprünglich eine Fischfabrik.
Jetzt wird hier anhand von Hafenmodellen, Booten, Netzen, Räucheröfen die Geschichte der kühnen Fischer von Fécamp gezeigt, die sich bis Island wagten. Das in München und Paris ansässige Architekturbüro »Die Werft« hat ein gläsernes Ufo aufs Museumsdach gesetzt, durch dessen Rundumverglasung man Stadt, Hafen, Klippen überblickt. Ein neues Wahrzeichen für Fécamp und ein Landmark für die Alabasterküste. Mit munteren vier Knoten pflügt sich »Tante Fine« durchs atlantikblaue Wasser. Landeinwärts gleißen die weißen Klippen in der Sonne, zum offenen Meer scheint die Freiheit einfach grenzenlos.
Dorfschönheiten: Veules-les-Roses und Yport
Die schönste an der Alabasterküste heißt Veules-les-Roses, wird vom kleinsten Fluss Frankreichs, der 1149 Meter kurzen Veules, durchflossen und zählt dank Fachwerkkaten, Belle-Époque-Villen und Rosengärten zum handverlesenen Zirkel der »schönsten Dörfer Frankreichs«. Dicht drauf folgen das frühere Fischerdorf Yport, wo die bunten Boote direkt auf den Kieselstrand gezogen werden, und der verschwiegene Villenweiler Vaucottes: Hier dürfen nur Anlieger mit dem Auto hineinfahren.
Der schönste Zugang bleibt ohnehin der über den Küstenwanderweg Étretat-Yport. Dann Les Petites Dalles: Im winzigen Seebad stieg 1875 Kaiserin Sisi beim Sommerurlaub ins Wasser. Allen vier gemein ist die Lage in einer für die Alabasterküste typischen Valleuse, einem sich zum Meer öffnenden, wie mit dem großen Käsemesser aus den Kreideklippen geschnittenen Tal.
Die Hafenstadt Fécamp
Die Uferpromenade von Fécamp ist der ideale Platz für den Sundowner, und danach ins La Suite! Nicolas Cadinot serviert fangfrischen Fisch auf der Terrasse und im Saal. L’Ô 2 mer, das coolste Restaurant an der Côte d’Albâtre, punktet mit zweifacher Wasserfront, einmal zum Strand, einmal zum Schwimmbecken der Bains de Dieppe, des Bäder- und Spa-Komplexes der Hafenstadt. »Unser Fisch ist frisch!«, lautet die Devise im LA Calypso. Beim Blick vom schicken Neobistro auf die altmodische Fischhalle von Le Tréport wird daraus ein Versprechen (47 Quai Francois 1er, Tel. 0033-02-35863131).

Hotels an der Côte d’Albâtre
In der Wiese lümmeln sich Esel, dahinter leuchtet das Meer blau, und die Atmosphäre des Hotels la Terrasse ist herzerfrischend unaufgeregt (DZ ab 75 €). Meeresblick gibt es im charmanten Douce France nicht. Doch der Ozean ist nur ein paar Schritte entfernt, und hinter der ehemaligen Poststation plätschert das Flüsschen Veules (DZ ab 102 €). Im Le Grand Pavois gibt das Design legendärer Transatlantikdampfer den Ton an. Vom Balkon der geräumigen Zimmer schweift der Blick über den Hafen von Fécamp (DZ ab 80 €).