GEO.de: Herr Fitzek würden Sie für uns folgenden Satz vervollständigen? "Eine Alm ist ..."
Uwe Fitzek: ... für mich eine Quelle, auf der man sich wieder auf das Wichtigste und Wesentlichste konzentriert. Es ist Entschleunigung. Eine Alm ist etwas, was einen erfüllt, zufrieden und glücklich macht.
GEO.de: Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, auf einer Alm anzuheuern?
Uwe Fitzek: Es war schon immer so ein Lebenstraum von mir, einmal so eine Hütte in den Bergen zu übernehmen. Mein Plan war es, mit Eintritt in meinen Ruhestand diesen Traum umzusetzen. Doch das Problem ist, die kleinen, privaten Hütten sind eine Rarität. Sie sind innerhalb der Familie meist schon (seit) über zwei Generationen versprochen. Als aber mein Arbeitgeber mir im Rahmen einer Fusion eine Altersteilzeit mit 55 Jahren "fast aufgezwungen" hat, sah ich meine Chance gekommen - und verwirklichte meinen Traum.
GEO.de: Warum sollte es gerade die Schweiz sein?
Uwe Fitzek: Ich wollte die Schweiz genauer kennenlernen, weil mich dieses saubere Muster-Ländle mit seinem hohen Anteil an Viertausendern reizt. Ich bin begeisterter Wanderer und die Schweiz mit ihrem Hochgebirge und vielen Hoch-Alp-Gebieten, das wollte ich als Almhirte auch einmal erleben.
GEO.de: Welche Voraussetzungen muss man überhaupt für solch einen Alm-Aufenthalt mitbringen?
Uwe Fitzek: Verantwortungsbewusstsein ist gefragt und die Bereitschaft sich voll einzubringen. Ich hatte keine Freizeit, sondern wenn ich mal ein paar Stunden frei hatte, war ich woanders mit eingespannt, wie etwa zum Heu machen. Es ist keine Idylle und es ist harte Arbeit. Eine gewisse Grundkondition sollte man auch haben, man sollte schwindelfrei sein und vor allem offen. Man darf natürlich auch keine Angst vor den Tieren haben.
Wenn sie zum Beispiel so eine 600-Kilo-Kuh haben, die keinen Bock hat, von Ihnen gemolken zu werden, müssen Sie sich durchsetzen, auch wenn sie wild tritt. Große Hilfsbereitschaft ist ebenfalls wichtig. Wenn der Bauer in der Nachbarschaft erkrankt, springen auch alle anderen im Dorf mit ein. Einen Lehrgang oder einen Kurs zur Viehhaltung sollte man meiner Meinung auch noch unbedingt vorher machen.
Ich habe zudem die Lehr-, Versuchs- und Fachzentrum für Milchvieh- und Rinderhaltung Achselschwang der Bayrischen Landesanstalt für Landwirtschaft am Ammersee in Bayern besucht. Menschen, die noch nie etwas mit Rindern zu tun hatten, lernen hier den Umgang mit dem Vieh in Theorie und Praxis-Stunden. Dazu habe ich nebenbei noch Käse- und Butterkurse in Österreich und der Schweiz besucht. Jede Alp ist anders und hat andere Aufgaben und Herausforderungen, aber für mich war dieser Kurs am Ammersee eine sehr gute Grundlage.
Mein Sommer in der Schweiz
GEO.de: Wie haben Sie Ihre Alm gefunden?
Uwe Fitzek: Auf dem Internetforum ZALP. Dort habe ich nicht nur eine gute Einführung in das Thema Almaufenthalt in der Schweiz, sondern auch alle Fragen beantwortet bekommen. Man kann dort auch Annoncen schalten. Ich habe einfach ein Inserat aufgegeben und bekam so schnell Kontakt zu einem Bauern. Mein Bauer war Herr Menn aus Juf im Avers Tal im Kanton Graubünden. Der Ort ist eine Ansiedlung mit knapp 25 Leuten und mit 2126 Metern über dem Meeresspiegel eine der höchstgelegenen, ganzjährig bewohnten Siedlungen der Schweiz.
Nach einem ersten Kontakt habe ich mich im Januar 2013 beim Bauern vorgestellt und am 3. Juni 2013 war mein erster Arbeitstag.
GEO.de: Und wie war dieser erste Tag?
Uwe Fitzek: Die Auffahrt in einen der höchstgelegenen Orte Europas war allein schon besonders. Mein erstes Quartier war zunächst eine kleine Hütte am Dorfrand von Juf.
Das Vieh war schliesslich noch unter in der Senke zum Grasen. Nach meiner Einweisung, wie das Gelände zu beweiden geplant war, hieß es erst einmal: Material auf den Berg bringen und Zäune setzen.
Zudem habe ich mich bei allen Leuten im Dorf und auf den anderen Hütten persönlich vorgestellt. Nach drei Wochen ging ich alleine auf die Piot-Hütte. Diese einfache Hütte liegt eine gute Stunde Fußweg vom Dorf entfernt und der letzte Anstieg ist extrem steil – und man kann oft nur mit einer Hand am Berg gehen. In der kleinen Piot-Hütte wohnte ich dann für drei Monate ohne Strom, ohne fließendes Wasser und ohne Fernsehen und Telefon, aber dafür auf 2700 Metern überm Meeresspiegel.
GEO.de: Und wie viele Tiere haben sie gehütet?
Uwe Fitzek: Ich war für 116 Tiere von elf Bauern verantwortlich. Es waren verschiedene Rassen, wie das Braunvieh, Fleckvieh, Appenzeller, Schwarzbunte und "Gurte". Eine spezielle Schweizer Rasse, die einen breiten, weissen Ring um den Bauch hat. Auch Mutterkühe und Jungtiere, die zwischen einem halben Jahr und anderthalb Jahre alt waren sowie Kühe, die trächtig waren. Das Weidegebiet meiner Kühe reichte vom Ort Juf bis in den Bereich der 3000er-Grenze hinauf.
GEO.de: Und wie funktioniert das mit den Tieren genau?
Uwe Fitzek: Alles darf man haben - nur keine Angst! Vor allem darf man diese den Tieren auch nicht zeigen. Sie sind verdammt clever und merken das sofort. Sie wissen auch, welche Schwächen man hat und nutzen sie gleich aus. Der Begriff der "Dummen Kuh" ist völlig fehl am Platz! Aber das merkt man eben erst, wenn man tagtäglich mit ihnen zu tun hat. Mensch und Tier gewöhnen sich aneinander und bilden während der Alpzeit meist eine gut funktionierende Gemeinschaft.
GEO.de: Wie sieht so ein typischer Arbeitsalltag auf der Alm aus?
Uwe Fitzek: Um 5.30 Uhr hieß es aufstehen, zusammen mit meinen Kühen. Das ist ihre Zeit, in der sie nach dem Ruhen und Wiederkäuen, wieder in Bewegung setzen. Ich ging raus aus der Hütte, um sie von verschiedenen Aussichtspunkten zu sichten. Das Gelände ist sehr weitläufig und mit dem Fernglas schaute ich, ob alle Kühe auch nach der Nacht noch beieinander waren. Wenn ja, habe ich mir erst Mal einen Kaffee gekocht und ein Brot geschmiert. Danach bin ich losgezogen, um zu sehen, ob auch wirklich alle Tiere wohlauf sind. Und weil es keine gerade Fläche ist, sondern es bergauf und bergrunter geht, und es dazu noch zahlreiche Senken gibt, kommen da schon einige Kilometer Fußweg am Tag zusammen. Man muss die gesamte Herde einmal zählen und solange laufen, bis man alle Tiere gezählt und sich jedes Tier von Nahen genau angesehen hat.
GEO.de: Was genau haben Sie sich denn bei den Kühen angesehen?
Uwe Fitzek: Läuft eine Kuh lahm? Oder zeigt sie irgendwelche Auffälligkeiten? Oder hat sie eine Schwellung an den Gelenken? Ganz wichtig ist auch zu prüfen, ob sie vielleicht Verletzungen im Bereich des Euters hat. Oder haben sie falsche Kräuter gefressen? Ist ihnen vielleicht deswegen übel? Ich habe jedes Tier jeden Tag genau angeschaut und Ihnen auch drei Rufe beigebracht. Diese individuellen Rufe sind wichtig, damit es keine Unruhe in der Herde gibt.
GEO.de: Was für Rufe haben Sie Ihren Kühen beigebracht?
Uwe Fitzek: Die Kühe sollen genau wissen - wenn dieser eine Ruf erklingt, heißt das zum Beispiel, unser Hirte kommt. Der zweite Ruf ist, wenn man die Herde treiben will. Dann muss man mit unheimlich viel Ruhe agieren. Der dritte Ruf ist, wenn die Rinder weit weg sind und man sie gar nicht sehen kann. Ich habe bei diesem Ruf immer auch eine Portion Salz dabei und habe sie damit gelockt, das mögen die Kühe besonders gern. Wenn ich diesen Ruf ausgestoßen habe, sind meine Kühe wie wilde Mustangs die steilen Berghänge herunter gelaufen. Ich habe oft gedacht, die können sich gleich alle nur noch überschlagen. Doch irgendwie schaffen die das immer wieder sich in diesem steilen Terrain schnell und sicher zu bewegen.
GEO.de: Wie viel Heidi-Romantik gibt es tatsächlich noch auf einer Alm?
Uwe Fitzek: Noch eine ganze Menge. Gerade, wenn man da allein ist. Die tolle Flora und Fauna sind einzigartig. In Juf und in dem Bergtal Avers wird so viel geboten - wie Bartgeier und Steinadler im Dutzend. Ich habe oft im Berghang gesessen, über und unter mir grasen die Kühe, und plötzlich sieht man so ein Adlerpaar am Himmel kreisen. Dann kommen noch die Steinböcke dazu, die Gämse und auch noch Murmeltiere ohne Ende. Man ist dort Teil des Ganzen – das ist für mich diese Heidi-Romantik, diese Abgeschiedenheit und Ruhe. Mensch und Tier sind gemeinsam in der Natur. Aber es ist keine Idylle, die die Medien und vor allem das Fernsehen gerne vermitteln, wenn sie z.B. über Sennerinnen berichten. Das ist harte und ehrliche Arbeit, die einen richtig erdet und den Almbauern, Sennern und Hirten viel abverlangt.
GEO.de: Mit welchen großen Erwartungen sind Sie auf die Alm gegangen?
Uwe Fitzek: Ich hatte schon so meine Vorstellungen, wie es ist. Mit so einem Leben auf einer Hütte, wo das Bad im Freien liegt und einem der Bergbach als Badewanne dient, das Trinkwasser von draußen geholt werden muss, wo sie jedes Mal einen steilen Aufstieg auf die Alp haben und alles mit eigener Muskelkraft den Hang hochtragen: ihre Vorräte und auch jedes Stück Kaminholz, musste ich mir mit so einer alten Holzkiepe mit Lederriemen auf meinem Rücken schnallen und hochtragen – doch sich mit diesem einfachen Leben zu arrangieren, ist kein Problem. Man wird schnell ganz bescheiden, aber auch zufrieden.
Man fühlt sich erfüllt, und man genießt das, trotz aller Härte. Für mich ist es jetzt schon so, dass ich denke, es wird wieder Zeit, dass ich diesen normalen, hektischen Alltag den Rücken kehre. Ich bin kein Aussteiger, kein Öko oder so ein Verdrehter, aber im Grunde genommen, sind es eigentlich die elementarsten Dinge, die man zum Leben braucht. Und die lernt man auf der Alm nicht nur kennen, sondern auch wieder zu schätzen. Genau wie den Respekt vor der Natur und vor den Tieren.