GEO.de: Sie beschreiben in Ihrem Roman eine der Schattenseiten Vietnams: den illegalen Handel mit Wildtieren. Wie sind Sie darauf gekommen?
Nora Luttmer: In den 90er Jahren war es völlig normal, dass in Hanoi in Restaurants und auf Märkten Wildtiere angeboten wurden. In manchen Bars wurden mannshohe Glasgefäße zur Schau gestellt, mit Kragenbären, eingelegt in Schnaps. Dann verschwanden die Tiere peu à peu aus dem Sichtfeld. Ich dachte, die Artenschützer, die es ja auch im Land gibt, hätten sich durchgesetzt. Und dass nur noch einzelne korrupte Funktionäre sich Bärentatzen servieren ließen. Doch dann habe ich angefangen zu recherchieren - und war schockiert. Weil es eher noch schlimmer geworden ist.
Warum?
Früher wurden in Vietnam viele Wildtiere gejagt und nach China verkauft. Heute werden sie vor allem im Land konsumiert. Denn mit dem neuen Wohlstand ist auch die Nachfrage gestiegen. Es gibt jetzt mehr Leute, die sich Wildfleisch, Tigerknochenpaste oder Bärengalle leisten können. Da sie wissen, dass es illegal ist, und Strafen drohen, wenn man erwischt wird, haben die Beteiligten den Handel lediglich in die Hinterzimmer verlagert.
Welche Rolle spielt die traditionelle Medizin?
In der traditionellen Medizin spielen Substanzen von verschiedensten Wildtieren eine wichtige Rolle. Leberkranke trinken Bärengalle, pulverisierte Stachelschweinstacheln werden auf Brandwunden aufgetragen, Schlangenextrakte sollen Hautkrankheiten und Rückenschmerzen heilen. In Alkohol eingelegt soll das Reptil die Potenz fördern. Die Menschen glauben daran, auch wenn es nicht unbedingt wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweise gibt. Aber diese Medizin hat eine lange Tradition. Und auch in der westlichen Schulmedizin wird beispielsweise die Gallensubstanz Ursodeoxycholsäure, die beim Kragenbären in hoher Konzentration vorkommt, bei Lebererkrankungen eingesetzt. Allerdings wird sie da synthetisch hergestellt. In Vietnam dagegen vertrauen die meisten weiterhin auf die Originalflüssigkeit. Nicht zuletzt, weil sie überzeugt sind, sie habe nicht so viele Nebenwirkungen.
Vietnam ist vor fast 20 Jahren dem Washingtoner Artenschutzübereinkommen beigetreten. Trotzdem wurde vor drei Jahren das letzte Nashorn gewildert. Wie ist so etwas möglich?
Wildhüter werden extrem schlecht bezahlt. Sie verdienen umgerechnet vielleicht 20 oder 30 Dollar im Monat. Davon können sie kaum leben. Wilderer und vor allem die Leute dahinter verdienen dagegen viel Geld. Damit bestechen sie die Wildhüter. Und wenn die sich nicht bezahlen lassen, werden sie unter Druck gesetzt und bedroht. Vom Wildhandel leben in Vietnam viele Leute.
Korruption ist also stärker als internationales Recht?
Die Korruption ist stärker als jegliches Recht in Vietnam. Man kann dort ohne Führerschein Motorrad fahren, man kann über rote Ampeln fahren. Man muss nur das nötige Kleingeld in der Tasche haben, um den Polizisten, der dahinter steht, zu bezahlen.
Welche Rolle spielen Touristen?
Vor allem koreanische Touristen lassen sich zu Bärenfarmen kutschieren. Hier können sie mit ansehen, wie lebenden Kragenbären Gallenflüssigkeit abgezapft wird - eine sehr qualvolle Prozedur. Das ist zwar verboten, aber an diesem Geschäft verdienen so viele Leute, dass es weiterhin stattfindet. Zu einem großen Problem haben sich auch europäische und amerikanische Touristen entwickelt, die in Schlangenrestaurants essen gehen. Das ist zwar nicht in jedem Fall illegal, weil es auch Schlangenarten gibt, die gegessen werden dürfen. Aber die Massen an Schlangen, die dort verarbeitet werden, kann man nicht züchten. Also werden die Tiere in der freien Wildbahn gefangen. So werden die Touristen zu einer Gefahr für den Artenschutz. Das Schlangenessen ist übrigens verbunden mit einer Art Zeremonie: Die Schlange wird aufgeschlitzt, das Herz herausgenommen, und der Ehrengast trinkt das noch pochende Herz in Schnaps. Die Filme davon werden dann von vielen Touristen auf YouTube hochgeladen - unter dem Titel extreme eating in Hanoi.
Der letzte Tiger
Aufbau Verlag 2013
275 Seiten, 9,99 Euro
Die Tiere in Ihrem Roman sind fast in jedem Fall bemitleidenswerte Kreaturen. Ist Tierquälerei in Vietnam eigentlich normal?
Ich denke, sie ist sichtbarer als bei uns. Hier ist ja auch nicht alles gut, wenn Sie nur an die Bedingungen in der industrialisierten Tierproduktion denken. Wir sehen das nicht - und kaufen dann, schön abgepackt, das Fleisch im Supermarkt.
Im Krimi treten auch engagierte Tierschützer auf - fast ausschließlich junge Menschen. Gibt es Anzeichen für einen Bewusstseinswandel?
Zumindest in den Städten, wo junge Leute genug Geld haben, sich auch um andere Dinge als ihren Lebensunterhalt zu kümmern. Mittlerweile engagieren sich viele von ihnen im Tierschutz. Es gibt zum Beispiel auch eine Hotline, die man anrufen kann, wenn man in Restaurants Wildtiere sieht. Deren Betreiber werden zwar kaum jemals bestraft, aber die Tiere werden konfisziert und in Schutzstationen oder, wenn möglich, zurück in den Wald gebracht. Es zeichnet sich also eine Besserung ab. Hoffentlich nicht zu spät, denn die Wälder in Vietnam sind schon relativ leer.
Die Homepage der Autorin: www.noraluttmer.de