Dieses glitzernde, weltfremde Labyrinth haben Experten erst 1986 entdeckt. Doch seither verehren sie es wie einen heiligen Ort: "Lechuguilla" – das wohl spektakulärste Höhlensystem der Erde. Mehr als 190 Kilometer weit verzweigen sich seine Gänge im Kalksediment des "Carlsbad Cavern National Park" im Südwesten der USA. Sie winden sich in Abertausenden von Verästelungen und münden in immer prachtvollere Katakomben, die aussehen, als hätte es in der Tiefe geschneit: Ihre Wände sind über und über mit weißen Kristallen verziert.
Hazel Barton, Mikrobiologin der "Northern Kentucky University", ist mit einem sechsköpfigen Expeditionsteam hinabgestiegen, ins Innere der Erde, das ein Paralleluniversum des Lebens offenbaren soll: Die 37-jährige Professorin hofft in Lechuguilla besonders zahlreiche Repräsentanten jener eigenartigen Lebensform aufzuspüren, die sie so fasziniert: Mikroorganismen, die sich hier in der Tiefe behaupten. Aus ihnen nämlich glaubt die Forscherin, Wunderwaffen gegen die Geißeln der Menschheit gewinnen zu können: Heilmittel gegen Tuberkulose und Cholera etwa, gegen tückische Krankheitserreger wie multiresistente Staphylokokken, Pseudomonas aeruginosa, Enterococcus faecium, Klebsiella pneumoniae.
Wettlauf gegen die Seuchen
Es wäre so dringend nötig. Denn viele der Seuchen, die längst als gezähmt galten, kehren zurück. Rund 80 Jahre nach der Entdeckung des Penizillins haben sich zahlreiche Keime an das Spektrum der gängigen Antibiotika angepasst - und breiten sich nun mit rasanter Geschwindigkeit weltweit aus. Allein in den USA sterben jedes Jahr etwa 90 000 Menschen an bakteriellen Infektionen, fünf Mal so viele wie an Aids oder Leukämie. Vielversprechende Heilmittel dagegen sind rar: Denn immer schneller stumpfen die Waffen, die Mediziner in Hightechlaboren gegen Infektionskrankheiten zu schmieden versuchen, an der Wandelbarkeit der Bakterien ab.
"Wenn wir den Wettlauf gegen die Seuchen gewinnen wollen", meint Barton daher, "müssen wir schleunigst nach anderen Quellen für antibiotische Zellgifte suchen." In den extremen Erdregionen nämlich: in der Tiefsee etwa, an Geothermalquellen - oder in unterirdischen Wüsten wie jener, tief im Südwesten der USA. In Lechuguilla.
Rülpser der Evolution
Denn hier, unter für Menschen unerträglichen Lebensbedingungen, müssten Mikroben besonders gefordert sein, sich mit Chemiewaffen gegen Konkurrenten, Fressfeinde und Parasiten zur Wehr zu setzen. Zudem, so Bartons Theorie, sei in außergewöhnlichen Lebensräumen die Wahrscheinlichkeit größer, dass die hier entwickelten Gifte sich deutlich von bekannten antibiotischen Substanzen unterscheiden - Grundstoffe also für Medikamente bereithalten, auf die sich Krankheitserreger nicht so schnell einrichten könnten.
Einige Wissenschaftler vermuten sogar, dass sich im Inneren des Planeten, an Orten wie Lechuguilla, ein noch größerer biologischer Reichtum verbirgt als an der dünnen, uns besser vertrauten Peripherie. Sowohl in der Artenzahl als auch an Biomasse übersteige das Leben im Untergrund selbst bei vorsichtigen Schätzungen jenes an der Erdoberfläche, so ihre These von nahezu galileischer Dimension. Aus der Perspektive von Höhlenforschern wie Hazel Barton ist "die Vielfalt der höheren Tiere und Pflanzen - all das, was wir gemeinhin als Leben verstehen, uns Menschen eingeschlossen -, nichts weiter als ein Rülpser der Evolution".
Ein Beiwerk jenes mächtigen Reiches von Organismen, das sich im Inneren der Erde versteckt. Es sind kleine Geschöpfe, die diese "tiefe Biosphäre" regieren - Einzeller nur, Bakterien, Archaeen und Pilzarten. Doch sie sind zahlreich: Bis zu zehn Millionen kommen in einem einzigen Gramm Felsmasse unter.
Riesiges, pharmazeutisches Potenzial
Monate nach Expedition in die Tiefe: Im Labor entdeckt Hazel Barton in den Abstrichen und Gesteinsproben aus der Tiefe sonderbare Mikrobenarten - und leitet daraus die These ab, die oberen Katakomben in Lechuguilla würden von Bakterien dominiert und die unteren von Archaeen, zu denen die ursprünglichsten aller Lebewesen gehören.
Ihre Kollegen von "Cubist", einem Pharmaunternehmen, mit dem sie für die Analyse von Antibiotika-trächtigen Keimen zusammenarbeitet, hetzen die Funde im Labor auf Dutzende von gefährlichen Krankheitserregern. Sie sind begeistert, wie viele der Höhlenbewohner sich gegen die tödlichen Keime wehren können. Aus einigen werden sie die Substanzen zu isolieren versuchen, die dafür verantwortlich sind. Und werden so ihre Annahme festigen, dass Mikroben aus Lechuguilla ein riesiges, pharmazeutisches Potenzial bergen - auch wenn bis zur Entwicklung eines marktreifen Medikaments wohl noch Jahre vergehen werden.