Wer im Internet mal eben nach der aktuellen Zeit sucht, findet nicht nur die Atomuhr der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig, sondern auch eine, die genau zwei Minuten vor zwölf zeigt. Und das schon seit Jahren. Es handelt sich um die Doomsday Clock79 (Doomsday = Tag des Jüngsten Gerichts), eine Initiative von Wissenschaftlern, die die Öffentlichkeit für weltweite Gefahren sensibilisieren wollen. Zwei Minuten vor zwölf – das bedeutet nach Ansicht des Gremiums, dem auch 15 Nobelpreisträger angehören: Wir stehen kurz vor einer globalen Katastrophe.
Um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen, bedienen sich die besorgten Forscher einer Metapher, die jeder kennt. Wer klar machen will, dass es angesichts irgendeines Problems jetzt wirklich höchste Zeit sei, aktiv zu werden und gegenzusteuern, der sagt: Es ist fünf vor zwölf! Auch Klimaforscher und Aktivisten behaupten, es sei »fünf vor zwölf«. Und meinen damit: Die Zeit läuft uns davon, wir müssen sofort und entschlossen umsteuern und die Emissionen reduzieren. Andernfalls droht die Apokalypse.
Weltuntergangs-Überdruss
Das ist nun, nach allem, was wir wissen, nicht ganz falsch. Es birgt aber auch ein Problem: Wer jahrzehntelang davon redet, es sei fünf vor zwölf, muss damit rechnen, dass ihm irgendwann keiner mehr zuhört. Denn das Unglück, vor dem mit dieser Metapher gewarnt wird, ist – zumindest in der Wahrnehmung der meisten Menschen in der westlichen Welt – bislang nicht eingetreten.
Stimmt vielleicht mit der Uhr etwas nicht? Und wenn es bislang nicht eingetreten ist, obwohl es seit Jahrzehnten für alles fast schon zu spät sein soll – warum sollte es dann ausgerechnet nächstes Jahr eintreten? Oder in zehn Jahren? Die Doomsday Clock treibt die Metapher sogar noch auf die Spitze: Sie wird laufend vor- und zurückgestellt – je nach Einschätzung der aktuellen Bedrohungslage. Zuletzt, im Januar 2020, wurde sie um 20 Sekunden vorgestellt: auf eine Minute, vierzig Sekunden vor Mitternacht. So spät war es noch nie, seit es die Doomsday Clock gibt. Im Jahr 1947, als die Uhr zum ersten Mal gestellt wurde, war es noch sieben Minuten vor zwölf.

Während der Kollaps des Klimas durch Wetterkapriolen und -katastrophen in unser Bewusstsein dringt, wird die Kluft zwischen Wissen und Handeln immer größer. Doch nicht nur Regierungen und Weltklimakonferenzen versagen dabei, die größte Herausforderung der Gegenwart zu bewältigen. Sondern wir alle. Peter Carstens entlarvt in seinem Buch "Das Klimaparadox" die Ausreden und Rechtfertigungsmuster, mit denen wir uns selbst ausbremsen.
Das neue Unnormal
Wären wir in Bezug auf die "Kurz-vor"-Metapher nicht schon ziemlich abgestumpft, müsste uns die Botschaft der Wissenschaftler zutiefst beunruhigen. Sie warnen nämlich nicht nur davor, dass das Gefahrenpotenzial zugenommen hat, das von der Klimaerwärmung und von Atomwaffen ausgeht, sondern auch davor, dass weltweit die Bedeutung von Wahrheit und wissenschaftlichen Fakten erodiert. Sie nennen den ver-rückten Zustand der Welt »das neue Unnormal«: »Fakten werden ununterscheidbar von Erfindungen, und das schwächt unsere Fähigkeit, Lösungen für die großen Probleme unserer Zeit zu entwickeln und anzuwenden.« Zu dem »neuen Unnormal« gehören nach Ansicht der Forscher immer dreistere Autokraten und eingelullte Bürger rund um den Globus, politische Lähmung ebenso wie die Erosion des sozialen Zusammenhalts.
Seien wir ehrlich: Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern halb zwei. Die Temperatur steigt seit Jahrzehnten, die ersten irreversiblen Schäden sind schon eingetreten. Zu spät, etwas zu unternehmen, ist es allerdings nie. Denn auch 4 oder 5 Grad am Ende des Jahrhunderts machen einen gewaltigen Unterschied.