Es ist Sommer, ein feuchter noch dazu, deswegen hat Heike Reise einen vollen Terminkalender. Ständig führt sie Pressegespräche zum Vernichtungsfeldzug der Spanischen Wegschnecke durch deutsche Gärten. "Die häufigsten Fragen, die mir gestellt werden, sind: Warum gibt es plötzlich so viele? Wie bringt man sie um? Und wie entsorgt man sie?" Heike Reise schmerzt das. Als Kuratorin der Malakologischen Sammlung am Senckenberg Museum für Naturkunde in Görlitz faszinieren sie Weichtiere im Allgemeinen und Nacktschnecken im Besonderen. Der leopardenartig gemusterte Tigerschnegel. Der fein gesprenkelte Große Kielschnegel. Der Ton in Ton gefleckte Bierschnegel. Selbst für die orange oder ziegelrot leuchtenden Wegschnecken kann Heike Reise sich begeistern. "Sie sind beeindruckend erfolgreich. Und wenn sie nicht in Massen auftreten, sondern allein durchs taufeuchte Gras kriechen, sind sie wunderschön."

Die promovierte Biologin forscht seit 36 Jahren in Görlitz. Gut halb so lange teilt sie sich ihre Arbeitsstelle mit ihrem Mann John Hutchinson, einem zurückhaltenden Briten mit ausgeprägtem Sinn für Humor. Hutchinson dissertierte an der University of York zu Gehäuseschnecken, "aber dann habe ich Heike getroffen”. Er lief zum Team Nacktschnecken über. Die Faszination für die Vielfalt des Lebens, so sagen beide, kenne keine taxonomischen Grenzen.
Das Ehepaar Reise und Hutchinson widmet einen beachtlichen Teil seiner Arbeitszeit dem Liebesleben der Nacktschnecken, insbesondere dem der Gattung Deroceras. Das hat gute Gründe. Die Gattung umfasst mehr als hundert Arten, von denen die meisten äußerlich nicht zu unterscheiden sind. Doch die Anatomie ihres Geschlechtstrakts und die Choreografie ihres Paarungsrituals verraten ihre Identität. Nacktschnecken sind Zwitter. Deroceras, die Ackerschnecken, stülpen bei der Paarung ihre Penisse samt Hilfsorganen aus einer Öffnung hinter dem Kopf und tauschen Sperma aus. Die Übergabe der Pakete gelingt nur, wenn beide exakt demselben Drehbuch folgen.

Folgerichtig waren es die Feinheiten des Liebesspiels, die Reise und Hutchinson 2011 zu einer ihrer wichtigsten Entdeckungen verhalfen: einer zuvor unbekannten Nacktschneckenart, die unter falscher Identität die Welt erobert hatte. Im Lauf des vergangenen Jahrhunderts war die Deroceras-Spezies in immer mehr Ländern aufgetaucht. 1930 in Großbritannien, wo sie in Gärten inzwischen die häufigste Nacktschnecke ist. 1936 in Australien. 1940 in den USA. Es folgten Mitteleuropa, Afrika, Südamerika. In den 1970er-Jahren erreichte sie Deutschland. Wo sie auftaucht, macht sie sich mit Appetit über Grünzeug her – auch über solches, das für den menschlichen Verzehr angebaut wird. Malakologen identifizierten den Eindringling fälschlicherweise als Deroceras panormitanum, ursprünglich heimisch in Sizilien und auf Malta.
Der Mensch macht die Schnecke mobil
Auf den ersten Blick sind Schnecken unwahrscheinliche Weltenbummler. Schon den Gehweg zu überqueren, ist für sie ein langwieriges und gefährliches Unterfangen. Doch zum Glück gibt es den Menschen. Er transportiert die Tiere oder ihr Gelege in Gemüsekisten, Blumentöpfen oder Erdsäcken rund um den Globus. Gerade Nacktschnecken zwängen sich problemlos in jede Ritze. Finden sich die Zwitter ohne Partner an fernen Gestaden wieder, können sie sich zur Not sogar selbst befruchten. Es gibt zahlreiche Arten von Bauchfüßern, die im Schlepptau des Menschen neue Gebiete erobert haben – und dort teils einheimischen Spezies das Leben schwer machen. Von mindestens 34 Nacktschneckenarten, die durch Deutschland kriechen, gelten momentan elf als eingeschleppt.
Im Gegensatz zur ebenso gefräßigen wie unverwüstlichen Spanischen Wegschnecke wirken Ackerschnecken nicht besonders bedrohlich. Es sind zarte, braungraue Wesen, kaum länger als eine Zweieuromünze, mit leicht durchscheinender Haut und dezenter Maserung. Reise und Hutchinson hielten die Tiere in den 2000er-Jahren als Versuchstiere für die Forschung über Fortpflanzungsbiologie. Sie platzierten Exemplare verschiedener geografischer Herkunft paarweise in Versuchsgefäßen und beobachteten bei Rotlicht, wie sie zueinander fanden.
Bei der Paarung sind die Ackerschnecken überraschend agil. Einmal in Stimmung, stülpen sie einen weißen, zungenähnlichen Anhang, das Sarkobelum, aus. Dann umkriechen sie einander, schnappen nach der Partnerin und versuchen sie damit zu berühren. Was als Schlagabtausch beginnt, entwickelt sich zu einem beinahe zärtlichen Streicheln. Schließlich legt jede Schnecke ihren Mund an das Sarkobelum der anderen, fährt schwungvoll ihren großen, gewundenen Penis aus und übergibt ihr Sperma. Im letzten Akt entfaltet sich aus dem Penis eine Drüse, deren Ausstülpungen sich wie Tentakel über den Rücken der Partnerin legen und ihn mit Sekret benetzen.

Doch im Görlitzer Labor offenbarte sich eine Überraschung. Individuen aus der ursprünglichen Heimat von Deroceras panormitanum waren sexuell nicht mit Tieren aus anderen Ländern kompatibel. "Wir haben plötzlich ein drastisch anderes Paarungsverhalten gesehen", sagt Reise, die ein geschultes Auge für die Feinheiten von Schneckensex hat. Die Tiere aus der weiten Welt hatten ein anderes Timing. Sie glitten während des Vorspiels nicht gegenläufig aneinander entlang, sondern krochen Kopf an Schwanz im Kreis herum. Und während die echten Mittelmeer-Ackerschnecken in der Hochphase ihre Oberkörper anhoben und zu einem schleimigen Turm verschmolzen, blieben die Auswanderer am Boden.
Ein Blick ins Erbgut und ein sorgfältiger Vergleich der Geschlechtsteile bestätigte, was Reise und Hutchinson schon ahnten. Die Allerweltsschnecke, die in Gärten und Gewächshäusern auf vier Kontinenten Grünzeug raspelt, war mitnichten Deroceras panormitanum, sondern eine bislang unbeschriebene Art. "Ein bisschen spektakulär" sei das gewesen, sagt Reise bescheiden. Die Görlitzer tauften die neue Spezies Deroceras invadens. Und machten sich daran, die Geschichte ihrer Verbreitung mit detektivischem Spürsinn nachzuzeichnen.
Sie flöhten die Fachliteratur. Sie gingen auf Schneckenjagd. Sie ließen sich Hunderte Proben aus aller Welt kommen, ganze Tiere und Gewebeschnipsel in Alkohol. Bereits die Verteilung der Fundorte zeichnete ein erstes Bild. "Die Schnecke hat große Probleme, nach Osten vorzudringen, und auch im Norden gibt es ein Limit", sagt Reise. "Es sieht aus, als würde ihre Verbreitung durch sehr kalte Winter begrenzt." Offenbar lag ihr Ursprung in wärmeren Gefilden.
Mitteleuropa wurde mehrmals besiedelt
Den entscheidenden Hinweis lieferten schließlich Erbinformationen von 403 Schnecken, gesammelt von Skandinavien bis Neuseeland. Reise und Hutchinson konzentrierten sich auf einen kurzen Abschnitt mitochondrialer DNA, jenem Erbgut, das nicht im Zellkern, sondern in den Kraftwerken der Zellen lagert. Es wird nur über die mütterliche Linie weitergegeben. Über die Zeit treten in dem untersuchten Abschnitt mit gewisser Regelmäßigkeit Mutationen auf, Kopierfehler sozusagen, die einzelne Buchstaben des genetischen Codes verändern. So entstehen verschiedene Varianten, die Biologen als Haplotypen bezeichnen. Je stärker sich die Haplotypen unterscheiden, desto früher haben sich die Entwicklungspfade ihrer Träger getrennt.

"In der Spitze des italienischen Stiefels und der Osthälfte Siziliens herrschte die größte Vielfalt an Haplotypen", sagt Heike Reise. "Das ist typisch für alte Populationen, in denen schon viel Evolution stattfinden konnte." Die Schnecke, so viel war damit klar, hatte von Süditalien aus die Welt erobert. Heiße, trockene Sommer und kühle Winter hatten sie auf eine große Bandbreite klimatischer Verhältnisse vorbereitet. Aus ihrer Heimat wurde sie immer wieder aufs Neue verschleppt. Nördlich der Alpen fasste Deroceras invadens bei mindestens drei verschiedenen Gelegenheiten Fuß. Auch die amerikanischen Schnecken gehören unterschiedlichen Linien an. Die Tiere in Australien und Neuseeland stammen hingegen direkt von sizilianischen Exemplaren ab; strenge Einfuhrkontrollen verhinderten offenbar weitere Ansiedlungen.
Live beobachten können Reise und Hutchinson die Verschiebung der Deroceras-Ostfront nach Polen. Ihre wissenschaftliche Veröffentlichung dazu trägt den Titel: "Eine Invasion aus Deutschland". Der Einmarsch verläuft schleichend, bisher kriechen nur vereinzelte Exemplare durch das Grenzgebiet. Es scheint an menschlicher Unterstützung zu mangeln. Die Familienbande in der Region seien nach dem Krieg durch Umsiedlungen auf der polnischen Seite weitgehend gekappt worden, sagt Reise, "da werden nicht ständig Blumentöpfe hin und her getragen." Und damit auch keine Schnecken.
Momentan liegt der Fokus des Forscherpaars wieder auf dem Liebesleben von Deroceras. Sie wollen wissen: Wozu dient das Sekret aus der Penisanhangdrüse, mit dem die promisken Tiere ihrer Partnerin nach dem Spermientausch den Rücken einschmieren? Vermutlich steigert es ihre Chance auf Vaterschaft. Aber wie? Das evolutionäre Wettrüsten, wie es etwa bei Säugetieren zwischen den Geschlechtern herrscht, ist für Hermaphroditen ein Balanceakt. Jede Waffe, die sie entwickeln, kann auch gegen sie verwendet werden.
Mit chemischen Tricks zur Vaterschaft
"Vielleicht wirkt das Sekret als Anti-Aphrodisiakum und verhindert, dass die Empfängerin der Spermien sich schnell wieder verpaart", mutmaßt Reise. "Oder es veranlasst sie, mehr Ressourcen in weibliche Fortpflanzungsfunktionen zu investieren, als für sie optimal wäre." Beides würde die Chancen der Spermaspenderin auf Vaterschaft erhöhen. Um Antworten zu finden, zwingen die Görlitzer die Tiere zu einer besonderen Version des Coitus interruptus. Sie unterbrechen das Paarungsritual nach erfolgreichem Spermientausch, kurz bevor die Drüse ausgefahren wird. Anschließend schauen sie, wie dieser Eingriff den Fortpflanzungserfolg der einzelnen Schnecken beeinflusst. Gelegentlich betupfen sie Versuchstiere auch mit künstlichem Sekret.
Eindeutige Antworten haben ihre Versuche noch nicht geliefert. Wer zu Schnecken forscht, muss geduldig sein. Für Reise und Hutchinson ist ihre Wissenschaft ein Lebenswerk. Und, auf vielerlei Weise, auch ein Akt der Liebe.