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Familien über Erziehung Verständnis und Verzweiflung

Fabian (14) ist Legastheniker. Errol (14) flüchtet sich in Gewaltspiele. Und die frühreife Lena (12) widersetzt sich ihrer alleinerziehenden Mutter. GEO WISSEN sprach mit Eltern und Kindern über ihre ganz persönlichen Probleme

Inhaltsverzeichnis

Familie Landmann

Protokolle: Elisabeth Hussendörfer

Familien über Erziehung: Symbolbild: Fabian (14) ist Legastheniker
Symbolbild: Fabian (14) ist Legastheniker
© Phil Boorman/Cultura/Getty Images

Familie Landmann*

Beate Landmann, 52, Galeristin

"Eigentlich will Fabian gar nicht mehr an die Grundschulzeit erinnert werden. Ich hab ihm aber erklärt, dass es wichtig ist, gerade für uns als Eltern. Es geht nicht darum, dass du damals solche Schwierigkeiten hattest, hab ich gesagt. Es geht darum, dass wir uns als Familie auf den Weg gemacht haben.

Fabian ging in die zweite Klasse, als mein Mann seine Arbeit für die Nachmittage nach Hause verlegte. Unser Sohn ist intelligent, aber allein konnte er die Hausaufgaben nicht bewältigen. Bei Klassenarbeiten gab er manchmal leere Blätter ab, die Buchstaben tanzen beim Schreiben vor meinen Augen, sagte er. Frustriert und demotiviert wirkte er, traute sich immer weniger zu.

Als ihm schließlich Legasthenie diagnostiziert wurde, war das ein Schock, machte aber auch Hoffnung: Mit der richtigen Förderung könnte es bergauf gehen. Als er an die weiterführende Schule kam, eine Realschule, atmeten wir auf. Fabian macht mit im Unterricht, ist gut integriert, sagten die Lehrer. Die Noten im Halbjahreszeugnis waren eine schöne Bestätigung.

Aber saß unser Sohn wirklich sicher im Sattel? Mir fiel auf, dass er manchmal diesen besserwisserischen Ton hatte. War das typisch für die Zeit kurz vor der Pubertät oder überspielte er etwas, weil die schwierigen Jahre eben doch Spuren hinterlassen hatten?

Fabian war einer der Jüngsten in der Klasse. Viele seiner Mitschüler hatten schon tiefe Stimmen, einige rauchten. Mein Mann und ich sahen eine neue Entwicklungsphase auf uns zukommen. Würde Fabian sich dauerhaft behaupten? Oder würde er Gefahr laufen, den Halt zu verlieren? Wir waren verunsichert.

Eine Freundin, der ich mich anvertraute, erzählte von einem STEP-Elternkurs. Mein Mann war zunächst zurückhaltend, kam dann aber mit und war wie ich begeistert von der Ehrlichkeit, mit der die Kursteilnehmer über sich und ihre Probleme erzählten. In einer Gesellschaft, in der es so wichtig scheint, den Nachwuchs als gut geraten zu präsentieren, hat das Seltenheitswert. Bei mir musste ich feststellen, dass ich mir weniger Sorgen darum gemacht hatte, welche Auswirkungen der Grundschul-Frust hatte, als die Frage: Was wird aus unserem Sohn? Wie geht es nach der Realschule weiter?

‚Was wünscht ihr euch für euer Kind?’ Diese Frage der Kursleiterin brachte eine bis dahin nicht gekannte Klarheit. Dass Fabian Selbstwertgefühl gefestigt wird und er mehr Verantwortung übernimmt, schrieb ich.

Dann aber ertappt man sich im Alltag, dass es oft um anderes geht: Man kommt von der Arbeit, das Kind sitzt vor dem Fernsehgerät. Hast du die Hausaufgaben schon gemacht?, frage ich. Mit dem Unterton, ich bin mir sicher, dass nicht. Also Fernseher aus. Respektvoll kommunizieren geht anders, erfordert, dass man seinem Kind auf Augenhöhe begegnet. Es ist müde, es will abschalten - so wie ich auch wenn ich nach Hause komme. Man kann das lernen, das Tempo herunterzufahren und innezuhalten. Heute frage ich: Du bist sicher auch geschafft? Wie lange gehen die Simpsons noch? Lass uns eine Zeit ausmachen und dann schaltest du ab!

Fabian ist viel zugänglicher, seit ich mich besser auf ihn einlasse. Natürlich werden wir uns nicht immer einig und gelegentlich geht er am nächsten Morgen ohne Hausaufgaben zur Schule. Dann aber im Bewusstsein, dass er das selbst zu verantworten hat. Denn von diesen Gedanken hab ich mich verabschiedet: dass wir ihm, wenn es darauf ankommt, irgendetwas abnehmen können. Letztlich ist er es, der sein Leben lebt. Am letzten Abend des Elterntrainings hat die Kursleiterin noch einmal unsere anfangs formulierten Wünsche hervorgeholt. Selbstwertgefühl, Verantwortung – ich bekam eine Gänsehaut, als ich las, was ich geschrieben hatte. Bilder der Hip-Hop-Veranstaltung an Fabian Schule kamen mir in den Sinn. Unser Sohn hatte den Job des Chefbeleuchters: Vier Tage lang ist er in drei Metern Höhe auf Traversen rumgeklettert und hat Lampen angebracht. Auch den kreativen Part, die Choreographie hat er übernommen. Während der Veranstaltung und am Ende kam er auf die Bühne, wurde bejubelt von den älteren Schülern.

Und ich sah als Mutter: Der kleine Junge ist plötzlich eine Persönlichkeit. Obwohl es keine Garantie für die nächsten Jahre gibt, fühlte ich, dass etwas sehr Wichtiges passiert ist."

Stefan Landmann, 53, Industriedesigner

"Als Beate mit der Idee kam, den Elternkurs zu besuchen, dachte ich: wieso? Fabian hat zwar Lernschwierigkeiten, doch nach der Grundschule hatte er Fortschritte gemacht. Alles gut, sagte ich mir. Aber die elterliche Wahrnehmung arbeitet unehrlich, filtert Unangenehmes raus, richtet den Fokus auf schöne Momente.

Ich ließ mich dann doch überreden – und war erstaunt über die Offenheit der anderen Eltern. Rasch waren einige bei der eigenen Kindheit. Und dann hörte auch ich mich von meinem Vater erzählen. Nicht nur, dass wir ideologisch weit auseinander lagen war ein Problem, er konservativ, ich politisch links. Vor allem war ich nicht bereit, seiner fordernden Art entgegenzukommen. Vater wurde zwar nie besonders laut, aber da war dieser ständige Druck. Ich habe lange gar nicht recht verstanden, was er eigentlich forderte, aber egal was ich tat, ich machte es ihm nicht recht. Ich fühlte, dass ich eine große Enttäuschung für ihn gewesen sein muss.

Plötzlich sah ich die vielen Nachmittage, an denen ich mit Fabian gelernt hatte, in einem anderen Licht. War es mir wirklich um ihn gegangen? Oder ging es nicht viel mehr um mich, wenn ich versucht hatte, ihn auf eine bessere Mathenote zu hieven? Viele Parallelen sind mir im Elternkurs bewusst geworden: Der Dauerdruck meines Vaters hatte mich verunsichert. Meine Freunde kamen damals vor mir in die Pubertät. Ich war dünn, hatte eine Piepsstimme. Meine körperliche Unterlegenheit kompensierte ich mit Besserwisserei und einer großen Klappe. In dieser Zeit habe ich viel einstecken müssen, Rippenbrüche, Nasenbruch. So was passiert meinen Söhnen nicht, habe ich mir geschworen. Aber dann beobachtete ich bei Fabian genau dieses Muster.

Man will, dass seinem Kind nicht ähnliches widerfährt wie einem selbst. Aber es ist ein Irrglaube, dass man dies für andere schaffen kann. Eigentlich hätte ich es wissen können. Erst als Erwachsener hatte ich erkannt, wie unerfüllt mein Vater jahrzehntelang im Job gewesen war. Und dass er mir genau das hat ersparen wollen, mich deswegen anders haben wollte, zielgerichteter, erfolgsorientierter als er es selbst je war.

Dass Beate schon am ersten Kursabend Fabian mangelndes Selbstwertgefühl thematisiert hat, war eine große Hilfe. Ich hatte es nur als Schulthema gesehen. Aber nun war mir klar, was zwischen mir und Fabian wirklich war, welche Erwartungen ich unbewusst an ihn hatte. Vielleicht habe ich das gerade noch rechtzeitig erkannt, denn in der Pubertät kocht so etwas plötzlich hoch. Und dann sagt man als Eltern plötzlich Sätze wie: Ich habe es doch immer gut gemeint.

Das Umwandeln von Druck und Du-Anklagen in Fragen und Ich-Botschaften war eine wichtige Erkenntnis für mich. Früher habe ich oft überflüssige Tipps gegeben, wenn Fabian vor seinen Freunden mit Computer- oder Skaterwissen angab: Mach dich doch nicht so wichtig! Schau doch erst mal, ob dein Wissen überhaupt gefragt ist!

Ich habe auch angefangen, mehr über mich zu reden. Fabian weiß jetzt, dass es schwierig zwischen mir und meinem Vater war. Dass ich mit 16 Jahren tagelang nicht aus den Ferien zurückgekommen bin, dass ich mit 20 weg war von daheim, für immer. Bei uns soll das bitte anders laufen. Fabian soll nie das Gefühl haben, eine Enttäuschung zu sein. Ich möchte, dass er weiß, wie stolz wir auf ihn sind."

Fabian Landmann, 14

"Am Anfang habe ich mich gewundert. Wieso machen meine Eltern ein Elterntraining? Steht es so schlimm um unsere Familie? Bin etwa ich das Problem? Ein Freund, der es mitbekam, musste schmunzeln. Elterntraining? Allein schon das Wort ist ja merkwürdig. Hunde trainiert man! Aber Kinder?

Meine Eltern sehen das anders. Sie haben gesagt, dass es ihnen wichtig ist, dass wir positiv miteinander sprechen. Dass sie zum Beispiel die Wörter 'du musst' ganz streichen wollen. Wenn es ihnen doch mal rausrutscht, erinnere ich sie daran.

Wir haben heute ein super Verhältnis. Es gibt Freunde, die sagen: Mit dir würde ich gerne tauschen. Man kriegt ja immer mal wieder mit, wie es anderswo so zu Hause läuft, mit Hausarrest und Handyverbot. So etwas gab es bei uns nie.

Gerade am Anfang des Kurses sind mir ein paar Dinge aufgefallen: Wenn ich die Hausaufgaben mal nicht hatte, kam nicht gleich dieser vorwurfsvolle Ton. Wenn ich den höre ist es, als würde ich mich innerlich abschotten. Das geschieht ganz unbewusst, um meinen Freiraum zu schützen, der mir sehr wichtig ist. Anders als andere Eltern scheinen meine das zu verstehen.

Und mein Vater sagt jetzt zum Beispiel so etwas wie: Wenn du rechtzeitig fertig bist mit den Hausaufgaben, das wäre cool, dann können wir noch eine Sendung zusammen schauen. Und nicht mehr, wie früher manchmal: Du musst jetzt aber mal fertig werden! Ich hätte selbst nicht gedacht, dass die Wortwahl so einen Unterschied macht. Aber es ist so. Und seitdem läuft alles flüssiger bei uns zu Hause."

* Familienname geändert

Die drei vorgestellten Familien haben einen STEP-Elternkurs besucht. Mehr Informationen zu Erziehungskursen in der neuen Ausgabe von GEO WISSEN oder speziell zu STEP unter www.instep-online.de.

Familie Akgün*

Familien über Erziehung: Symbolbild: Errol (14) flüchtet sich in Gewaltspiele
Symbolbild: Errol (14) flüchtet sich in Gewaltspiele
© HAYKIRDI/E+/Getty Images

Nuryie Akgün, 45, zahnmedizinische Assistentin

"Manchmal denke ich, das Computerspiel war nur das I-Tüpfelchen und die Probleme haben schon viel früher angefangen. Errol ist unser Nesthäkchen und stets sehr umsorgt worden. Auf eine eher bestimmende als fürsorgliche Art allerdings, wenn ich kritisch zurückschaue – und das tue ich oft, seit ich einen Erziehungskurs besucht habe. Wir haben Fehler gemacht. Genau so habe ich es auch Errol erklärt.

Zieh dir eine Jacke über! Hast du dir die Hände gewaschen? Während andere Eltern die Leine irgendwann länger lassen, haben wir permanent versucht, Errol zu formen. Beziehungswiese uns vorgemacht, ihn formen zu können. Errol hat irgendwann angefangen, sich zu wehren. Er ist sehr impulsiv. Schon die Frage nach dem Hände waschen konnte zu einem Wutausbruch führen.

Vor allem mit meinem Mann spitzten sich die Auseinandersetzungen zu. Vermutlich, weil er derjenige von uns ist, der stets noch einen Tick besorgter und kontrollierender gewesen ist. Errol war zwölf inzwischen, Vorpubertät dachte ich. Wenn ich nachmittags heimkam, hörte ich manchmal schon im Treppenhaus, wie die beiden sich anschrien. Wegen einer Hausaufgabe, die Errol zeigen sollte. Wegen eines T-Shirts, das aus der Hose hing. Weil er zu wenig trinken würde. Wegen allem.

Zu dieser Zeit fing auch die Sache mit den Computerspielen an. Errol ist sehr sensibel, nicht ohne Grund haben wir ihn lange vom Fernsehen ferngehalten, bis ins Grundschulalter die Abende vor allem mit Musikhören und Gesellschaftsspielen verbracht. Aber nun traf Errol sich mit Freunden bei uns zum Computerspielen. Als Mutter dachte ich: Besser er macht es daheim und wir haben ein Auge darauf - also haben wir ihm die Spiele erlaubt, auch eines, bei dem Menschen erschossen werden. Wenn es beim Spielen dann nicht gut lief, entwickelte er eine massive Wut. So massiv, dass wir die Spiele-DVDs weggeschlossen haben.

In dem Elternkurs haben wir mit Rollenspielen solche Situationen nachgestellt. Ich dachte, ich würde auf diese Weise einen Kompromiss mit Errol finden können. Aber dann wurde mir klar, dass dies nicht passieren würde. Nicht aus moralischen Gründen oder aus einem übertriebenen Kontrollzwang. Sondern weil ich es tief in meinem Inneren gefühlt habe, dass es die richtige Entscheidung ist, ihn zuhause keine Gewaltspiele mehr spielen zu lassen.

Ich habe ihm dann gesagt, ich kann dir das Spiel nicht wiedergeben. Ich bringe es nicht fertig, weil ich mir Sorgen um dich mache. Dass Errol danach weder aus dem Zimmer gerannt ist noch geschrien hat, war für mich die Bestätigung, dass er meine Haltung auf gewisse Weise verstanden hat.

Seit Gefühle und Bedürfnisse in unseren Gesprächen einen größeren Raum bekommen haben, gehen wir besser miteinander um, auch wenn wir uns nicht einigen. Errol versteht zwar bis heute nicht, dass er sein geliebtes Spiel nicht wieder bekommt. Aber er weiß, dass ich mir Gedanken mache und erlebt unsere Diskussionen als respektvoll. Dass ich es nicht verurteile, dass er es gelegentlich weiter bei seinen Freunden spielt, ist dabei auch wichtig. Errol weiß: Wir kümmern uns, setzen Grenzen - aber wir überwachen ihn nicht. Nicht so wie früher, müsste ich vielleicht sagen.

Das Elterntraining hat bei uns einen Dominoeffekt ausgelöst: Obwohl nur ein einziges Steinchen angeschubst wurde fallen nach und nach viele Blockaden. Im ganzen Familiensystem. Früher hat Errol oft gesagt, er sei froh, wenn er später hier weg sei. Neulich kam er und meinte: Wärt ihr einverstanden wenn ich vielleicht doch nicht so früh ausziehe?"

Kemal Akgün, 52, Architekt

"Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre das Computerspiel schon früher weggekommen. Aber meine Frau meinte anfangs, Errol müsse lernen, Entscheidungen selbst zu treffen. Ich glaube, sie hat die Sogwirkung dieses Spiels unterschätzt. Ein paar Mal habe ich es mit Errol gespielt, bemerkt, wie sehr er in die virtuelle Welt abdriftet. Es war beängstigend, wie er die Zeit vergaß und wie wenig er sich noch wahrnahm. Auch seine Wut, wenn ein Spiel schlecht lief, nahm er nicht wahr.

Das war keine Wut, wie man sie bei einem Spiel hat, wenn man verliert. Das war eine echte Wut. Zum Beispiel, wenn er sich beim Spielen ungeschickt anstellte und gleich zu Beginn erschossen wurde. Wenn ich dann 'Pass auf!' sagte ist er regelrecht ausgeflippt. Für mich aber war klar: Wenn ein Vater so etwas zu seinem Sohn sagt, dann sollte das als gut gemeinter Ratschlag empfunden werden und nicht als Provokation.

Ich bin autoritär erzogen worden, vor allem meine Mutter hat stets deutliche Ansagen gemacht. Nie hätte es Diskussionen gegeben, wenn sie zum Beispiel sagte ‚Zieh deine Jacke an!’. Wenn es ‚Ruhe!’ hieß, waren wir ruhig. Und ein Nein hieß eben Nein.

Theoretisch hab ich verstanden, dass eine freiere Erziehung besser ist für das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, ich habe zahlreiche Erziehungsratgeber gelesen. Tatsächlich aber griff ich in Stresssituationen auf Muster zurück, die ich als Kind unhinterfragt übernommen hatte und die tief im Unbewussten verankert sind.

‚Zieh deine Jacke an!’ Wenn Erol zu so etwas einfach 'nein' sagte, war ich enttäuscht. Mein Kind respektiert mich nicht, dachte ich. Dabei war es eigentlich andersherum: Ich habe mein Kind nicht respektiert. Bin über seine Bedürfnisse hinweggegangen. Über das ganz normale Bedürfnis eines Teenagers, Entscheidungen zunehmend selbst zu treffen. Vielleicht hat er auch deswegen am Computer so extrem reagiert. Weil er zeigen wollte: Das ist meine Welt. Halt dich da raus.

Mit kleinen Schritten habe ich mir das Vertrauen meines Sohnes zurückerworben. Mir etwa ein ‚Siehst du!’ ganz bewusst verkniffen, als Errol im Herbst verschnupft war, weil er draußen nur ein T-Shirt anhatte. Tatsächlich ist er seither nur selten zu leicht angezogen. Und wenn doch, sage ich mit erhobenem Zeigefinger: So gehst du mir aber nicht aus dem Haus - und dann lachen wir beide, weil klar ist, dass ich Spaß mache.

Dank meiner Frau habe ich auch gelernt, weniger absolut zu sein. Selbst wenn es manchmal nervt, wie hartnäckig Errol weiter für dieses Killerspiel argumentiert, werde ich nicht müde, darüber sprechen, wie ich ihn erlebt habe, als wir zusammen gespielt haben. Ich sage dann nicht: Du warst aggressiv. Sondern: Du warst mir fremd, so kannte ich dich nicht.

Manchmal sage ich heute auch: Wollen wir etwas zusammen kochen? Denn das tun wir oft in letzter Zeit. Viel öfter als früher. Und dabei reden wir. Wir, die wir uns eigentlich wieder richtig gut verstehen."

Errol Akgün, 14

"Als meine Eltern gesagt haben, sie würden einen Erziehungskurs besuchen, war ich erst mal fertig mit der Welt. Wir sind eine ziemlich coole Familie und mein Bruder und ich sind gut erzogen, hatte ich immer gedacht. Hatte ich so falsch gelegen? Wir wollen dich nicht verändern, hat meine Mama gesagt. Sie seien es, die Fehler gemacht hätten.

Auslöser für den Kurs war dieses Computerspiel gewesen. Ich hab es nicht oft gespielt, vielleicht eine halbe, höchstens eine Stunde am Tag. Es hat dabei geholfen, runterzukommen wenn ich gestresst von der Schule war. Es hat für mich keine Rolle gespielt, dass dabei auf Menschen geschossen wurde und das Blut hätten sie auch weglassen können. Von mir aus hätte man auch auf Kuchen schießen können. Es war mir wichtig, dass das Spiel intelligent gemacht war, nicht das Menschen erschossen werden sollten. Aber deswegen war dieses Spiel erst ab 18.

Wir hatten online Teams gebildet. Ich spielte Liga an diesem Tag, also mit den Besten der Besten. Ich hätte 20 Kills an einem Stück schaffen müssen, dann hätte ich gewonnen. Ich war bei 19 und die Internetverbindung ist abgestürzt. Da bin ich ausgeflippt. Das war für mich so etwas wie das Halbfinale bei der Fußballweltmeisterschaft. Ich denke, meine Wut kann man verstehen. Meine Eltern hielten meine Aufregung für ein klares Signal dafür, dass mir dieses Spiel schaden würde. Das ist aber totaler Quatsch.

Eine Zeit später ist es dann passiert. Ich kam nach Hause und das Spiel war weg. Ich war unglaublich wütend. Auf meine Eltern. Und auch auf die Kursleiterin, die angeblich dazu geraten hatte. Dann bin ich ausgerastet. Habe mit einem Stuhl geschmissen, mit der Faust gegen die Wand gehauen, Sachen aus den Regalen gerissen, geschrien. Die Reaktion meiner Eltern war der Hammer: Siehst du, wie süchtig du bist, meinten sie. Aber meine Wut hatte allein damit zu tun, dass ich mir komplett bevormundet vorkam. Und das so völlig ohne Grund.

Ich war nie in Gefahr, meine ganze Freizeit in die virtuelle Welt zu verlegen. Ich habe weiter Hobbys gehabt, war jeden Nachmittag draußen, bin zum Sport gegangen. Außerdem habe ich nicht isoliert gespielt, sondern mit Freunden. Von einem Sich-Abkapseln kann also keine Rede sein. Du isolierst dich, bist süchtig - auch zu meinem Vater könnte ich so etwas sagen, denn er verschlingt Bücher. Null Argumente kommen, wenn ich meinen Eltern mit solchen Tatsachen konfrontiere.

Unser Sohn ist so weit, sagen meine Eltern oft und spielen darauf an, dass ich körperlich größer bin als die meisten 14-Jährigen und viele ältere Freunde habe. Für mich ist das unlogisch: Wenn einem einerseits Reife bestätigt wird - und man sie auf der anderen Seite gleich wieder abgesprochen bekommt. Unlogisch finde ich auch, dass meine Eltern ein neues Spiel dulden, das ich jetzt alternativ spiele. Weil es in Richtung Phantasie geht und die Akteure Zauberer und Magier sind. Aber wenn der Magier einen blauen Streifen herbeizaubert, dann heißt das genauso: Die anderen werden getötet.

Meine Eltern denken bestimmt, dass es bei uns zu Hause harmonischer zugeht, weil ich das Killerspiel nur noch ab und zu bei Freunden spiele. Ich denke: Dass wir weniger streiten liegt daran, dass ich älter geworden bin. Ich nehme jetzt vieles einfach nicht mehr so persönlich."

* Familienname geändert

Familie Wachter*

Familien über Erziehung: Symbolbild: Die frühreife Lena (12) widersetzt sich ihrer alleinerziehenden Mutter
Symbolbild: Die frühreife Lena (12) widersetzt sich ihrer alleinerziehenden Mutter
© Cavan Images/Iconica/Getty Images

Nathalie Wachter, 41, Sekretärin

"Hoffentlich sieht uns keiner! Das habe ich ein paar Mal gedacht, als Lena und ich zusammen in der Stadt unterwegs waren. Eltern werden ihren Kindern peinlich in der Pubertät, heißt es ja oft. Aber ich glaube, das ist nur die halbe Wahrheit. Kinder werden auch ihren Eltern peinlich.

Bei Lena passierte es schlagartig: Mit zehn war sie noch ein Kind, mit elf wollte sie Frau sein. So kannst du nicht rumlaufen, habe ich mich reden hören. Schmink dich ab, mahnte ich, bevor sie das Haus verließ.

Welche Botschaften ich meiner Tochter gerade zu Beginn dieser hochsensiblen Phase mitgegeben habe, ist mir erst später bewusst geworden. Du bist nicht okay so wie du bist - wer will das schon hören? Und wie demütigend muss es sein, ausgerechnet jetzt die Rückendeckung derer zu verlieren, die einem doch immer am nächsten waren: der Eltern. Beziehungsweise der Mutter - ich bin alleinerziehend.

Nicht nur in punkto Äußerlichkeiten habe ich mich gegen Lena argumentieren hören. Wenn sie über einen Lehrer herzog, fragte ich reflexartig: Was hast du denn wieder angestellt, dass er sich so über dich ärgern musste? Statt erst einmal zuzuhören. Nie kämen wir auf die Idee, unseren Liebsten so zu begrüßen, wenn er über Job-Frust klagt. In dem Fall wissen wir, das Verständnis ganz wichtig ist. Weshalb wissen wir das nicht bei unseren Kindern? Vielleicht weil wir uns täuschen lassen, auf das zum Teil sehr gekonnte Schauspiel hereinfallen, auf die Fassade aus Coolness. Dazu ständig dieser maulige Tonfall. Die Leiterin eines Erziehungskurses hat mir die Augen geöffnet: Jugendliche in der Pubertät sind groß im Austeilen, aber sie können kaum einstecken, sagte sie. Daraufhin habe ich das Verhalten meiner Tochter versucht aus der Distanz zu beobachten. Wie eine Forscherin, die ein Naturphänomen betrachtet. Das half, ihre Verhaltensweisen nicht mehr pauschal als schwierig oder nervig abzutun, sondern als Ausdruck eines inneren Konflikts. Wenn man an die eigene Jugend zurückdenkt, weiß man doch, dass hinter einem betont taffen Auftreten vor allem die Suche nach Halt und Orientierung steckt. Auslöser für den Erziehungskurs waren Lenas Lügen. Sie war abends oft später heimgekommen als abgemacht. Jedes Mal hatte angeblich die U-Bahn Verspätung. Auch bei den Nagellackflecken auf unserer Couch kamen wir nicht weiter. Was da passiert wäre? Keine Ahnung, meinte sie hartnäckig. Ich wurde regelrecht panisch, dachte, es sei unwiederbringlich etwas kaputt gegangen zwischen uns. Dachte, meine Vergangenheit wiederhole sich. Der erste Freund, der erste Discobesuch – all so was hatte ich auch heimlich gemacht, aus Angst vor Ärger. Den hätte ich bestimmt auch bekommen. Aber vor allem das jahrelange Lügen hat das Verhältnis zu meinen Eltern belastet, und zwar nachhaltig. Inzwischen nehme ich Lenas Verhalten nicht mehr so persönlich. Kinder lügen nicht nur, um sich selbst zu schützen, sie schützen auch ihre Eltern, wollen ihnen Enttäuschungen ersparen. Und im Grunde ist da trotz aller Ablösungstendenzen der Wunsch, geliebt und akzeptiert zu werden. Ich habe akzeptiert, dass Lena kein kleines Kind mehr ist, dem man sagen kann, was es anzuziehen oder wen sie bevorzugt zu treffen hat. Haben wir allerdings eine Absprache getroffen, muss sie sich daran halten. Kommt sie grundlos später als um sieben Uhr heim, hat sie am nächsten Tag schon um sechs Uhr zuhause zu sein - darauf haben wir uns verständigt. Und das wird dann auch durchgezogen, weitestgehend emotionslos.

Seit ich mich mehr zurücknehme ist es deutlich entspannter zwischen uns. Ausrutscher kommen allerdings immer mal vor. Neulich kam sie mit einem Jungen, den ich gefragt habe, ob er in einem Sportverein sei. Klammer auf: Es wäre schön wenn ja, dann würdet ihr schon nicht auf dumme Gedanken kommen. Lenas Augenrollen hat mir gezeigt, dass ich eine Grenze überschritten habe.

Ich deute es aber als Vertrauensbeweis, dass sie neuerdings Freunde mit nach Hause bringt, die sie bisher nur in der Stadt getroffen hat. Und ihre Zimmertür ist mittlerweile auch nicht mehr ständig verschlossen. Vielleicht ist es mit älter werdenden Kindern ja so: Wenn man Druck macht, entziehen sie sich, lässt man sie, kommen sie freiwillig. Und dann geht man zusammen Shoppen oder ins Kino. Nicht nur weil Mama zahlt, sondern weil ein Kind ein Kind bleibt und eine Mutter eine Mutter, ein Leben lang. Und weil man einander nicht weniger nah ist, nur weil der eine sich gerade mal selbst finden muss. Und dann gibt es da noch dieses Bild in meinem Kopf: Lena ist 18, wir sitzen in einer Bar, trinken Prosecco, lachen, reden. Undenkbar wäre so etwas mit meiner Mutter gewesen."

Lena Wachter, 12

"Früher hatten meine Mama und ich ein super Verhältnis. Mein Vater ist gegangen, als ich ein Baby war, von daher mussten wir zusammenhalten. Vor gut einem Jahr dann habe ich gemerkt, dass ich mich verändert habe. Wenn mein kleiner Bruder Witze gemacht hat, habe ich nicht mehr gelacht. Außerdem wollte ich viel für mich sein.

Ich glaube, meine Mutter hat sich schwer damit getan, dass ich so schnell erwachsen geworden bin. Du kommst in die Pubertät, hat sie gemeint. Wie das schon klingt! So wie: Du wirst gerade irgendwie schwierig. Dabei ist es andersherum genau so: Wenn Kinder größer werden, werden die Eltern schwierig.

Meine Mutter ist zum Beispiel ein richtiger Kontrollfreak geworden. Mit wem triffst du dich? Was macht ihr? Die Fragerei nervt. Und dass sie so schnell ausflippt. Und dass man nie weiß, mit was sie einen als nächstes blamiert. Einmal war meine beste Freundin zum Übernachten da. Soll ich euch eine Geschichte vorlesen?, hat Mama gefragt. Ich wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken.

Das mit dem Lügen hat sich irgendwie verselbständigt. Zum Beispiel, als Mama wissen wollte, wie alt meine Freunde sind. So alt wie ich, hab ich gesagt, weil ich wusste, dass sonst weitere Fragen kommen - dabei sind fast alle 15. Oder als ich aus Versehen Nagellack über unsere Couch geleert habe. Als Mama heim kam ist mir das irgendwie so aus dem Mund gepurzelt: Das war ich nicht. Und dann war es zu spät und man kommt nicht mehr aus der Nummer raus. Inzwischen habe ich verstanden, dass Lügen alles nur schlimmer machen.

Wenn ich mal später heimkomme schreibe ich meiner Mutter eine SMS, dann geht das klar. Und wenn ich ihr rechtzeitig Bescheid gebe, darf ich am Wochenende auch mal länger wegbleiben. Mit meinen Freunden, die sie inzwischen kennt. Auch mein Freund war dabei, als wir neulich hier waren. Wir haben Fußball geguckt, er hat Bierbänke in die Wohnung getragen. Ein Zwölfjähriger hätte das bestimmt nicht gemacht und vielleicht sieht Mama jetzt, dass ältere Freude auch Vorteile haben.

Aber dass er sportlich aussieht hätte sie ihm nun wirklich nicht sagen müssen. Und dann diese Frage: Bist du in einem Verein? Wie peinlich! Wieso interessiert sie so etwas? Insgesamt ist sie aber ziemlich chillig geworden, vielleicht auch durch diesen Kurs. Den sollten am besten alle Eltern machen, wenn ihre Kinder älter werden. Finde ich jedenfalls."

* Familienname geändert

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GEO WISSEN Nr. 54 - 11/14 - Wie Erziehung gelingt

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