Kap Lopez, Westafrika, 10. Februar 1722
Die flache Landzunge an der Küste des heutigen Gabun begrenzt im Südwesten eine weite Bucht. Vor dem Ufer ankern drei Schiffe. Das größte ist eine Fregatte mit 40 Kanonen: die "Royal Fortune", das Flaggschiff von Bartholomew Roberts, dem meistgesuchten Piraten auf dem Atlantik. Wohl kein Seeräuber hat so viele Sklaventransporter, Frachtsegler, Schaluppen und Fischerboote geplündert wie Roberts: Mehr als 400 sollen es gewesen sein, von Neufundland bis Brasilien, in der Karibik, vor Afrika. Und kein Pirat segelt in diesen Jahren ein mächtigeres Schiff. Der Waliser, knapp 40 Jahre alt, ist groß, gut aussehend - und ein Draufgänger bis zur Sorglosigkeit. Seit mehreren Tagen schon feiert seine Mannschaft in dieser Bucht ihre letzten Raubzüge. Die "Little Ranger" liegt als Beutekammer voller Gold, Münzen und Juwelen tief im Wasser. Zugleich haben die Crews ihre Segler überholt und gereinigt. Denn nur ein Schiff mit sauberem Rumpf gleitet schnell genug für einen Überraschungsangriff durch die Wellen. Immer noch weht der Geruch von Teer durch die Morgenluft. Und von Schnaps. Die Männer schöpfen Rum aus erbeuteten Fässern. Nicht wenige sind glücklich betrunken. Roberts sitzt in seiner Kajüte beim Frühstück, als ihm ein Schiff gemeldet wird*. Ein Portugiese oder Franzose vielleicht, wahrscheinlich aber ein Kumpan, den Roberts wenige Tage zuvor hinaus auf Jagd geschickt hat. Doch dann meint einer der Seeräuber, ein Deserteur aus der britischen Marine, den Segler zu erkennen: Es ist die "Swallow" - ein Kriegsschiff der englischen Krone, auf dem er einst gedient hat. Die Royal Navy hat sie aufgespürt.
Roberts verflucht seine nervösen Männer als Feiglinge und Schwarzmaler. Dennoch jagen die Anführer seiner Crew los, brüllen und rütteln Schlafende wach, stoßen Torkelnde voran; hektisch rudern Boote mit Männern durch die Bucht. Andere machen das Piratenschiff klar zum Auslaufen.
* Über Leben und Taten von Bartholomew Roberts berichten zahlreiche zeitgenössische Quellen, etwa Zeitungsartikel und Gerichtsakten. Doch so genau auch manche Begebenheiten überliefert sind, es bleiben Lücken in seiner Biografie, die auch die moderne Forschung kaum zu schließen vermag. GEOEPOCHE hat sich in solchen Fällen für die jeweils plausibelste Darstellung entschieden.
Gegen 10.30 Uhr lichtet die "Royal Fortune" ihre Anker und dreht mit mehr als 150 Kämpfern an Bord in den schwachen Wind. Die Fregatte kann es zwar mit dem stärksten Kauffahrer aufnehmen - doch gegen ein königliches Linienschiff wie die "Swallow", ein schwimmendes Bollwerk mit plankenbrechenden 32-Pfund-Geschützen, kann sie kaum bestehen, schon gar nicht mit einer halbbetrunkenen Mannschaft. Roberts setzt auf einen gewagten Plan: Er will mit seinem Dreimaster direkt auf die "Swallow" zulaufen, mit der leichten Brise im Rücken an ihr vorbeiziehen und dabei eine Breitseite in Kauf nehmen. Von dem Deserteur weiß er, dass der englische Segler zwar stark darin ist, gegen den Wind zu kreuzen, vor dem Wind aber vergleichsweise langsam segelt. Übersteht die "Royal Fortune" die erste Salve, hat sie mit ihrem frisch gereinigten Rumpf gute Chancen, auf die See zu entkommen. Unter knarrenden Rahen gleiten die beiden Segler aufeinander zu. Über die Decks legt sich angespannte Stille. Roberts steht bei seinen Männern, prächtig angetan in leuchtend karmesinroter Weste und Hosen, mit einer roten Feder am Dreispitz auf seinem Kopf. In der seidenen Schärpe stecken vier edle Pistolen. Noch wenige Meter. Dann schieben sich die Rümpfe auf fast gleiche Höhe. Ein ohrenbetäubendes Krachen: Blei und Eisen schlagen auf der "Royal Fortune" ein, zerfetzen Holz, Takelage, Segel, mörderische Kartätschenladungen gehen nieder, Blut fließt über das bebende Deck. Roberts' Männer erwidern die Salve. Rauch verdeckt die Sicht, Musketen knallen, Pistolen - dann ist es vorbei. Der Besanmast der "Royal Fortune" hängt zerschossen über dem Achterdeck. Verwundete schreien. Doch das Raubschiff segelt weiter. Voraus liegt der Atlantik, die Freiheit.
Was in den folgenden Minuten genau geschieht, ist unklar. Vielleicht verreißt der Steuermann im Kugelhagel panisch das Ruder, vielleicht dreht der Wind. Jedenfalls schafft es die "Royal Fortune" nicht, Kurs zu halten: Sie gerät in den Segelschatten der "Swallow" - und verliert ihren Schub.
Nun wird dem Flaggschiff seine Größe zur Falle. Einmal aus dem Wind, liegt der schwere Rumpf träge auf dem Wasser, braucht Zeit, um wieder Fahrt aufzunehmen. Zeit, die Roberts nicht hat. Verzweifelt sehen die Piraten, wie die "Swallow" langsam auf sie zuläuft. Erneut verringert sich der Abstand Meter um Meter. Inzwischen schießt das Kriegsschiff aus seinen Bugkanonen auf die beschädigte "Royal Fortune". Dann donnert die zweite Breitseite herüber, fliegen Kugeln, Splitter, beißt Qualm. Einer der Piraten sieht Roberts bei einer Kanone knien. Er springt hin, brüllt den Kapitän an: Er soll aufstehen! Kämpfen! Da erst bemerkt der Mann das Blut auf der roten Kleidung. Ein Geschoss hat Roberts den Hals zerrissen. Während die Schießerei andauert, packen Getreue ihren toten Kapitän. Wie er es einst angeordnet hat, werfen sie ihn in voller Montur, mit Waffen und Prunk über Bord: Nicht dem Feind in die Hände fallen, weder lebendig noch tot. Noch feuern die Piraten zurück, kämpfen um ihr Leben. Immer mehr aber verlassen die Posten, suchen hilf-los Schutz. Gegen 13.30 Uhr bricht der Großmast der "Royal Fortune". Eine halbe Stunde später kapituliert die Mannschaft und streicht ihre Flaggen. Einige der Männer aber fürchten die Gefangennahme mehr als den Tod, drängen mit brennenden Lunten in die Pulverkammer, um das Schiff in die Luft zu jagen. Andere, denen ihr Leben lieber ist, treten ihnen in den Weg und ringen sie nieder. Während von der "Swallow" aus Boote heranrudern, setzt ein Regenschauer ein und löscht die Brandherde auf der zerstörten Piratenfregatte. Mit dem Tod von Bartholomew Roberts neigt sich das "Goldene Zeitalter" der Piraterie dem Ende zu: jene Epoche von der Mitte des 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert, in der Seeräuber den Atlantik in ein gewaltiges Jagdrevier verwandelten. Es waren Männer von enormer Habgier und Brutalität, aber auch voller Freiheitsdrang und Sehnsucht nach einem besseren Leben. Deren Mut in Abenteuergeist und Rauflust wurzelte, häufig jedoch nackter Verzweiflung entsprang. Deren Namen auf den Unterdecks der Handelsschiffe mit Furcht und Bewunderung geflüstert wurden, in den Kontoren der Kaufleute und Kapitänskajüten verflucht.
Bartholomew Roberts war einer der Größten unter ihnen, vielleicht der Größte von allen. Sein Motto: "Ein kurzes Leben - aber ein fideles!"
Den vollständigen Text können Sie in der neuen Ausgabe von GEOEPOCHE "Piraten" nachlesen.