Wer im südkoreanischen Songdo seinen Müll wegwirft, sollte ihn peinlichst genau sortiert haben, will er den Argusaugen des Abfallscanners entgehen. Denn wirft der Mensch Lebensmittelreste in den Plastikcontainer, registriert die Maschine das und weigert sich, den Müll anzunehmen.
Ist alles korrekt, läuft das Müllentsorgungssystem der Zukunft an: In Rohren werden die Beutel angesaugt, beschleunigt und quer durch die Stadt zu einer zentralen Müllsammelstelle geschossen. Alles geschieht lautlos und ohne Abgaswolken - keine stinkenden Müllwagen, keine Staus in engen Gassen.
Das Vorzeigeprojekt der südkoreanischen Regierung liegt rund 50 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Seoul, ist ein Stadtteil Incheons – die Grenze zwischen beiden Metropolen ist kaum wahrnehmbar – und verspricht seinen über hunderttausend Bürgern Großes. Moderne Technologie ermögliche das Gegenteil des dystopischen Großstadtmollochs voller Lärm und Dreck. Songdo soll eine umweltfreundliche, ressourcensparende, sichere Hightech-Stadt sein – eine Smart City.
Im Vergleich zur großen Schwester Seoul ist Songdo luftig bebaut, breite Fahrradwege schlagen Schneisen durch Grünflächen; Spielplätze, Cafés und Parks bieten den öffentlichen Rückzugsraum, den Metropolenbewohner oft vermissen. Auf den Dächern der gewaltigen Hochhäuser fangen Solarmodule die Energie der Sonne ein. Sie geben kaum Energie nach außen ab, sind nach neuesten Effiziensstandards errichtet. Rund eintausend Kameras filmen den öffentlichen Raum; Kennzeichen-Scanner auf den Brücken erfassen die aktuelle Verkehrslage. Einige Sensoren messen die Luftverschmutzung in den Straßen und Parks, andere überwachen die Wasserqualität der Stadt.
Im Hirn der Stadt laufen alle Fäden zusammen
Sinneseindrücke, die wir Menschen sammeln, wandern als chemisches Signal in unser Gehirn, wo der Datenwust sortiert, verknüpft und ausgewertet wird. Im Hirn treffen wir Entscheidungen, die lenken, was unsere Hände greifen, wohin unsere Füße treten.
Songdos Gehirn ist voller Menschen. 24 Stunden am Tag sitzen dort städtische Mitarbeiter vor großen Bildschirmen, führen riesige Datensätze zusammen bestimmen die Handlungen der Stadt. Dort, in der städtischen Zentrale, laufen alle Fäden zusammen, werden alle Informationen ausgewertet.
Es ist dieses Gehirn, das Songdo so energieeffizient, klimafreundlich und sicher macht: Braut sich auf einer der teilweise achtspurigen Straßen ein Stau zusammen, leiten die Mitarbeiter den Verkehr um. Droht irgendwo in der Stadt ein Feuer auszubrechen, warnen Wärmebilder rechtzeitig.
Dieses Hirn ist es aber auch, das besorgte Bürgerrechtler auf den Plan ruft: Rund eintausend Kameras überwachen den gesamten öffentlichen Raum. Ist ein Bürger der Stadt in Gefahr, soll er schnell einen der vielen SOS-Knöpfe drücken – die Einsatzkräfte werden sofort über seinen Standort informiert, die umliegenden Kameras richten sich auf die Säule, sie sind die Augen der Stadt.
Ihre Ohren, überall aufgestellte Mikrofone, sammeln Geräusche in Straßen, Parks oder auf Spielplätzen. Gibt es auffällige oder besonders laute Geräusche, werden die Mitarbeiter der Zentrale benachrichtigt, wählen die passende Kameraeinstellung und prüfen, ob ein Bürger Hilfe braucht.
Und wer hören kann, der will auch sprechen: Über Lautsprecher können die Mitarbeiter aus der Zentrale heraus direkt mit den Bürgern reden, die sie auf dem Bildschirm sehen.
Songdos Infrastruktur wurde aus dem Meer gestampft
Doch Songdo ist auch unter den Smart Cities keine gewöhnliche Stadt. Wo heute in Wolkenkratzer große Deals verhandelt werden, renommierte internationale Universitäten sich ansiedeln, reiche Südkoreaner die Vorzüge der geplanten Metropole genießen, dort war im Jahr 2003: gar nichts.
Zumindest war nichts Menschliches. Songdo steht dort, wo früher das Wattenmeer die südkoreanische Westküste begrenzte. Dann machten die Stadtplaner aus einer Utopie Wirklichkeit, schütteten ein Fundament für die Stadt der Zukunft in das Gelbe Meer. Weil alle Straßen, Gebäude, Parks und Brücken am Reißbrett entstanden sind, ist dies alles auf den Menschen von heute – und morgen – ausgerichtet: 40 Prozent der Fläche von Songdo sollen begrünt bleiben. Im benachbarten Seoul, wo die Hochhäuser sich dicht aneinander in die smogbelastete Luft schmiegen, wäre das vollkommen undenkbar.
Singapur: Der starke Staat setzt auf Innovationen
Rund viereinhalbtausend Kilometer südwestlich von Songdo arbeitet eine ganze Nation seit Jahren daran, zu einer großen Smart City zu werden: Singapur. Und weil der Platz auf der Insel begrenzt ist – Singapur hat ungefähr die Fläche Hamburgs, auf ihr leben aber drei Mal so viele Menschen wie in der Hansestadt – lautet die Lösung Innovation statt Expansion.
Im Global Innovation Index liegt der Stadtstaat auf Platz fünf der Welt, dort ist das Internet kein Neuland, sondern lange fester Bestandteil der Gesellschaft: Die Verwaltung geschieht zu einem großen Teil papierlos, staatliche Kliniken betreuen Tausende von Patienten per App, und bald soll auch das Bargeld komplett dem elektronischen und digitalen Zahlungsverkehr weichen. Roboter werden in Restaurants und Hotels eingesetzt, in der Schule sind Robotik und Luftfahrt feste Teile des Lernplans. Der starke Staat lockt Forscher und Kreative aus aller Welt, am Geld soll es nicht scheitern.
Vielmehr sind es die Daten, die bares Wissen wert sind für die Forscher. Und so sammeln Singapurs Stadtplaner mit Sensoren Windströme, Sonnenstrahlungsstärken und Schattenverteilungen. Daraus entstehen Simulationsmodelle, mit denen sich berechnen lässt, wie ein Wohnblock am effizientesten ausgerichtet werden kann, wo Grünflächen sinnvollsten sind, welche Ecken für Spielplätze freigehalten werden sollten.
Im Campus for Research Excellence and Technological Enterprise arbeiten Wissenschaftler aus den verschiedensten Fachbereichen am Projekt „Cooling Singapore“. Sie untersuchen die fatalen Auswirkungen der Bauweise Singapurs auf die Temperatur in der Stadt: aufgeheizter Beton, Abgase, Abwärme aus Klimaanlagen machen Singapur bis zu sieben Grad heißer als das Umland.
Die Forscher suchen auch Lösungen: Die „Cold Tube“ sind in Wände eingelassene Schläuche, durch die kaltes Wasser gepumpt wird. So werde die Lufttemperatur innen wie außen heruntergekühlt - 72 Prozent der Energiekosten könnten so eingespart werden.
Datenschutz und Smart City – geht das?
Doch wie Songdos Effizienz auf Kosten der Privatsphäre seiner Bürger basiert, ist das Model Singapur eng verknüpft mit eingeschränkten Menschenrechten. Von 180 Ländern landete der Stadtstaat im Ranking der Pressefreiheit auf Platz 151, bei Drogenhandel droht der Tod, Kaugummis sind zwar seit 2004 wieder im Handel – allerdings nur zu therapeutischen Zwecken.
Müssen Bürger ihre Privatsphäre oder gar ihre Menschenrechte aufgeben, um in einer effizienten, klima- und ressourcenschonenden und damit auch sauberen und leisen Stadt zu wohnen? Ist die Wandlung zu einer Smart City überhaupt möglich in einer liberalen Demokratie?
Einer, der diese Fragen schon seines Berufes wegen bejahen muss, ist Michael Pfefferle, Referent für Themen für Smart City und Smart Region bei Bitkom, dem deutschlandweit größten Verbund digitaler Unternehmen. In Deutschland müsse Digitalisierung anders gedacht werden: kleinteiliger, individueller, an den Bedürfnissen der Bürger orientiert.
Weil die Bürger auch Datenschutz bedürfen, müssen die Ideen aus Singapur oder Songdo angepasst werden. Eine smarte City schaffe immer vernetzte Strukturen, tausche immer Daten aus und zentralisiere sie, sagt Pfefferle. Es komme aber darauf an, welche Daten man sammelt: Geoinformationsdaten oder solche über Individuen. „In Deutschland sollten wir keine individuellen Bewegungsprofile erstellen. Aber wir können mit Sensoren Daten über Dinge sammeln und auswerten: Ist der Mülleimer voll? Ist die Erde zu trocken? Ist der Parkplatz belegt?“
Historische Altstadt und Smart City – geht das?
Die zweite große Herausforderung für die Digitalisierung deutscher Städte findet sich in ihrer Geschichte. Die meisten Innenstädte sind historisch gewachsen: Ein Röhrensystem, das den Müll per Luftdruck unter der Stadt durchschleust, wäre in Berlin undenkbar, zu unterhöhlt ist die Hauptstadt mit Leitungen, Rohren und Abwassersystemen.
Und weil kein deutsches Songdo in der Nordsee aufgeschüttet werden kann, kann nicht einfach Neues gebaut, sondern muss Altes angepasst werden.
Darmstadt, mitten in einem dichten Ballungsgebiet in Hessen und unter vielen Pendlern leidend, konnte nicht einfach eine neue Umgehungsstraße um die Stadt bauen; es war schlichtweg kein Platz da. „Jetzt zeichnen Sensoren den Verkehr in der Stadt auf, alle Ampeln sind miteinander vernetzt“, erzählt Pfefferle. „Die Verkehrsführung wird an den Bedarf angepasst, morgens schalten die Ampeln anders als abends.“
Dorfleben und Digitalisierung – geht das?
Digitale Smartness beschränkt sich aber nicht auf Großstädte und Ballungsgebiete. Im ländlichen Raum werden immer mehr öffentliche Verkehrsmittel angeboten, die nicht nach Fahrplan, sondern auf Abruf fahren. Busse fahren Dörfer nur an, wenn ein Bürger das vorher per App angefordert hat; leere Fahrten werden vermieden.
Die kleinste Stadt, die das Fraunhofer Institut und Bitkom in den Smart City Atlas aufgenommen haben, ist das hessische Bad Hersfeld – 30.000 Menschen leben dort. Seit 2011 krempelt Bürgermeister Thomas Fehling die Stadtverwaltung kräftig um: Informationen über Feinstaubwerte, Geräuschpegel, freie Parkplätze oder Ladestationen für E-Autos werden auf einer städtischen Homepage gesammelt und den Bürgern zur Verfügung gestellt.
Diese Daten können und sollen auch Bürger sammeln: In ihren Vorgärten oder auf der Terrasse können sie „Smartboxen“ aufstellen, die Lärmbelastungen und Feinstaubwerte beständig in die städtischen Datenbanken pflegen. Das ist nicht nur reine Spielerei für Statistik-Nerds: Die Daten sollen unter anderem als Argumentationsgrundlage für eine Schallschutzwall neben der Autobahn A4 dienen, unter der Bad Hersfelder schon lange leiden.
Auch das digitale Rad braucht eine Straße
Doch Bad Hersfelder Smartboxen, Darmstädter Ampeln und Busse, die nur auf Anfrage Dörfer anfahren, sind in Deutschland noch immer die Ausnahme – sogenannte Leuchtturmprojekte. Für Michael Pfefferle liegt hier das Problem: „Wir müssen aufhören, nur einzelne Projekte zu adeln und anfangen, Digitalisierung weiträumig zu denken und umzusetzen. Nicht jede Kommune kann das digitale Rad neu erfinden, sie brauchen ein Kompetenzzentrum, an das sie sich wenden können, um gute Ideen, die zu ihrem Umfeld passen, zu übernehmen.“
Doch wie auch ein analoger Autoreifen auf holprigen Schotterpisten nicht leise und effizient dahinrollen kann, braucht auch jedes digitale Rad die passende Infrastruktur. Das ist der gemeinsame Nenner, der Sondgo, Singapur, Berlin, Darmstadt, Bad Hersfeld und den ländlichen Raum eint: Ohne gute, flächendeckende Internetabdeckung gibt es weder eine Smart City noch eine Smart Region.