Immer mehr Frauen melden sich zum Fall Rammstein zu Wort. Nach aktuellen Recherchen der Süddeutschen Zeitung und des NDR beschuldigen einige Frauen nach Till Lindemann jetzt auch den Keyboarder der Band, Christian "Flake" Lorenz. Die Vorwürfe klingen ähnlich wie bei Lindemann, es geht um mutmaßliche sexuelle Übergriffe: Die Frauen hätten sich nach viel Alkohol sehr seltsam gefühlt und dann Sex mit Bandmitgliedern gehabt. Es klingt durch, dass sie dabei nicht bei vollem Bewusstsein gewesen seien sollen.
Statt ihre Lieblingsband zu hinterfragen und die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass an den Vorwürfen etwas dran sein könnte, gehen viele Fans weiter auf Konzerte, jubeln ihre Idole dort an. Es scheint fast so, als seien sie jetzt größere Fans als zuvor. Wie kann das sein? Das haben wir den forensischen Kriminalermittler Benjamin Schorn gefragt.
GEO.de: Es scheint, als würden sich viele Fans von Rammstein nicht mit der Möglichkeit auseinandersetzen wollen, dass Till Lindemann die Dinge wirklich getan haben könnte, die ihm vorgeworfen werden. Warum?
Benjamin Schorn: Wenn Sie jahrelang Fan einer Band sind, und plötzlich steht der Verdacht im Raum, dass der Frontmann ein Verbrechen begangen haben könnte – dann ist das ein massiver Angriff auf das eigene Erlebte und das eigene Selbst. Fans hatten viele schöne Erlebnisse auf Konzerten, haben T-Shirts mit dem Logo getragen, die Band verehrt. Wenn man die Möglichkeit anerkennt, der Frontmann könnte schuldig sein – dann muss man sich selbst die Frage stellen, warum man diesen Menschen so lange toll fand. Wer sich als Fan damit beschäftigt, muss seine eigene Identität und Vergangenheit hinterfragen. Das ist natürlich extrem unangenehm.
Da ist es leichter, sein Idol so lange wie möglich zu verteidigen.
Genau. Ein Fan sucht sich einen Menschen, mit dem er sich identifizieren kann. Bei Hardcore-Fans ist das extrem ausgeprägt. Sie erleben sich in einer sozialen Beziehung mit dem Fanobjekt, auch wenn sie diese nicht direkt haben. Sie empfinden sich der Person, in diesem Fall Lindemann, zugehörig. Eine Kritik an dem Idol kommt dann einer Selbstkritik gleich.
Ein richtiges Argument haben die Fans: Till Lindemann wurde nicht verhaftet oder vor Gericht angeklagt. Bislang gibt es nur Indizien, die Aussagen der Frauen.
Richtig. Die Fans berufen sich auf die Unschuldsvermutung.
Rammstein-Frontmann: "Etwas Rohypnol im Wein/ Kannst dich gar nicht mehr bewegen"
Die derzeitigen Vorwürfe wiegen allerdings schwer. Frauen berichten, sie seien bei Konzerten zum Sex mit Lindemann rekrutiert worden, zwei wollen nach einer Pre- oder After-Show-Party bewusstlos gewesen sein. Selbst, wenn diese Frauen lügen sollten, gibt es immer noch einen verstörenden Gewalt-Porno mit Till Lindemann, in dem er Frauen würgt oder ihren Kopf an die Wand knallt. Außerdem hat er ein Gedicht über den Wunsch veröffentlicht, mit einer Frau Sex zu haben, "die schläft", weil sie KO-Tropfen genommen hat. Das Gedicht kann als Vergewaltigungsfantasie gelesen werden. "Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas) / Kannst dich gar nicht mehr bewegen", heißt es darin. Wie kann man sich all das schönreden?
Menschen bewerten Informationen nicht immer nach der objektiven Faktenlage, sondern mit der Widerspruchsfreiheit mit ihren eigenen Erfahrungen. Wenn jemand auf Konzerten 15 Jahre lang nur tolle Erfahrungen mit Rammstein gemacht hat, könnte dieser Mensch denken: "Die Anschuldigungen müssen ja falsch sein. Schließlich habe ich nur Gutes erlebt mit der Band."
In der Psychologie bezeichnet man das als Dissonanzreduktion. Wenn Wunsch und Wirklichkeit zu unterschiedlich sind, redet man sich die Dinge so ein, wie man sie gerne hätte.
Genau. Wenn Menschen sich abweichend von ihren Werten und Prinzipien verhalten, entsteht ein ungutes Gefühl in ihnen, was man in der Psychologie als kognitive Dissonanz bezeichnet. Um das ungute Gefühl zu reduzieren, kann man nun zwei Dinge tun. Entweder man ändert sein Verhalten und unterlässt das selbstwertbedrohliche Verhalten. Oder aber, man ändert schlicht seine Gedanken hinsichtlich dessen, was man als gutes, ordentliches, akzeptiertes Verhalten empfindet. Im letzteren Fall sprechen wir dann von Neutralisierungstechniken zur Beruhigung – Neutralisierung – des schlechten Gewissens. Fans könnten hier beispielsweise die konkreten Vorwürfe verallgemeinern: "Das passiert doch überall in dieser Szene. Dann kann ich ja nirgends mehr hingehen", oder einen sozialen Vergleich anstellen: "Das eine Mal, wo ich ein Konzert besuche im Vergleich zu den ganzen Hardcore-Fans."
Zusätzlich wird den mutmaßlichen Opfern von einigen Fans vorgeworfen, zu lügen.
Hier schalten die Leute auf eine Projektion um, die Schuld wird den mutmaßlichen Opfern zugeschrieben. Nach dem Motto: "Was erwartest du, wenn du leicht bekleidet auf eine After-Show-Party gehst?" In anderen Fällen kommt es zu einer Minimierung und Bagatellisierung der möglichen Tat: "Jetzt habt euch mal nicht so, Till Lindemann ist ein absoluter Superstar. Ist doch toll, wenn der mit einem Sex haben will."
In allen Fällen gibt es eine starke Abwehr gegen die Vorwürfe und eine starke Verteidigung des Idols. Das geht manchmal schon in Richtung von Verschwörungstheorien. Der Youtuberin Kayla Shyx wurde mehrfach vorgeworfen, nur darüber zu berichten, um eine Million Follower zu bekommen.
Rammstein: Lindemann "weckt bei manchen weiblichen Fans eine gewisse Begierde"
In dem umstrittenen Rammstein-Song "Ich tu dir weh" von 2009 lautet der Text: "Du blutest für mein Seelenheil /Ein kleiner Schnitt und du wirst geil / Der Körper schon total entstellt / Egal, erlaubt ist, was gefällt". Trotz der aktuellen Vorwürfe stehen derzeit junge Frauen bei Rammstein-Konzerten in der ersten Reihe und himmeln Till Lindemann an. Warum übt er eine derartige Euphorie bei Frauen aus?
Till Lindemann ist eine besondere Kunstfigur in der Szene. Wie er sich kleidet, auf der Bühne auftritt, und sich in der Öffentlichkeit inszeniert – die Machtdemonstration, die Dominanz, die Maskulinität – all das weckt bei manchen weiblichen Fans eine gewisse Begierde.
Warum stehen besonders so viele junge Frauen auf den 60-Jährigen Lindemann?
Das Wort Fan kommt von dem Wort "fanatisch". Das Fansein geht häufig in der Jugend los, gleichzeitig mit der Abkopplung von den Eltern. In dieser Zeit geht es darum, eine eigene Identität zu bilden und sich von anderen zu unterscheiden, sich zu individualisieren. Bands mit speziellen Künstlern und Texten spielen dabei eine tragende Rolle. Jugendliche oder junge Frauen verlieben sich teilweise regelrecht in die Künstler. Sie träumen davon, ihrem Idol nahezukommen. Das sind sehr starke Gefühle. Diese starke Emotionalität und Identifizierung erklärt, warum sich junge Fans eventuell gar nicht vorstellen können, dass ihr Idol zu solchen Taten fähig wäre, die man ihm vorwirft. Sie werten diese Informationen ab und schieben sie gedanklich beiseite.
Man muss differenzieren. Es gibt auch viele Fans, welche schwer erschüttert sind und sich von Till Lindemann und sogar der ganzen Band abwenden. Andere setzen sich zumindest kritisch mit den Vorwürfen auseinander. Manche von ihnen gehen nicht auf das Konzert, andere schon – trotz inneren Konfliktes. Warum?
Manche Konzertbesucher sind vermutlich keine Hardcore-Fans, sondern finden einfach die Musik und die Bühnen-Show toll. Sie haben viel Geld für eine Karte gezahlt und sagen sich: "Ob ich jetzt hingehe oder nicht, ändert nichts. Wenn ich nicht gehe, geht halt jemand anderes."