Die Hinterbliebenen haben ihr im Kies eine tiefe Grube ausgeschachtet und den Grund mit einer dicken Schicht roten Farbpulvers bedeckt. Nun setzen sie die junge Frau hinein, mit Blick nach Süden und angewinkelten Beinen; dazwischen legen sie ein Baby, das jünger als ein Jahr ist. Sie geben der Verstorbenen kostbare Werkzeuge mit ins Jenseits, darunter steinerne Klingen und eine Hacke – sowie behauene kleine Feuersteine, die als Pfeilspitzen taugen, teils geborgen in einem Behältnis aus Knochen. Das Haupt der Frau aber bedecken sie mit einem mächtigen Kopfschmuck, gefertigt aus Fell, Tierzähnen, den Schädelknochen und dem Geweih eines Rehs.
Menschen, die als Jäger und Sammler umherziehen, bestatten an diesem Tag, irgendwann um 6800 v. Chr., in Mitteldeutschland eine Frau, die zu Lebzeiten höchstes Ansehen genossen haben muss: eine Schamanin, die zwischen den Lebenden, den Naturgeistern und den Ahnen vermittelte. Ihr Grab, das 1934 nahe Leipzig entdeckt wurde, gewährt einzigartige Einblicke in die magische Kultwelt der Steinzeit. Keine andere Ruhestätte in Deutschland bietet so zahlreiche Hinweise auf die Existenz von Schamanen, deren Leben, Wirken und Sterben.
Neben den zahlreichen Beigaben beweist auch die Verwendung des kostbaren, aus einem Eisenoxid gewonnenen Farbpulvers, dass die Verstorbene einst eine außerordentliche Stellung innehatte. Schon viele Jahrtausende vor ihrem Tod hatten Menschen in Südwesteuropa das Material beim Ausmalen von Höhlen benutzt, und es wurde auch bei Beerdigungen verwendet, wohl als Teil eines kultischen Rituals.
Womöglich wurde die Frau vor ihrer Bestattung sogar mit dem Farbstoff bemalt; darauf deutet ein vermutlich als Pinsel genutzter, gespaltener Rehknochen hin, auf dem sich Spuren der Farbe fanden.
Forscher vermuten Reste eines Kopfschmucks
In dem im Grab gefundenen Geweih, den Rehknochen und Tierzähnen vermuten Forscher Reste eines Kopfschmucks, wie ihn Geisterbeschwörer, etwa in Sibirien, noch Anfang des 18. Jahrhunderts trugen: Der wahrscheinlich bei Ritualen getragene Kopfputz, reich behängt mit den Hauern eines Ebers sowie Schneidezähnen von Rothirschen, Wildschweinen, Wisenten und Auerochsen, sollte wohl dafür sorgen, dass die Frau auch im Jenseits mit den Geistern in Kontakt treten kann.
Einen weiteren Hinweis darauf, dass die Tote vermutlich einst als Schamanin wirkte, bietet ihr Skelett: Der oberste Halswirbel der Frau war nicht vollständig ausgebildet; ihre Wirbelsäule war also womöglich an einer für die Bewegung des Kopfes entscheidenden Stelle instabil. Zudem weist eine auffällige Verformung an der Schädelbasis auf einen ungewöhnlichen Verlauf eines Blutgefäßes am Übergang vom Hals zum Kopf hin.
Diese Besonderheiten, so die Annahme der Forscher, könnten es der Frau ermöglicht haben, durch das Drehen ihres Kopfes die Blut- und Sauerstoffzufuhr ins Gehirn zu reduzieren oder gar zu unterbrechen und sich so auf einfache Weise in Trance zu versetzen – in jenen Dämmerzustand, in dem Schamanen dem Glauben nach mit Ahnen und Geistern in Verbindung treten, böse Mächte vertreiben und für eine erfolgreiche Jagd oder Schutz vor Krankheit und Tod sorgen.
Wer das kleine Kind aus dem Grab?
Doch ihre eigene Gesundheit konnte die Schamanin sich nicht bewahren: Zwei ihrer Schneidezähne waren so extrem abgenutzt, dass die Wurzelkanäle freilagen. Daher litt sie an ständigen Infektionen, die bereits die Kieferknochen angegriffen hatten – ein Leiden, an dem die Frau wohl schließlich starb.
Wohl niemals wird sich herausfinden lassen, welche Zeremonien sich rund um ihren Tod abgespielt haben mögen, vor allem aber: Wer das kleine Kind war, das ihr mit ins Grab gegeben wurde. Zu schlecht erhalten sind dessen Skelettreste, als dass sich noch untersuchen ließe, ob es ihr eigenes Baby war – und welches Schicksal ihm widerfahren sein mag.
Eines aber ist klar: Nur wenige Jahrhunderte nach dem Tod der beiden wird die Neolithische Revolution Mitteleuropa erfassen, und mit der Sesshaftwerdung des Menschen wird der archaische Geisterglaube allmählich an Bedeutung verlieren.
Die Ackerbauern werden neue, komplexere Kulte entwickeln – und Mittler wie die „Schamanin von Bad Dürrenberg“, wie Forscher die steinzeitliche Geisterbeschwörerin nach ihrem Fundort nennen, werden dann Priestern neuer Glaubenswelten weichen.