Mit beiden Ellenbogen im Dünengras liege ich am Weststrand der Halbinsel Darß und versuche, das Objektiv meiner Kamera vor fliegendem Sand zu schützen. Vor und hinter mir schieben sich Badende in die Ostsee, toben jede Menge Kleinkinder über den Strand, der sich weit und makellos gekämmt unter dem blauem Himmel ausbreitet. Aber das alles interessiert mich gerade nicht. Was für mich zählt, ist die Höhe der Dünen, wie viel Gras sie bedeckt; sind die Kiefern, die sich Richtung Land beugen und wie nah ihnen das Meer schon gerückt ist – und nicht zuletzt die Beschaffenheit der Küste, die sich am besten aus der Nähe dokumentieren lässt: Sand, Kies, Felsen, Hafenmauer, Deich. Oder eben Dünengras.
Das alles tue ich im Dienst der Wissenschaft: Das Geographische Institut der Kieler Universität baut eine Datenbank mit Fotos von Stränden und Küstenabschnitten auf: 691016 Kilometer Ufer gibt es weltweit. Ein aussichtsloses Unterfangen für ein paar Wissenschaftler einer norddeutschen Universität. Aber sie haben ja mich. Und andere Reisende, Fischer, Matrosen, Strandspaziergänger, Muschelsammler, Sturmbeobachter, Sonnenanbeter, Treibholzsucher, Kreuzfahrttouristen und Spaziergänger, die sich mit ihren Handykameras am Meer herumtreiben und ganz nebenbei – im Urlaub, bei der Arbeit – unendlich viele Fotos machen. Bilder, die normalerweise in den Rechnern der Welt verschwinden. Die aber zum unfassbaren Schatz für Wissenschaftler werden können, die wissen wollen, wie die Küsten beschaffen sind.
Forscher bauen weltweit auf die Mitarbeit von Freiwilligen
Citizen Science, die Wissenschaft der Bürger: Schon 1900 organisierten amerikanische Wissenschaftler erstmals das Wissen der Laien – für eine Vogelzählung. Immer mehr Forscher weltweit bauen heute auf die Mitarbeit von Freiwilligen, die dank WLAN, freiem Speicherplatz auf ihren Computern und Smartphones ganz nebenbei Daten sammeln oder auch auswerten, Fledermäuse zählen, Wale beobachten, Mücken kartieren, Dokumente sichten, Landkarten vergleichen, den Himmel beobachten – oder eben Küsten. 2017 gingen die Kieler Geographen mit ihrem Citizen Science Projekt auf Coastwards.org online.
»Am besten, man steht auf dem Material, das man fotografieren will«, hatte Maureen Tsakiris gesagt, die Coastwards.org mit Athanasios Vafeidis, Professor für Küstenrisikomanagement an der Universität Kiel, entwickelt hat.
Vor meiner Strandtour hatte ich beide im Institut für Geographie besucht. Der Professor und die Programmiererin sitzen in einem Zimmer mit ein paar Stühlen, einem kleinen Tisch, einem Sofa, einer Kaffeemaschine und einem aufgeklappten Laptop, starten ihre Seite, klicken auf die Weltkarte mit ihren Ozean- und Meeresgrenzen – und mit vielen gelben, roten, blauen und grünen Punkten. Beim Ranzoomen erkennt man die einzelnen Küstenabschnitte. Sobald man die Punkte anklickt, sieht man Fotos: Strände mit Eisschollen, Häfen, Steilufer, Deiche, Sand, auch Strandkörbe, Schiffe, sogar Fußballtore …
Kieler Universität sammelt Strandfotos für Datenbank
Das ehrgeizige Ziel der Forscher: Mithilfe der Laienfotos, die man ganz einfach und anonym hochladen kann, soll ein weltweiter Kataster von Küstentypen geschaffen werden und als Datenbank wiederum anderen Forschern, Politikern, Tourismusstrategen und jedem Interessierten zur Verfügung stehen. Die Zeit drängt, sagen die Kieler: Steigt der Meeresspiegel – laut Prognose der Wissenschaftler zwei Meter bis zum Jahr 2100 – sind davon auch Millionen Menschen weit im Landesinneren betroffen.
In den Küstenschutz muss viel Geld investiert werden. Nur wo und wie genau? Manche Steilküste kann es verkraften, wenn Wellen steigen, Stürme zunehmen, Strände erodieren, Sandbänke verschwinden. Auch Polderwiesen und Dünen kommen mit Hochwasser gut klar. Wie also die Mittel einsetzen? »Könnten Küsten uns Selfies schicken«, sagt Vafeidis, »wären wir ein gutes Stück weiter.« Vafeidis’ Analyse des komplexen Zusammenspiels von Meeresanstieg und Küste gehört zum interdisziplinären Großprojekt, das seit zehn Jahren Meeres- und Klimaforscher, Ökonomen, Geographen, Mediziner, Juristen, sogar Künstler der Kieler Universität am »Ozean der Zukunft« forschen lässt, ein sogenannter Exzellenzcluster.

Und auch ich bin jetzt Teil des Teams. Drei Tage lang fahre ich die Ostseeküste entlang – von der Hohwachter Bucht über Fehmarn, Klützer Winkel bis Fischland-Darß. Ich suche nach weißen Flecken auf der Coastwards- Weltkarte, nach Orten, die schon einmal abgelichtet wurden, um mit meinen neuen Bildern den Forschern auch wichtige Vergleiche zu ermöglichen. Am zweiten Tag stehe ich auf einem Flecken Sand zwischen rundgeschliffenen Steinen, dort, wo vor fast genau sechs Jahren schon jemand war. Der Strand war damals schmaler, das Seegras reichte an einigen Stellen fast bis ans Wasser. Im Vordergrund liegt Treibholz, so als sei gerade ein Sturm über das Land gezogen. Es ist wie ein Film, in dem man eine kurze Rückblende sieht und dadurch das Jetzt anders betrachtet.
»Küstenselfies aus aller Welt gesucht«
Ich suche, was andere vielleicht erst gar nicht sehen – oder sehen wollen. Auch Betonmauern, Deiche, Anleger. Ich schleiche um die Pfähle der Seebrücke in Graal-Müritz. Ich halte fest, wie das Meer an den Steilküsten des Klützer Winkels frisst. Ich fotografiere die Mole in Warnemünde, während mich biertrinkende Camper beobachten. Ich liege am Strand von Kühlungsborn und stelle mir vor, wer wohl der Mensch war, der schon 2015 den Zustand dokumentiert hat. Ich klettere über einen Zaun auf eine Weide, weil mir von hier aus der Blick auf die Küste vielversprechender zu sein scheint, und merke plötzlich, dass zwei Ponys an meiner Jacke knabbern. Jeden Abend sortiere ich die Bilder und lade sie hoch.
Bisher mussten die Forscher auf alte Landkarten zurückgreifen, auf Feldforschungen oder auf regionale Datensätze aus Projekten, die man nur mühsam findet; auf nationale Erhebungen, die wiederum sehr unterschiedlich angelegt sind, was Inhalt oder Rahmenbedingungen angeht. Oder auf Google Earth, aber die Qualität der Fotos dort sei nicht ausreichend, sagt Professor Vafeidis.
Bürgerwissenschaftler können Fotos auf Coastwards.org hochladen
Mehr als 8000 Fotos wurden inzwischen auf der Weltkarte von Coastwards.org hochgeladen. Viele Bilder vom Mittelmeer oder von Nord- und Ostsee, dazwischen immer wieder große Lücken, auffallend viele Bilder von Korsika oder Island, wo wohl jeweils ein emsiger Citizen Scientist urlaubte, sehr wenige Fotos aus fernen Ländern. Bürgerwissenschaftler sind unberechenbar. Damit das Projekt nicht einschläft, wirbt Maureen Tsakiris mit dem Slogan »Küstenselfies aus aller Welt gesucht« auf der Citizen-Science-Plattform Buergerschaffenwissen.org. Als sie kurz für das Fernsehen interviewt wurde, stieg die Zahl der Fotos sprunghaft an. Aber es sind immer noch zu wenig, um sie wissenschaftlich verwerten zu können.
Auch die Küsten machen es den Forschern nicht leicht. Wenn kilometerlang nur Sandstrand ist, reicht vielleicht ein Foto. Zerklüftete Strände mit vielen Felsen und Buchten brauchen mehr. »Traumhaft«, sagt Maureen Tsakiris, wäre ein Foto pro Kilometer. Bei 691016 Kilometern Küste auf der Erde sind das knapp 700000 Bilder. »Das klingt erst mal nach sehr viel«, sagt sie, »aber wenn man bedenkt, dass circa drei Milliarden Menschen weltweit ein Smartphone besitzen und ebenfalls circa drei Milliarden an Küsten leben, dann relativiert sich das.« Um dem Projekt neuen Schwung zu geben, überlegt sie jetzt, eine App zu entwickeln, die automatisch informiert, wenn man sich einem noch undokumentierten Strand nähert.

An der Ostsee zwischen Fehrman und Darß würde sich die App eher selten melden. Denn in den drei Tagen habe ich 200 Fotos hochgeladen. Ich habe geschwitzt, gefroren, mich von Regen durchweichen lassen, bin über verbotene Wege gefahren, habe Schafe erschreckt und Nacktbadende. Irgendwann hatte ich das Gefühl, ich bin auf einer Mission. Ich habe mein Auto an einem Feldweg geparkt, bin eine Stunde lang Richtung Meer gewandert, bis ich in einem Wald stand, hinter dem sich ein wilder Strand öffnete, an dem ich ganz allein war. Und mich nach einem Bad im Meer in der Sonne trocknete, während die Uferschwalben am Himmel segelten. Ohne Coastwards hätte ich den nie gefunden.