Interview mit Rainer Moritz zu seinem Buch
von Thomas Merten
Verstehen Sie Nietzsche nach einer Nacht im Waldhaus in Sils-Maria besser?
Das glaube ich nicht. Es ist ja grundsätzlich problematisch, Literatur nach ihrem biografischen Hintergrund zu bewerten. Ich muss den Ort der Dichtung also nicht kennen, um die Dichtung zu verstehen. Mir ist aber deutlich geworden: Schauplätze färben ab. Man versteht vielleicht besser, wie Literatur entsteht, was Schriftsteller aus Orten machen. Ein Beispiel: Thomas Manns Frau Katia wurde mit Tuberkulose im „Waldhotel“ in Davos untergebracht, damals ein Sanatorium namens „Villa Oberhof“. In Briefen schilderte sie ihm die absonderliche Berggesellschaft, schwebend zwischen Tod und Luxus. Er selbst reiste an. Später verarbeitete er die Motive zur morbiden Atmosphäre im „Zauberberg“.
Sie porträtieren 17 Hotels. Nach welchen Kriterien haben Sie die ausgewählt?
Ich bin viel unterwegs, an allen möglichen Orten, und genau deswegen ein genauer Hotelbeobachter. Es war klar, ein paar Klassiker müssen dabei sein, wie „Schloss Elmau“ in Bayern, wo die Gruppe 47 tagte und noch heute viele Literaturveranstaltungen stattfinden. Mit dem „Victoria“ in Triest, in dem James Joyce zwei Jahre lebte, oder dem auf den ersten Blick fast unscheinbaren Südtiroler „Gasthof Bad Dreikirchen“, wohin Sigmund Freud wanderte und in dem Christian Morgenstern seine Ehefrau kennenlernte, sind auch weniger bekannte Häuser dabei. Wichtig bei der Auswahl war mir: Das Haus sollte etwas Urwüchsiges ausstrahlen, mit der Entstehung von Kunst und Literatur zu tun haben oder gleich Schauplatz der Werke sein.
Hotels waren gerade im 20. Jahrhundert beliebte literarische Schauplätze.
Die Epoche der großen Hotels fällt deutlich mit den Roaring Twenties und der Literatur des Fin de Siècle zusammen, in der sich vieles um Dekadenz dreht. Grandhotels entstanden meist Ende des 19. Jahrhunderts in Großstädten, wie etwa das „Vier Jahreszeiten“ in Hamburg, und hatten ihre erste große Blüte vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Mit Vorliebe haben diese Hotels berühmte Dichter zu sich eingeladen. Und viele haben ihre Aura bis heute gewahrt, wie das „Waldhaus“ in Sils-Maria.
Hotels boten den Künstlern neben Komfort auch Diskretion. Sind Sie dennoch auf Überraschungen gestoßen?
In jedem Hotel bin ich auf kleine Geheimnisse gestoßen, so zum Beispiel im hoch eleganten „Brenners“, das ja im eher langweiligen Baden-Baden beheimatet ist. Louis-Ferdinand Céline, einer der größten französischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Arzt, Judenhasser und Nazikollaborateur, verließ Paris angesichts der nahenden Befreiung Mitte 1944. In seinem autobiografischen Roman „Norden“ taucht das „Brenners“ als „Simplon“ auf, das er lobte, weil es trotz Kriegszeiten einen hohen Luxus bot. „Man sollte später ja nicht behaupten, man hätte sich im Simplon-Hotel, ob im Krieg oder Frieden, jemals gehen lassen.“ Im November 1945 zog Alfred Döblin in das Hotel, um im Auftrag der französischen Regierung als Zensor zu arbeiten. Diese Geschichten kannte ich zuvor nicht, und sie tauchen in Texten zum Hotel selten auf. Es schmückt sich eben besser mit Gerhart Hauptmann oder Thomas Mann als mit Céline und Döblin. Das „Hotel Elefant“ in Weimar dagegen geht offen damit um, Adolf Hitlers Lieblingshotel gewesen zu sein.
Es diente sogar als Parteizentrale.
Hitler war es auch, der das ursprüngliche Hotel abreißen und durch einen Neubau ersetzen ließ. Das kann man sogar auf der Homepage nachlesen.
Manche Schriftsteller verbrachten so viel Zeit in Hotels, dass man meinen könnte: Die hatten gar kein Zuhause.
Hotels haben, ähnlich wie Bahnhöfe und Flughäfen, so eine Aura des Nichtfestgelegten. Das sind Transiträume, wo Dinge geschehen, die zu Hause nicht geschehen. Schriftsteller schätzen Diskretion und beobachten gern, sind fasziniert davon, nirgendwo richtig dazuzugehören. Sie fangen sofort an, sich Geschichten auszudenken: Warum schweigt sich dieses Ehepaar an? Wer trifft sich spätabends noch an der Hotelbar?
Kehren die Hotels ihre literarische Geschichte nach außen?
Sie sind klug beraten, das Marketing mit der literarischen Vergangenheit offensiv zu betreiben – besonders, wenn sich ein Zitat auf das Haus bezieht. Die Zahl der Kulturreisenden ist nicht zu unterschätzen. Lobende Worte oder der Aufenthalt eines großen Schriftstellers färben sogar auf den ganzen Ort ab: In Cabourg können Sie am billigsten Kiosk Proust-Biografien kaufen, weil der in dem französischen Seebad seine Sommerferien verbrachte.
Was passiert, wenn dem Schriftsteller ein Hotel mal nicht gefällt?
Dann wirbt das Hotel einfach trotzdem damit, wie das „Waldhaus“ in Sils-Maria im Falle von Thomas Bernhard, der es in einem kurzen Text verdammte. Wer behauptet nicht gern, einmal von Bernhard verunglimpft worden zu sein!
Sie stellen vor allem prunkvolle Paläste vor. Diesen Luxus konnten sich viele Schriftsteller gar nicht leisten.
Richtig. Oscar Wilde ist ein gutes Beispiel. Er wohnte zuletzt im „L’Hôtel“ in Paris – heute luxuriös, damals spartanisch. Dort starb der Dandy schließlich auch in Armut: „Ich sterbe über meine Verhältnisse“, soll er gesagt haben. Sehr viel Geld schuldete er dem Hotelier, der ihm großzügig vieles erließ.
Welches Hotel empfehlen Sie Schriftstellern, die zu einer Lesung ins Hamburger Literaturhaus kommen?
Ich mag die angenehme Unaufgeregtheit des „Wedina“. Es liegt um die Ecke in St. Georg, nahe der Alster. Die Autoren erwartet auf dem Zimmer eine Schreibmaschine der Marke „Princess 300“ mit eingespanntem Papier. Kein ernsthafter Schriftsteller kann sich so einer dezenten Aufforderung entziehen. Die Trägerin des Deutschen Buchpreises, Julia Franck, tippte auf ihr: „Am Wedina liebe ich die Stille, den weiten Blick nach hinten, die Treppen und den Beton in seinen verschiedenen Schattierungen.“
Und wo checken Sie am liebsten ein?
Mir sind Hotels am sympathischsten, die nicht an ihrer Größe ersticken und sich eine persönliche Note bewahren. So wie das von außen unscheinbare
Pariser „L’Hôtel“ oder das „Gabrielli“ in Venedig, wo Kafka einen Abschiedsbrief an seine Verlobte schrieb.