Um ihr Überleben zu sichern, haben Insekten in Sachen Optik zwei grundlegende Möglichkeiten. Option Nummer eins: Sie verschmelzen möglichst perfekt mit ihrer Umgebung. Dazu eignet sich beispielsweise ein scheckiger, graubrauner Look. Wer sich nicht von der Baumrinde abhebt, auf der er sitzt, wird seltener von hungrigen Vögeln entdeckt. Option Nummer zwei ist ein Kleid aus grellen Farben – knalliges Gelb, leuchtendes Rot, Warnwesten-Orange. Es signalisiert Feinden: Ich bin garstig und giftig. Die Färbung springt ins Auge und bleibt in Erinnerung.
Nun entscheiden sich Beutetiere natürlich nicht morgens vor dem Kleiderschrank für eine Strategie. Die natürliche Auslese wählt für die ganze Art, über viele Generationen hinweg und auf gewohnt rabiate Weise. Manche Individuen werden gefressen, andere überleben und pflanzen sich fort. Der Phänotyp verändert sich im Laufe der Zeit, je nachdem, welche Individuen ihre Erbanlagen in größerer Zahl weitergeben. So formt die Evolution Lebewesen, die bestmöglich an ihre ökologische Nische angepasst sind.
In der Welt der Insekten kommen Warnfarben und Tarnfarben gleichermaßen vor. Das legt nahe, dass jede Strategie ihre Vorzüge hat, je nach Umfeld und Lebenswandel. Bislang existierten hauptsächlich theoretische Überlegungen dazu, welche Faktoren eine Rolle spielen. Nun liefern Forschende erstmals handfeste Daten – durch ein Experiment in freier Natur, das 21 Untersuchungsgebiete auf sechs Kontinenten umfasste. Die Ergebnisse sind in der renommierten Fachzeitschrift "Science" erschienen.
Anstelle echter Insekten setzte das Team 15.000 Papiermotten dem Jagdtrieb der heimischen Vogelwelt aus. Dabei handelte es sich um kleine Dreiecke, die entweder in brauner Tarnfarbe gehalten, schwarz-orange oder schwarz-türkis gestreift waren. Die zwei Varianten des Warnmusters erlaubten den Test, ob jede auffällige Färbung abschreckend wirkte oder ob Vögel nur die häufige Kombination aus Schwarz und Orange mit ungenießbaren Schmetterlingen assoziierten.
Jedes Dreieck wurde gemeinsam mit einem appetitlichen Mehlwurm an Bäume in gemäßigten und tropischen Wäldern geheftet. Die große Bandbreite ökologischer Bedingungen ermöglichte es, mehrere Variablen gleichzeitig verlässlich zu überprüfen. In jedem Untersuchungsgebiet liefen acht ganztätige Versuche. Insgesamt wurde dabei gut ein Fünftel der Papiermotten von Vögeln attackiert.
Die Auswertung der Daten zeigte: Keine Überlebensstrategie war der anderen klar überlegen. Welche Färbung besser abschnitt, hing vielmehr vom Zusammenspiel mehrerer Faktoren ab. Wichtig war vor allem, wie viele räuberische Vögel in einem Gebiet lebten und wie eifrig sie jagten. Die Forschenden um Iliana Medina von der Universität Melbourne maßen eine höhere Bereitschaft, nach unappetitlich aussehenden Faltern zu picken, wenn die Nahrungskonkurrenz groß genug war. Unter diesen Umständen waren Papiermotten in Tarnoptik zunächst im Vorteil. Gleiches galt auch für schummrige Lichtverhältnisse, in denen sie besonders schwer zu entdecken waren. Allerdings wurden die Vögel im Laufe des Experiments besser darin, die Mauerblümchen aufzuspüren.
Warnfarben sind die stabilere Strategie
Nicht nur die Gemeinschaft der Räuber, auch die der Beutetiere hat Einfluss auf die Überlebenschancen. Je größer der Anteil der getarnten Insekten, desto ineffektiver wurde die Strategie. Für offensive Warnfarben, auch Aposematismus genannt, galt ein gegenteiliger Effekt. In Untersuchungsgebieten, in denen viele Beutetiere mit schrillen Mustern lebten, wurden die schwarz-orange gestreiften Papiermotten zu Beginn des Experiments etwas seltener attackiert. Die Vögel erkannten die typischen Signale und machten einen Bogen um die vermeintlich giftigen Falter. Bei den türkis gestreiften Attrappen waren sie weniger zurückhaltend.
Wider Erwarten hatten weder die Jahreszeit noch der Breitengrad Einfluss auf das Ergebnis. Das widerspricht der häufigen Annahme, dass bunt gefärbte Insekten in den Tropen generell im Vorteil sind. Während des Experiments attackierten Fressfeinde gestreifte Papiermotten in gemäßigten Regionen nicht häufiger als in Äquatornähe.
Wie gut eine Tarnstrategie wirkt, hängt also von verschiedenen Faktoren ab. Dennoch scheint offensiv signalisierte Ungenießbarkeit einen prinzipiellen Vorteil zu besitzen: "Unsere Ergebnisse legen die Hypothese nahe, dass Tarnung zwar weit verbreitet ist, jedoch eine weniger stabile Verteidigungsstrategie darstellt, die anfälliger für ökologische und anthropogene Veränderungen ist", schreiben die Forschenden. Wenn die Vögel geschickter im Aufspüren werden oder sich die Umgebung verändert, schmilzt der Überlebensvorsprung schnell dahin.
Andererseits ist die Jagd zwar ein mächtiges Werkzeug der natürlichen Auslese. Doch sie ist bei Weitem nicht der einzige Selektionsdruck, der auf Arten lastet. Eigenschaften, die der Flucht vor Jägern abträglich sind, helfen vielleicht bei der Suche nach Nahrung oder einem Partner. Oder sie helfen der Art, Widrigkeiten wie Hitze oder Dürre zu widerstehen. Das Geflecht aus evolutionären Faktoren ist verflixt verworren. Eine Tatsache, der wir die faszinierende Vielfalt der Natur verdanken.