Als der Londoner Leinenhändler und Naturforscher John Ellis 1768 dem botanischen Großmeister der damaligen Zeit, Carl von Linné, von einer fleischfressenden Pflanze berichtete - es handelte sich um die Venusfliegenfalle -, reagierte dieser ungehalten: Das verstoße "gegen die gottgewollte Ordnung der Natur". Das gebe es nicht. Basta.
Dass die biblische Hierarchie durch das karnivore Grünzeug verletzt wird, irritiert uns heute nicht mehr. Im Gegenteil: "Fleischis", wie ihre Fans die Fleisch verdauenden Gewächse liebevoll nennen, strahlen, weil sie aus der üblichen Ordnung ausbrechen, offenbar eine besondere Anziehungskraft aus. Mit welchen Tricks die rund 600 Arten ihre Beute ködern, welch raffinierte Fallen sie entwickelt haben, lässt staunen.
Zum Beispiel die Kannenpflanzen aus der Gattung Nepenthes, die mit gut 100 Spezies in den Regenwäldern von Madagaskar bis Neuguinea wachsen, in besonders großer Vielfalt auf Borneo. Sie formen profane Blätter zu extravaganten Gefäßen um, botanischen Preziosen, in denen saurer Verdauungssaft schwappt. Abgesehen haben sie es damit insbesondere auf Ameisen, die in tropischen Wäldern allgegenwärtigen Krabbler.
Mit Nektar locken sie die Insekten auf den Rand der Fangkanne. Und damit ist deren Schicksal meist besiegelt. Denn der Kannenrand ist spiegelglatt - dank einer genialen Mikrostruktur: Die Pflanzenzellen sind hier treppenartig angeordnet, wobei die Stufen zum Inneren der Falle hin abfallen. Dadurch finden die Klauen der Ameisen keinen Halt. Außerdem ist die Oberfläche des Randwulstes von einer dünnen Wasserschicht überzogen, auf der die Tierfüße die Bodenhaftung verlieren wie ein Autoreifen beim Aquaplaning. Dass sich der Rutschfilm bildet, können die Pflanzen sogar in Maßen steuern: Ihr zuckriger Nektar ist hygroskopisch, er zieht Feuchtigkeit aus der Luft an.
Ist die Beute abgestürzt, greift Fangmechanismus Nummer zwei: Winzige Wachskristalle auf der Innenwand der Falle verhindern, dass das Opfer wieder entkommt. Die Kriställchen brechen ab und verkleben die Haftkissen an den Insektenfüßen. Es gibt mithin nur eine Richtung: abwärts.
Es gibt auch Bündnisse
Einige Nepenthes-Arten erweisen sich als erstaunlich kooperativ und zeigen damit einmal mehr den "Einfallsreichtum" der Evolution, der verblüffende Lösungen im Überlebenskampf hervorbringt. In diesem Fall für das Problem des chronischen Mangels an Nährstoffen wie Stickstoff und Phosphor im Lebensraum der "Fleischis".
Einem überraschenden Pakt zwischen Pflanze und Tier kam Ulmar Grafe von der Universität Brunei Darussalam in einem Sumpfwald auf der Insel Borneo auf die Spur. Gemeinsam mit Studenten suchte der Froschexperte in den Fangbechern fleischfressender Pflanzen nach Kaulquappen. Denn Amphibien nutzen diese Miniatur-Gewässer bemerkenswerterweise zum Laichen. Aber statt auf Froschnachwuchs stießen die Biologen auf einen anderen Gast: In den ungewöhnlich langen und schlanken Krügen der Art Nepenthes hemsleyana steckte eine kleine Fledermaus: mit dem Namen Hardwickes Wollfledermaus.
Der nur knapp vier Zentimeter große Säuger schläft, den Kopf nach unten, tagsüber in den Fangkannen, so geschützt vor Räubern und intensiver Sonneneinstrahlung. Dank der lang gezogenen Form der Kanne finden sogar Mütter mit einem Jungtierdarin Platz. Und damit die Tiere keine nassen Ohren bekommen, hat die Pflanze den Pegel ihres Verdauungssafts zum Schutz der ohnehin schwer verdaulichen Gäste deutlich gesenkt.
Aber keine Leistung ohne Gegenleistung. Für die Bereitstellung des Schlafplatzes erhält die Pflanze: Kot. Rund ein Drittel des Stickstoffs in ihren Blättern stammt aus den Exkrementen der Untermieter. Sie fängt zwar weiterhin Insekten, aber indem sie sich als Tierlatrine anbietet, hat sie eine neue Nährstoffquelle erschlossen und sich zumindest teilweise der Konkurrenz um die Ameisen entzogen.