Anzeige
Anzeige

Interview: Die Kunst des Liebens

Warum Beziehungen zu anderen Menschen so wichtig sind

Inhaltsverzeichnis

GEO WISSEN: Herr Professor Sedmak, wie würden Sie, auf eine Formel gebracht, die Frage beantworten, wann ein Leben als sinnvoll, als geglückt betrachtet werden kann?

Professor Clemens Sedmak: Es ist auf jeden Fall ein Leben, das ich selbst gestalte. Bei dem ich die Aufgaben, die es an mich heranträgt, bestmöglich erfülle. Dafür brauche ich niemanden, der mir eine Anleitung in die Hand drückt, keinen großen Überbau. Denn ich kann den Lebenssinn nicht suchen, ich kann ihn nur finden.

Wie ist das konkret vorstellbar?

Man muss in jeder Situation wach sein. Eine gute Übung ist es auch, sich folgende Fragen zu stellen: Was gibt mir Kraft? Aus welchen Quellen lebe ich? Die wenigsten Menschen würden auf diese Fragen Stichworte wie fernsehen, gutes Essen, schöne Urlaube und andere Formen des Müßiggangs nennen. Kraft schöpfen wir aus einer Tätigkeit, die befriedigt, aus Begegnungen mit Menschen, die uns nahe sind, aus dem Dienst an einer Sache, von der wir überzeugt sind, durch Verantwortung und Sorge für Partner, Kinder, Verwandte.

Sie plädieren also dafür, sich vor allem mit den Beschwerlichkeiten des Lebens auseinanderzusetzen?

Für mich ist der hochsinnige Mensch jener, der nach einem Leben strebt, das von Tiefe und klaren Kon­turen gekennzeichnet ist. Er sollte im besten Fall ein Leben führen, das er empfehlen und rechtfertigen kann, das eine Richtung hat, das in einer zusammenhängenden Geschichte erzählt werden kann. Es ist ungemein sinnstiftend, wenn man weiß, wofür es sich zu leben lohnt, wenn man weiß, was einen begeistert. Allerdings kann das mitunter recht anstrengend sein.

Das heißt aber vermutlich auch, dass ein sinnvolles Leben nicht zwangs­läufig auch ein glückliches Leben ist – und ein ausschließlich glückliches Leben kaum ein sinnvolles sein kann.

Es gibt Überschneidungen, aber die beiden Ebenen sind keineswegs deckungsgleich. Glück hat zudem viele Facetten: Es gibt das Wohlfühlglück, da ist alles schön weich und kuschelig, da ist man im Wellnessbereich des Lebens, aber auf die Dauer ist es höchst unbefriedigend. Dann gibt es das Anstrengungsglück, das wir hier in Österreich oft mit dem Bergsteigen in Verbindung bringen, dafür muss man sich quälen, wird aber auch belohnt. Außerdem finden wir das Dankbarkeitsglück, wenn uns etwas Gutes zustößt. Das Redlichkeitsglück, das sich einstellt, wenn ich etwas Richtiges und Wichtiges für andere getan habe – und noch einige andere Formen von Glück. Wenn von all dem etwas vor­ handen ist, dann bin ich auf einem guten Weg, dann kann ich Ja zum Leben sagen. Das kommt einem sinnvollen Leben schon recht nahe.

Beziehungen und Begegnungen sind entscheidend für die Sinnfindung, so Clemens Sedmak. Weil sich darin ein "Ja" zum Leben ausdrücke. Doch diese sozialen Netze verlören in der modernen Welt an Kraft
Beziehungen und Begegnungen sind entscheidend für die Sinnfindung, so Clemens Sedmak. Weil sich darin ein "Ja" zum Leben ausdrücke. Doch diese sozialen Netze verlören in der modernen Welt an Kraft
© Armin Smailovic/Agentur Focus

Ein sinnerfülltes Leben wäre demnach nicht unbedingt ein Leben, in dem es um den einen großen Sinn geht?

Man sollte in der Sinnfrage nicht größenwahnsinnig werden, keine maß­losen Bedürfnisse entwickeln. Man sollte vielmehr um geglückte Tage wissen. Einen Tag nach dem anderen leben, jeden Tag füllen und ehren, jeden Tag als einen ganz besonderen sehen. Das Leben ist für mich wie ein Haus, an dem wir ständig bauen. Ein Haus mit Fundament und festen Mauern, ein Haus, in dem Menschen ein und aus gehen, mit vielen kleinen Hoffnungen, die uns tragen.

Das klingt sehr bescheiden.

Mein vor einiger Zeit verstorbener Vater hat zu seinem 70. Geburtstag eine Ansprache gehalten, von seiner schrecklichen Kindheit erzählt, die Eltern ge trennt, das Kind ins Internat abge­schoben, nur wenige Lichtblicke in den Sommerferien in Osttirol. Und dann hat er gesagt: Wenn du unter einem fried­lichen Dach zusammengelebt hast, mit einem freundlichen Gruße am Morgen und zur Nacht, merken viele zu spät, dass das Füllhorn des Glücks damit weit geöffnet war. Das ist schon eine tiefe Beobachtung, denn vieles Gute nehmen wir so selbstverständlich hin.

Was sind für Sie die entscheidenden Sinninhalte, um von einem gelungenen Leben sprechen zu können?

Ganz wichtig sind Beziehungen und Begegnungen. Dazu gehören solche im kleinen und intimen Bereich genauso wie im loseren Rahmen. Also auf der einen Seite die Beziehung zum Partner, zu Kindern, zur Familie, zu Freunden, aber eben auch die zu Kollegen. Darin drückt sich ein Ja zum Leben aus. Wem es nicht gelingt, ein stabiles Beziehungsgeflecht aufzubauen, der leidet. Und so ist die Einsamkeit ja eine der großen Wunden unserer Gesellschaft.

Warum sind heute so viele einsam?

Einsamkeit erscheint mir als Krankheit, als Zivilisationskrankheit sozusagen. Ein Preis, den wir für das schnelle und unbeständige, technologie-unterstützte und leistungsorientierte Leben zahlen. Soziale Netze verlieren an Kraft, weil die Bindungskraft in Beziehungen abnimmt. Dazu kommen Mobilität und Flexibilität, die den Fluch unterspülter Beziehungen mit sich bringen.

Kann jemand, der sich ständig einsam fühlt, ein sinnerfülltes Leben führen?

Da ist zu unterscheiden zwischen einer Einsamkeit, die im Englischen mit dem Begriff loneliness bezeichnet wird, und jener Form, auf die das Wort soli­tude zutrifft. Loneliness trifft jene Menschen, die bei der Telefonseelsorge anrufen, weil sie das Alleinsein nicht länger aushalten, für die jedes Wochenende, jedes Weihnachten, jedes Ostern eine große Qual ist; das geht häufig mit Symptomen von Depressivität einher. In der Solitude hingegen besinnt der Einzelne sich auf sich selbst, hält es mit sich aus, ist vielleicht sogar in der Lage, als Maler, Schriftsteller oder Musiker große Werke zu erschaffen. Das wiederum kann sehr sinnstiftend sein.

Welche Rolle spielt die Arbeit grundsätzlich? Macht es einen großen Unterschied, ob ich einer intellektuell anspruchsvollen Tätigkeit nachgehe oder in der Fabrik am Fließband stehe?

Die Berufstätigkeit ist mitentscheidend für den Lebenssinn. In der Arbeitslosigkeitsforschung sagt man, wenn ein Mensch einen Job verliert, verliert er viel mehr als nur sein Gehalt – er verliert einen Großteil seines sozialen Umfeldes. Freundschaften resultieren oft aus Arbeitsverhältnissen und nicht zuletzt auch Partnerschaften und Ehen. Die gelingende Lebensführung, wie schon Aristoteles sie verstand, besteht zu einem wichtigen Teil in einer sinnerfüllten Tätigkeit, in der jeder Einzelne seine in ihm schlummernden Potenziale verwirklichen kann. Dabei kommt es weniger auf die Art der Arbeit an als auf die Gesinnung, mit der man sie ausübt. Selbst häusliche Routinetätigkeiten können dem Leben Halt geben, wir sollten sie nicht gering schätzen: Bettenmachen, Staubsaugen, Einkaufengehen – das sind alles kleine Bausteine, die zeigen, dass man sich dem Leben verbunden fühlt.

Es sind nicht immer die großen Tätigkeiten, die sinnerfüllend sein müssen, sagt Sedmak. Manchmal gehe es einfach nur um das Da-Sein, etwa einem Sterbenden die Hand zu halten und ihn zu begleiten
Es sind nicht immer die großen Tätigkeiten, die sinnerfüllend sein müssen, sagt Sedmak. Manchmal gehe es einfach nur um das Da-Sein, etwa einem Sterbenden die Hand zu halten und ihn zu begleiten
© Armin Smailovic/Agentur Focus

Sagt sich das nicht ein wenig leicht, wenn man Wissenschaftler ist und einer kreativen Tätigkeit nachgeht?

Ich bin da einer Meinung mit dem Dalai Lama und jenen Psychologen, die sagen, dass über das Glück bei der Arbeit vor allem die innere Einstellung entscheidet – und was man an konkreten kleinen Schritten unternimmt, um Befriedigung in seiner Tätigkeit zu finden. Man kann sich beispielsweise jeden Tag ein kleines Projekt vornehmen: Auch wenn ich am Fließband stehe, gibt es ja Arbeitspausen, in denen ich mit einem Kollegen ins Gespräch kommen kann, den ich noch nicht so gut kenne. Oder die griesgrämige Rezeptionistin, die werde ich morgen anlächeln und mit einem freundlichen Satz bedenken. Papst Johannes XXIII. hat als junger Mann in sein Tagebuch geschrieben: "Alles Gewöhnliche, aber nicht auf gewöhnliche Weise." Damals war er Gesandter des päpstlichen Stuhls in Bulgarien, saß dort jahrelang auf einem unwichtigen Posten und wusste nicht so recht, was er dort sollte. Aber er hat die Herausforderung angenommen.

Schon der Kontakt mit anderen Men - schen trägt also dazu bei, das Leben als bereichernd zu empfinden?

Lebenszufriedenheit ist eher den Tätigen und Eifrigen gegeben als den Trägen und Faulen. Zufriedene Menschen gestalten ihr Leben selbst. Sie treffen Entscheidungen und sind nicht nur Opfer der Verhältnisse.

Das gesamte Interview lesen Sie in der neuen Ausgabe von GEO WISSEN "Was gibt dem Leben Sinn?".

Zurück zur Übersicht

GEO WISSEN Nr. 53 - 05/14 - Was gibt dem Leben Sinn?

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel