GEO: Mr. Pigott, Sie zählen zu den wichtigsten Weinkritikern und haben sicherlich einen sehr ausgeprägten Geschmackssinn.
Stuart Pigott: Keineswegs, das ist schlicht langjährige Übung. Geschmacksnuancen differenziert wahrzunehmen -das ist bei mir nicht angeboren, ich habe es erlernt.
Was zeichnet denn einen Wein mit gutem Geschmack aus?
Wenn er Ihnen schmeckt, dann hat er einen guten Geschmack für Sie. Punkt. Objektivität gibt es da nicht, das ist eine Illusion. Geschmäcker sind bekanntlich sehr verschieden.
Wir hatten erwartet, dass Sie als Experte uns sagen, was guter Geschmack bei Wein ist.
Sie überschätzen mich. Ich kann Weine charakterisieren, und ich spreche Empfehlungen aus, welchen Wein man gut trinken kann. Und im besten Fall können das dann viele Menschen nachvollziehen.
Das klingt fast so, als ob Sie sich an einem Durchschnittsgeschmack orientierten.
Der Begriff klingt negativ, aber es bringt ja nichts, wenn ich irgendwelche Geschmacksextreme empfehle, die kaum jemand mag. Für mich ist die Harmonie, die Ausgewogenheit eines Weins wichtig. Das bedeutet, dass kein tragendes Element dominant ist, also weder Säure noch Süße noch Alkohol.
Können Sie das etwas genauer beschreiben?
Rein sachlich betrachtet, ist Wein eine Wasser-Ethylalkohol-Lösung mit zahllosen Inhaltsstoffen. Wichtig für den Geschmack ist die Säure, die braucht jeder Wein für seine Harmonie, damit er frisch und animierend schmeckt. Aber zu viel davon macht ihn schlicht sauer. Die Gerbstoffe, die Tannine, sind ebenfalls sehr prägend. Sie geben vor allem den Rotweinen Kraft, Schwere und Wärme. Wenn sie jedoch überhandnehmen, schmeckt der Wein wie abgestandener Tee, da zieht es einem den Mund zusammen.
Das mag niemand.
Viele Weintrinker bevorzugen fruchtige Aromen, einen nicht zu säurebetonten Geschmack und wenig Gerbstoffe. Ein Weißburgunder etwa ist im Vergleich zu einem schweren Rotwein
arm an Tanninen. Es gibt jedoch Menschen, oft Weinfachleute, die ausgesprochen gerbstoffhaltige Weine schätzen, weil sie sich daran gewöhnt haben. Gewohnheit spielt bei geschmacklichen Präferenzen eine große Rolle.
Das heißt, man kann sich auch bei Weinen an Geschmacksrichtungen anpassen, ähnlich wie Menschen erst nach und nach den bitteren Kaffeegeschmack schätzen lernen?
Genauso ist es – ob nun bei Espresso, Radicchio, Wasabi oder eben bei Weinen. Ich selbst mag zum Beispiel in der richtigen Stimmung und zum passenden Essen sehr gern einen schweren und eigenwilligen Rotwein aus Georgien namens Saperavi, der in Tongefäßen vergoren wird. Den würde ich allerdings niemals allgemein empfehlen.
Weshalb nicht?
Das ist ein extremer Geselle. Bei ihm bleiben die Schalen, das Fruchtfleisch und der Traubensaft bis zu zwölf Monate in der Maische, der Wein ist am Ende extrem reich an Gerbstoffen. Den kann ich allenfalls mit einem Warnhinweis anbieten: Wenn Sie tanninbetonte Weine wie einen roten Bordeaux oder einen Nebbiolo aus dem Piemont mögen, dann kann es sein, dass auch der Georgier Ihnen zusagt.
Welche Rolle spielt der Alkoholgehalt beim Wein?
Er gibt vielen Weinen einen wichtigen Teil des Rückgrats. Zudem ist er Geschmacksträger, er bringt auch Süße mit. Aber hier gilt ebenfalls: Zu viel ist nicht gut. Bei 15 oder mehr Volumenprozent kann es brennen am Gaumen, der Wein schmeckt dann spritig.
Seit einigen Jahren hört man in Restaurants oft Sätze wie „Ich möchte einen Rotwein, aber trocken muss er sein!“. Gibt es dafür eine Erklärung?
Das hat mit Moden zu tun. Die gibt es beim Weintrinken genauso wie bei anderen Kulturgütern. Allerdings ist es ein Unterschied, was die Menschen anderen über ihren Geschmack mitteilen – und was sie tatsächlich mögen. Das stellt sich heraus, wenn sie verschiedene Weine mit verdeckten Etiketten verkosten: Die meisten Menschen ziehen dann halbtrockene oder feinherbe Weine den trockenen eindeutig vor.
Wie ist es zu diesen Vorlieben gekommen?
Der deutsche Wein war in den 1980er Jahren meist süßlich und von minderer Qualität. Es gab diverse Weinskandale, vor allem jene mit dem als Süßungsmittel zugesetzten Glykol, das Verbraucher eher als Frostschutzmittel für Autos kannten.
Der Weintrinker erwartete dagegen ein Naturprodukt.
Das ist jedoch eine naive Erwartung: Wein ist nun mal ein Kulturprodukt. Das beginnt mit den Reben, die in Reihen gepflanzt, gedüngt und mit Spritzmitteln vor Krankheiten geschützt
werden, und endet beim Herstellungsprozess mit dem Zusatz von Sulfiten als notwendigen Konservierungsstoffen. Wein sollte ein qualitativ möglichst hochwertiges Kulturprodukt
sein - die tiefliegende Sehnsucht nach Natürlichkeit aber kann er nicht erfüllen.
Auch Biowein nicht?
Sie als Kunde trinken vermutlich oft Biowein, wissen es aber nicht: weil zahlreiche Winzer längst auf Bio umgestellt haben, also auf chemische Stickstoffdünger und chemische
Pflanzenschutzmittel verzichten, ohne es extra auf dem Etikett zu vermerken. Denn sie wollen sich nicht über ein Biosiegel definieren, sondern über die Qualität ihres Produkts.
Wie wirkt sich neben all den anderen Faktoren der Boden auf den Wein aus? Wenn die Rebe auf Schiefer wächst, schmeckt man dann Schiefer im Wein?
Das ist eine hochkomplexe Angelegenheit. Nehmen wir die Traubensorte Riesling. Die reagiert stark auf den Boden. Welche Stoffe das aber genau sind, die in die Traube geraten, weiß man nicht. Es ist nicht etwa so, dass Wein auf kalkhaltigem Boden automatisch mehr Kalzium enthält.
Andererseits können schon in einer einzigen Lage, also auf geografisch kleinem Raum, geschmacklich unterschiedliche Weine aus der gleichen Traubensorte entstehen, je nach Untergrund. Jeder, der mehrere Gläser mit den jeweiligen Weinen vor sich hat, wird das erschmecken - nicht nur ein Fachmann.
Wie wichtig ist es, den Wein auch zu riechen?
Man sollte ihn auf jeden Fall im Glas schwenken, um die Aromastoffe freizusetzen und sie besser zu riechen. Die Wahrnehmung dieser Aromen findet vor allem in der Nase statt. Und erst im Gehirn werden die Eindrücke von Nase und Zunge zu jenem Erlebnis verarbeitet, das wir "Geschmack" nennen.
Welche Rolle spielt die Glasform?
Eine wichtige. Die Faustregel ist: Leichtere Weine vertragen eher Gläser mit kleinerer Öffnung, in einem großen Glas sind sie verloren. Kräftige Weine mit intensiven Aromen können sich besser in einem Glas mit großer Öffnung entfalten.
Und die Temperierung?
Weißwein sollte auf zehn bis elf Grad Celsius gekühlt sein, Rotwein auf 17 bis 18 Grad. Häufig wird er zu warm angeboten, weil die Leute meinen, er solle bei Zimmertemperatur serviert werden. Das bezieht sich aber auf die Zeit vor dem 20. Jahrhundert, nicht auf unsere heutigen, überheizten Räume. Wenn Rotwein zu warm ist, schmeckt man den Alkohol deutlicher, das verdrängt andere Aromastoffe. Weißwein schmeckt erfrischender, wenn man ihn kalt trinkt, aber er lässt sich auch bei Rotweintemperatur genießen.
Den zweiten Teil des Interviews lesen Sie in GEO WISSEN Ernährung Nr. 3 "Genuss erleben, Qualität erkennen". Darin verrät Stuart Pigott, ob man Wein besser liegen oder stehend lagert und gibt Tipps, wie Sie Ihren Weingeschmack verfeinern können.