Gehirnjogging für Anfänger geht beispielsweise so: Auf einem Computerbildschirm tauchen drei Punkte auf. Eine Linie erscheint und verbindet den ersten mit dem zweiten Punkt, knickt ab und verknüpft den zweiten mit dem dritten Punkt. Nach wenigen Sekunden verschwindet die Linie wieder. Die Aufgabe besteht nun darin, den Weg der Linie aus dem Gedächtnis nachzuvollziehen – dazu müssen die Punkte in der richtigen Reihenfolge mit der Computermaus angeklickt werden. Bei drei Punkten ist dies problemlos möglich. Doch spätestens, wenn sieben oder acht Punkte auftauchen, wird es knifflig. Die Linien ziehen sich kreuz und quer über den Bildschirm; die Zeit, um sich das entstehende Gebilde zu merken, ist kurz. Wenn das Liniengewirr wieder verschwindet, erinnert man sich vielleicht noch an die ersten drei oder vier Verbindungen – doch der Rest lässt sich partout nicht mehr wachrufen. Diese Übung mit dem Namen „Pfadfinder“ ist Teil eines Gehirn-Trainingsprogramms, das auf einer Website angeboten wird. Sie soll die „Merkfähigkeit“ und die „räumliche Aufmerksamkeit“ steigern, wie es dort heißt. Weitere Trainingsaufgaben bestehen darin, zu einem Geldbetrag das passende Wechselgeld zu finden, einfache Aufgaben in den Grundrechenarten zu lösen, Zahlenreihen zu vervollständigen, Muster zu vergleichen, aus einem Haufen Buchstaben ein Wort zu bilden oder Farbbezeichnungen einander zuzuordnen – ohne sich davon verwirren zu lassen, dass die Schriftfarbe und die Bedeutung der Wörter meist nicht übereinstimmen.
Denksport soll durchaus Spaß machen - und das Denkorgan wie einen Muskel ertüchtigen
Die Aufgabenfolgen sind so gestaltet, dass der Anspruch kontinuierlich zunimmt, nach und nach kann man zudem höhere Levels erreichen. Bei den Rechenaufgaben werden zum Beispiel die Zahlen größer und schließlich teils durch Symbole ersetzt – man muss sich also zusätzlich merken, welches Symbol für welche Zahl steht. In den anderen Übungen werden die Muster komplizierter, die gesuchten Wörter länger. Langeweile soll zu keiner Zeit aufkommen, der Denksport durchaus Spaß machen. Die Computerspiele sind allerdings nicht nur dazu gedacht, die Zeit zu vertreiben – glaubt man dem Anbieter, sollen sie wahre Wunder bewirken: Auf einer Website heißt es, dass sie die Denkgeschwindigkeit des Spielers, seine Konzentration, das logische Denken sowie andere geistige Fähigkeiten verbessern. Insgesamt könne das tägliche Training die „Gehirnleistung“ um bis zu 40 Prozent steigern. Dies, so beteuert das Online-Unternehmen, das mit einem kostenpflichtigen „Premium-Angebot“ Geld verdienen will, zeigten auch Studien renommierter Wissenschaftler. Häufig werden Übungen fürs Gehirn insbesondere für ältere Menschen empfohlen: Wer das Denkorgan wie einen Muskel ertüchtige, der könne den natürlichen Abbau der geistigen Fähigkeiten im Alter aufhalten oder zumindest verzögern. Gerade individuelles Gedächtnistraining helfe dabei, lange geistig fit zu bleiben und im Alltag besser klarzukommen. Selbst das Risiko von Demenzerkrankungen wie Alzheimer, behaupten einige Anbieter, ließe sich durch gezieltes kognitives Training verringern.
Gehirnjogging - ein Milliardengeschäft
Kein Wunder also, dass das Geschäft mit den Übungen boomt. Marktforschern zufolge hat sich der Umsatz digitaler Gehirnjogging-Angebote weltweit zwischen 2005 und 2013 mehr als versechsfacht – von 210 Millionen auf 1,3 Milliarden Dollar. Die Hersteller verdienen also gut an den Trainingsprogrammen. Und sie ersinnen immer neue Angebote. So gibt es inzwischen auch Online- Kurse und CD-ROMs sowie Apps und Anwendungen für Spielekonsolen. Die meisten Produkte funktionieren ähnlich wie das Trainingsprogramm, zu dem das Spiel „Pfadfinder“ gehört: Unterschiedliche geistige Fähigkeiten sollen durch bestimmte Aufgaben gestärkt werden, der Schwierigkeitsgrad passt sich automatisch dem Lernfortschritt an. Einzelne Anbieter locken Kunden auch mit der Aussicht, die eigene Wahrnehmung zu schärfen. Entsprechend geht es in manchen Übungen etwa darum, bestimmte Objekte auf dem Bildschirm möglichst schnell zu erkennen oder Töne zu unterscheiden. Und selbst wenn man keine Lust auf elektronisches Gehirntraining verspürt, lässt sich dem erlahmenden Geist auf die Sprünge helfen – ganz klassisch mit Papier und Bleistift. Bücher und Hefte bieten Logikrätsel, Knobelaufgaben und Suchspiele an, mit denen zum Beispiel Konzentration, Gedächtnis oder räumliches Denken verbessert werden sollen.
Aber sind die Werbeversprechen der Gehirnjogging-Anbieter berechtigt? Lassen sich allgemeine geistige Fähigkeiten wie das Gedächtnis oder das schlussfolgernde Denken tatsächlich gezielt durch spielerische Aufgaben mit oder ohne Computer stärken – so, wie man Muskeln durch Krafttraining aufbaut? Ist das Geld für Apps, Software oder Rätselhefte mithin genauso sinnvoll angelegt? Sicher ist: Anders als lange gedacht bleibt die Fähigkeit des Gehirns, sich zu entwickeln, auch im Alter erhalten. Zwar lässt die Denkleistung bei jedem Menschen mit den Jahren nach. Die Hirnsubstanz schrumpft ganz allgemein, wenn man älter wird, die Weitergabe von Signalen zwischen den Nervenzellen erfolgt zusehends langsamer, und das Denkorgan insgesamt wird schlechter durchblutet. Natürlich erfassen diese Prozesse auch jene Regionen, die etwa für das Lernen, das Gedächtnis oder andere komplexe geistige Aufgaben wichtig sind – so zum Beispiel der präfrontale Kortex, der zum Stirnlappen der Großhirnrinde gehört, oder der Hippocampus im Schläfenlappen. Die Folge: Viele ältere Menschen können sich Daten und Fakten schlechter einprägen, Zusammenhänge nicht mehr so rasch erfassen und haben größere Mühe, neues Wissen abzuspeichern. Doch auch wenn die Leistung des Gehirns insgesamt nachlässt, bleibt es, so haben Hirnforscher herausgefunden, ein Leben lang wandlungsfähig und formbar (plastisch). So können auch im Alter noch neue Nervenzellen sprießen, sich neue Verknüpfungen zwischen den Neuronen bilden oder gar manche Areale wieder größer werden. Besonders eindrucksvoll demonstrierte dies die Hirnforscherin Eleanor Maguire vom University College London in einer Studie von 2011. Die Neurowissenschaftlerin, die sich seit Jahren mit dem menschlichen Gedächtnis beschäftigt, untersuchte 79 angehende Taxifahrer (viele davon bereits älter als 40). Unter anderem bat sie die Probanden zu Beginn sowie am Ende ihrer mindestens drei Jahre dauernden Taxi-Ausbildung zu einem Gehirnscan per Magnetresonanztomographie, der die Größe und Struktur der einzelnen Hirnareale sichtbar macht.
Dabei hielt sie vor allem die jeweiligen Ausmaße des Hippocampus fest – jener Region, die maßgeblich für das episodische Gedächtnis zuständig ist, in dem erlebte Situationen und Erfahrungen abgespeichert werden, aber unter anderem auch für die großräumliche Orientierung. Wie sich zeigte, hatte sich bei jenen Kandidaten, die alle Abschlussprüfungen bestanden hatten, die Hirnsubstanz im hinteren Teil des Hippocampus deutlich vergrößert – bei jenen Fahrern, die die Ausbildung abbrachen oder durch die Prüfungen fielen, dagegen nicht. Damit gelang es der Forscherin, überzeugend nachzuweisen, dass Lernen – in diesem Fall das Zurechtfinden in Londons Straßengewirr – zu einem strukturellen Umbau des Gehirns führt.
Der aktive kognitive Lebensstil kann Demenz vorbeugen
Dank dieser neuronalen Plastizität kann man sich auch als älterer Mensch noch komplexe Fertigkeiten aneignen, etwa eine neue Sprache oder ein Musikinstrument erlernen (wenn man auch nie die gleiche Perfektion erlangt wie jemand, der damit schon als Kind begonnen hat). Studien haben überdies gezeigt: Wer in Ausbildung, Beruf und Freizeit über Jahrzehnte geistig aktiv ist, wer zudem ein intensives soziales Leben pflegt und körperlich in Bewegung bleibt, der scheint einen gewissen Schutz vor dem geistigen Verfall zu genießen. Forscher sprechen von einem „aktiven kognitiven Lebensstil“, der sich schon durch einfache Tätigkeiten wie Radiohören, Puzzeln oder Museumsbesuche auszeichnen kann und möglicherweise sogar das Risiko verringert, an Demenz zu erkranken.
Die Wissenschaftler vermuten, dass man sich durch lebenslange geistige Herausforderungen gewissermaßen eine „kognitive Reserve“ im Gehirn aufbauen kann, eine Art neuronales Polster. Ein Gehirn mit mehr und komplexeren Nervenverbindungen vermag offenbar auch dann funktionstüchtig zu bleiben, wenn aufgrund von Alterungsprozessen nach und nach gewisse Ausfälle auftreten. Doch inwieweit gezielte Denksportübungen eine geeignete Methode sind, den mentalen Abbau aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen, ist derzeit noch weitgehend unklar.
Zwar haben Forscher in den vergangenen Jahren zahlreiche Studien vorgelegt, in denen sie die Wirksamkeit von Gehirnjogging überprüfen und zum Teil auch zu positiven Ergebnissen kommen. Deren Aussagekraft ist allerdings fast durchgängig nicht besonders hoch. Denn etliche Untersuchungen haben schlicht gemessen, was ohnehin offensichtlich ist: dass die Probanden, sofern sie nur oft genug üben, die Fertigkeit verbessern können, mit der sie bestimmte Aufgaben meistern.
Wer nur auf Gehirnjogging vertraut, vergibt Chancen
Niemand bestreitet, dass man seine Leistung in Spielen wie „Pfadfinder“ bereits nach kurzem Training merklich erhöhen kann. Statt nur Verbindungen zwischen vier oder fünf Punkten zu erinnern, gelingt es zumeist nach ein paar Durchläufen, Gebilde aus sechs oder sieben Linien nachzuzeichnen, wer längere Zeit übt, kann oft noch etliche mehr schaffen. Dieser Fortschritt beruht auf einem relativ einfachen Lernprozess – man durchschaut nach einiger Zeit den Aufbau der Übung, man weiß, worauf man seine Aufmerksamkeit richten muss, entwickelt besondere Strategien, um sich die Linien auf dem Bildschirm einzuprägen. Es stellt sich aber die Frage, ob durch die Trainingserfolge die Gedächtnisleistung insgesamt zugelegt hat.
Wer sehr gute Leistungen bei einem Merkspiel erreicht, womöglich bei ähnlich strukturierten Übungen ebenfalls gut abschneidet, erinnert sich nicht automatisch auch im Alltag besser an Gesichter, Einkaufslisten oder Geheimnummern. Der wissenschaftliche Nachweis, dass einzelne Fertigkeiten, die etwa durch das Einüben bestimmter Denksport-Aufgaben erlangt werden, eine allgemeine kognitive Fähigkeit wie Gedächtnis oder schlussfolgerndes Denken stärken können, ist bislang jedenfalls nur ansatzweise gelungen.
Immerhin sind sich viele Forscher darin einig, dass für das Training derartiger Fähigkeiten vor allem solche Aufgaben geeignet sind, die den Geist permanent und möglichst vielfältig herausfordern. Computerübungen, die das Entwickeln immer neuer Strategien verlangen, bieten demnach größere Chancen, die Leistungsfähigkeit des Denkorgans zu fördern, als etwa Rätselformate wie Sudoku, die sich nach einer Weile weitgehend automatisiert lösen lassen. Ernst zu nehmende Studien zeigen jedoch: Selbst für kleine Erfolge muss man lange üben.
Bei einem Versuch des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin absolvierten mehr als 200 Testpersonen unterschiedlichen Alters (je zur Hälfte junge Erwachsene und über 65-Jährige) rund 100 einstündige Trainingssitzungen am Computer, deren Wirkung auf bestimmte kognitive Leistungen durch standardisierte Tests gemessen wurde. Geschult wurde unter anderem mit Übungen zur Wahrnehmungsgeschwindigkeit, bei der es darum geht, wie rasch ein Mensch Formen oder Symbole erkennt. So mussten die Teilnehmer beispielsweise innerhalb von Millisekunden auf dem Bildschirm erkennen, ob eine Zahl gerade oder ungerade ist, eine Form symmetrisch oder asymmetrisch.
Ein weiterer Bereich umfasste Aufgaben, die das episodische Gedächtnis ansprechen, also etwa die Fähigkeit, sich Ereignisfolgen zu merken. Hierfür sollten die Teilnehmer 36 Begriffe, die ihnen nacheinander für kurze Zeit angezeigt wurden, möglichst vollständig und in der gleichen Reihenfolge wiedergeben. Zudem wurden auch Übungen zum Arbeitsgedächtnis trainiert, das dafür zuständig ist, dass wir verschiedene Informationen im Geist kombinieren können. Eine bestand darin, bei einer Folge von Punkten, die kurz an wechselnden Positionen auf dem Bildschirm erscheinen, jeweils zu bestimmen, ob der aktuelle Punkt an der gleichen Position aufgetaucht ist wie der drei Schritte zuvor.
Vor und nach der Trainingsphase, in der die Teilnehmer an durchschnittlich 100 Tagen ein Übungsprogramm absolvierten, wurden die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten der Probanden gemessen. Beim Vergleich der Ergebnisse stellten die Wissenschaftler merkliche Verbesserungen fest. Bei den Probanden, die älter als 65 waren, fiel die positive Wirkung aber wesentlich geringer aus als bei den jungen Testpersonen: Eine Verbesserung war nur beim Arbeitsgedächtnis nachweisbar. Und sie hielt weniger lange vor, wenn die Übungen nicht weiterverfolgt wurden. Überdies reichten die Effekte nur aus, um einen altersbedingten geistigen Abbau von etwa fünf Jahren wettzumachen – eine geistige Verjüngung um 20 Jahre, wie es manche Gehirnjogging-Anbieter versprechen, erscheint daher vollkommen unrealistisch.
Wissenschaft vs. Gehirnjogging
So scheinen die Verheißungen der Gehirnjogging-Industrie wohl tatsächlich überzogen zu sein. Niemand, der sich täglich Zeit für ein paar Übungen am Computer nimmt, darf damit rechnen, seinen IQ zu steigern, automatisch aufmerksamer, wacher durchs Leben zu gehen oder gar das Gehirn als solches zu verjüngen. Mit wenigen spezifischen Trainingsaufgaben vermag niemand seine gesamte Geisteskraft dauerhaft zu erhöhen oder gar altersbedingte geistige Einbußen gänzlich zu verhindern. Im Oktober 2014 gab eine Gruppe von mehr als 70 renommierten Kognitions- und Neurowissenschaftlern aus aller Welt eine Erklärung heraus, in der sie sich von den überbordenden Versprechungen der Gehirnjogging-Anbieter klar distanzieren. Die Aussagen, mit denen diese für ihre Produkte werben, seien oft übertrieben, bisweilen sogar irreführend und höchst bedenklich, so die Experten. Behauptungen, dass Gehirntraining die Alzheimer-Demenz verhindere oder gar bekämpfe, seien völlig aus der Luft gegriffen.
Doch anders als manche unnütze Vitaminpräparate können Denksportübungen zumindest kaum Schaden anrichten. Im Gegenteil: Vielen Menschen machen sie schlicht Spaß, und ganz unabhängig davon, wie groß die Effekte auf die geistige Fitness wirklich sind, ist dieser Aspekt nicht zu unterschätzen. Denn beim Gehirnjogging sind es womöglich nicht die Aufgaben allein, die sich auf die mentale Verfassung der Spieler auswirken. Wer
erlebt, dass er sich bei einer bestimmten Übung verbessern kann, fühlt sich vielleicht motiviert und schöpft neues Selbstvertrauen. Schon diese Erfahrung kann dazu führen, dass sich gerade ältere Menschen nach einem Training besser in der Lage fühlen, mit bestimmten Alltagsaufgaben zurechtzukommen.
Bei manchen kann das eine sich selbst verstärkende Entwicklung in Gang bringen: Wer sich mehr zutraut, wird auch sonst reger, unternimmt häufiger neue Aktivitäten. Möglicherweise fasst er den Mut, sich an ein neues, herausforderndes Hobby heranzuwagen. Wer allerdings einseitig auf Gehirnjogging vertraut, vergibt womöglich weitaus bessere andere Chancen, auch im Alter noch sein Denkorgan zu stimulieren und die lebenslange Plastizität der neuronalen Netze zu nutzen. Denn jede Stunde, die ein Mensch allein zu Hause mit Übungen am Computer zubringt, könnte er auch für soziale Kontakte verwenden, für das Erlernen einer Sprache oder einfach zum Spazierengehen – und so nach Meinung der Forscher viel mehr tun, um seine kognitiven Fähigkeiten zu erhalten. Wahrhaftiges Krafttraining für den Geist biete keine Computeraufgabe, kein Rätselheft. Sondern nur das wirkliche Leben da draußen.