Bildtafeln aus der mesopotamischen Stadt Uruk, entstanden wohl um 3500 v. Chr., galten lange als die frühesten Zeugnisse für die Verwendung rollender Fahrzeuge. Neue Funde und verbesserte Datierungen zeigen jedoch: Etwa zeitgleich gibt es an vielen Orten Mitteleuropas Hinweise auf den Gebrauch von Wagen, in Schleswig-Holstein etwa, in Südpolen, im mittleren Donauraum. Die Frage ist nun: Ist das Rad zur selben Zeit an mehreren Orten erfunden worden – oder war es eine Einmalerfindung, die sich sehr schnell verbreitet hat?
In jedem Fall ist es keine naheliegende Erfindung. Hunderttausende von Jahren hat der Mensch ohne Rad gelebt, vermutlich auch, weil es kein Vorbild gibt: Die freie Rotation einer Scheibe kann man sich nirgendwo abschauen, die Natur hat nichts Vergleichbares hervorgebracht.
Gab es ein Vorbild für das Rad?
Für die an mehreren Orten zur gleichen Zeit erfolgte Erfindung spricht, dass es um 3500 v. Chr. schon viele Technologien gibt, die man kombinieren kann. Eine denkbare Inspirationsquelle: die Töpferscheibe, deren früheste Formen auf ein Alter von mindestens 6000 Jahren datiert werden. Und auch Schlitten können als Vorbild dienen, deren Ladefläche über den Boden gezogen wird.
Gegen die zeitgleiche Erfindung spricht, dass im Rest der Welt das Rad wohl nur noch ein einziges weiteres Mal erfunden worden ist: im heutigen Mexiko um das Jahr 600 n. Chr. Wieso sollte es dann ausgerechnet im frühen Vorderasien und in Europa gleich drei- oder viermal parallel entworfen worden sein?
Erfindung breitet sich Richtung Westen aus
Daher erscheint vielen Forschern die Annahme plausibler, dass sich Rad und Wagen von ihrem bislang unbekannten Geburtsort geradezu schlagartig – das heißt: im Verlauf weniger Jahrhunderte – ausgebreitet haben. Dabei gehen wahrscheinlich nicht reale Wagen auf Reisen, es wird vielmehr das Konzept exportiert, runde Scheiben mittels Achsen unter eine Ladefläche zu montieren und all das von Tieren ziehen zu lassen.
Vielleicht sind es nomadische Bewohner der Steppen in der heutigen Ukraine, die als Erste solche Gefährte mit Rädern bauen – jedenfalls sind in der dortigen baumlosen Landschaft die Bedingungen gegeben, welche die Nutzung des Wagens überhaupt erst sinnvoll erscheinen lassen. Von dort aus breitet sich die Neuerung aus, auch in Richtung Westen, nach Mitteleuropa.
Zwar lässt sich der Wagen in den dortigen Waldlandschaften lange Zeit kaum als Transportmittel über weite Entfernungen nutzen. Doch ab etwa 3500 v. Chr. verändern sich viele Regionen: Denn die Bauern roden und bestellen immer größere Ackerflächen. So ergeben sich bald neue Anwendungen für den Wagen – etwa, um geerntete Feldfrüchte zum Dorf zu bringen oder um Holz aus den jetzt weiter entfernten Wäldern zu holen.
"Nehmen Sie uns das Rad – und wenig wird übrig bleiben"
In jedem Fall wird das Rad rasch zu einer der wichtigsten Erfindungen. „Nehmen Sie uns das Rad – und wenig wird übrig bleiben“, urteilt 1883 der Physiker Ernst Mach. „Es verschwindet alles. Vom Spinnrad bis zur Spinnfabrik, von der Drehbank bis zum Walzwerk.“ Das Rad – ein Schlüssel zur technischen Entwicklung.
Warum aber gerät es auf dem amerikanischen Kontinent zum Flop? Den Bewohnern von Mexiko fehlt es schlicht an Zugtieren, die sie vor einen Wagen hätten spannen können: Ihr größtes domestiziertes Tier ist der Hund. So fertigen sie zwar rollende Abbilder von Tieren, mit Rädern und Achsen, die vermutlich rituellen Zwecken dienen. Funktionstüchtige Wagen aber bauen sie offenbar nicht. Letztlich bleibt das Rad dort technischer Nippes.
In GEO CHRONIK geht es um die großen Momente der Menschheit. Die Heftreihe folgt der Idee, chronologisch und an jeweils einem Thema den Einfallsreichtum der menschlichen Spezies zu zeigen. Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe "Die 100 genialsten Erfindungen".