Der Wattpostbote
Der Wasserwanderer
Knud Knudsen, 53, ist Deutschlands einziger Wattpostbote und lebt auf Pellworm
Seit sieben Jahren bringe ich zweimal pro Woche die Post von Pellworm zur Hallig Süderoog - anderthalb Stunden hin, anderthalb Stunden zurück, sechseinhalb Kilometer pro Strecke. Wann genau ich losgehe, richtet sich nach dem Tideplan. Aber auch bei Ebbe sind einige Priele so tief, dass mir das Wasser bis zu den Oberschenkeln reicht. Am besten, man hebt die Füße beim Laufen nicht zu hoch, sondern schiebt das Wasser vor sich her. Dann spritzt es nicht so. Das habe ich mit der Zeit ausgetüftelt. Ich würde auch für einen einzigen Brief die drei Stunden laufen, aber meistens bringe ich den beiden Halligbewohnern Gudrun und Hermann Matthiesen noch Brot, Butter oder Milch mit. Dafür bekomme ich immer etwas zur Stärkung: ein Marmeladenbrot, eine heiße Suppe, je nachdem. Das Schönste aber ist, dass wir zusammensitzen und darüber schnacken, was es Neues gibt. Leider ist die Stunde auf der Hallig jedes Mal schnell um. Dann muss ich wieder los, weil die Flut keine Rücksicht nimmt.
Mein eigentlicher Beruf ist ja im Küstenschutz. Und wegen des Geldes bin ich sicher nicht Wattpostbote geworden. Nach Abzügen bleiben gerade fünf Euro die Stunde. Aber ich bin gern draußen, und die Muster im Schlick sind jeden Tag anders. Manchmal denke ich, dass ich eigentlich ein Karibik-Kind bin, weil ich bis November barfuß und in Shorts unterwegs bin. Erst wenn der Frost kommt, wärmt mich eine Wathose. Vielleicht übertreibe ich es mit meinem Ehrgeiz, aber das ist gut zur Abhärtung. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal krank gewesen bin. Mittlerweile spüre ich nicht einmal mehr die Muschelfelder unter meinen Füßen, die am Anfang höllisch wehtaten. Ich mag halt nicht, was alle machen. Bin ein Eigenbrötler, aber kein Einzelgänger. Denn mit Menschen komme ich gut aus.
Die Meteorologin
Die Wolkenexpertin
Hanna Sönksen, 55, arbeitet seit 37 Jahren beim Deutschen Wetterdienst in St. Peter-Ording
Bevor ich meine Wäsche auf die Leine im Garten hänge, werfe ich meist noch einen Blick auf das Niederschlagsradar. Manchmal passiert es auch, dass ich morgens beim Bäcker stehe und mich ein Nachbar fragt: „Hanna, wir wollen grillen. Wie wird das Wetter?“ Wenn ich auf dem aktuellen Stand bin, gebe ich gern Auskunft. Mein Arbeitsplatz, die Wetterwarte, liegt in den Dünen von St. Peter-Ording, von meinem Schreibtisch aus sehe ich den Strand und das Meer, bei guter Fernsicht sogar meine Heimatinsel Pellworm. Während meiner zwölfstündigen Schichten bin ich allein.
Aber einsam fühle ich mich nie. Ich muss das Wettergeschehen beobachten, etwa Wolken klassifizieren oder Sichtweiten schätzen. Im Moment zeigt das Wolkenbild eine Schichtbewölkung, die man Stratocumulus nennt. Darunter hat sich Quellbewölkung, Cumulus, gebildet. Solche Daten schicke ich an den Großrechner in Offenbach. Dort werden Wetterkarten gedruckt, die den Meteorologen zur Vorhersage dienen. Als ich vor 37 Jahren anfing, wurden die Karten noch per Hand gezeichnet: mit Bleistift und Radiergummi! Sobald ich freihabe, fahre ich nach Pellworm. Jedenfalls so bald es geht. Denn als Insulaner ist man abhängig von Ebbe und Flut. Angekommen, setze ich mich auf die Bank vor meinem Reetdachhaus. Ich brauche die Weite, um atmen zu können.
Der Filmflieger
Der Filmflieger
Jan-Lüppen Brunzema, 55, ist Chef des Luftverkehrs Friesland-Harle und transportiert Kinofilme zwischen den norddeutschen Inseln
Ein großer Kinogänger bin ich nicht. Was ich aus Hollywood mitkriege, sind vor allem die Filmrollen in ihren achteckigen Aluminiumboxen. Obwohl, ein bisschen Filmerfahrung habe ich durchaus: In der Dokumentation „Sturmflut“ habe ich mich 1993 selbst gespielt. Ansonsten kümmere ich mich lieber darum, dass die Filme dreimal in der Woche zwischen den norddeutschen Inseln ausgetauscht werden. Wenn ein Film in die Kinos kommt, muss er eine Mindestanzahl von Wochen gespielt werden, sonst rückt ihn der Verleih gar nicht erst heraus. Darum geben die Betreiber der Inselkinos die Kopien untereinander weiter. Der Handschlagvertrag, den ich 1980 für diesen Spezialauftrag geschlossen habe, gilt heute noch. Vom Flugplatz Harle aus fliegen meine Kollegen und ich bis zu zehn Filme mit einer einmotorigen Cessna 172. Laut Lieferplan sollen „Von Frau zu Frau“ und „Fantastic Four II“ jetzt erst einmal nach Baltrum, dann weiter nach Borkum, Juist, Langeoog, Wangerooge, Pellworm und Föhr bis nach Fehmarn.
Außer, dass manchmal Rehe auf der Landebahn herumstehen, gibt es keine Zwischenfälle. Von den Inselflugplätzen holen die Kinovorführer ihre Filmrollen mit dem Auto, der Kutsche oder einem Lastenfahrrad ab. Die Rollen zum Kino zu tragen, ist nicht: Besonders die Hollywood-Streifen sind schwere Brocken, manche wiegen 50 Kilogramm. Auch wenn ich die Strecken schon tausendmal geflogen bin, beobachte ich immer wieder Neues. Etwa, wie auf der Sandbank Kachelotplate ein Dünenansatz entsteht oder die Insel Lütje Hörn langsam schrumpft. Ich bin in all den Berufsjahren schon über Grönland bis zur Antilleninsel Curaçao geflogen, aber eine besondere Verbindung zur Natur spüre ich nur hier. Vielleicht muss man in Friesland geboren sein, um das zu verstehen.
Die Fahrerin im Autoterminal
Die Frau fürs Große
Bianca Garre, 42, ist Fahrerin im Autoterminal Bremerhaven
Mein Arbeitsplatz sieht jeden Tag anders aus. Manchmal stehen Bagger und Mähdrescher dort, dann Walzen und Autokräne, Busse ohne Motoren oder auf Trailern verzurrte Granitblöcke: Seit drei Jahren fahre ich für die BLG Logistics, Bereich „High and Heavy“, in Bremerhaven die sogenannten Großgüter auf Frachtschiffe, monströse Gefährte, die ich über eine Rampe an Bord der Sea-Car-Carriers bringe, der großen Lastkähne. Dort lotst mich ein Einweiser auf den festgelegten Platz. Von wegen Frauen können nicht einparken! Unter meinen etwa 120 Kollegen bin ich die einzige Frau. Natürlich herrscht mal ein rauerer Ton, aber das hat mich nie gestört. Im Gegenteil. Sobald ich meinen Blaumann überziehe, können die Jungs ihre Sprüche machen - ich fühle mich wohl. Am Anfang haben mir die Kollegen dauernd Hilfe angeboten, bis sie gemerkt haben, dass mir das gar nicht behagt. Wenn ich wirklich nicht allein klarkomme, sage ich Bescheid. Aber das muss von mir ausgehen.
Ich hatte schon immer ein Faible für den Hafen, das Wasser und die Schiffe. Aufgewachsen bin ich in Bremerhaven und hatte nie das Bedürfnis wegzugehen. Früher habe ich sogar eine Weile Fischbrötchen verkauft, so wie sich das für ein richtiges Nordlicht gehört. Dann kam eine Ausbildung zur Hafenfacharbeiterin, während der ich Unmengen von Personenwagen auf Schiffen parken musste. Aber mit Autos hatte ich nie viel am Hut, mich faszinieren die richtig großen Fahrzeuge. Wenn ich Leute kennenlerne und von meinem Beruf erzähle, spüre ich bei Frauen Interesse und Anerkennung. Männer sind skeptisch. Viele glauben, dass eine Frau, die so einen Job macht, in ihrer Freizeit Beton mischt. Wenn die wüssten, dass ich nach Feierabend gern im Garten arbeite, um abzuschalten! Sie wären enttäuscht.
Die Turmherrin von Neuwerk
Die Turmherrin
Antje Göttsche, 37, vermietet sieben Zimmer im Leuchtturm Neuwerk
Auf Neuwerk wohnen etwa 40 Leute, da sollte man miteinander auskommen wollen. Die Insel ist nur drei Quadratkilometer groß, da kann sich sowieso niemand aus dem Weg gehen. Von Neuwerk zum Festland dauert es anderthalb Stunden mit der Fähre, der Wattwagen bei Ebbe braucht eine Stunde. Wenn mir der Sinn nach Bummeln steht, fahre ich mit dem Wagen rüber nach Sahlenburg. Beim vorletzten Priel rufe ich mir immer ein Taxi, das mich vom Deich direkt in die Cuxhavener Innenstadt bringt. Vieles bestelle ich auch im Internet oder per Telefon, aber das geht schon mal schief. Gerade kam eine komplett falsche Lieferung vom Großhandel: 15 Kilogramm Rosinen statt einem. Der erste Rosinenkuchen ist schon im Ofen, aber für den Rest muss ich mir etwas einfallen lassen. Seit ich vor 14 Jahren den uralten Turm gepachtet habe, ein Gemäuer aus dem Jahr 1310, lebe ich mit offener Tür.Die Pensionsgäste müssen nämlich durch unsere Wohnung laufen, wenn sie zu ihren Zimmern in den oberen Stockwerken wollen. Da steht öfter jemand in meiner Küche, der sich verlaufen hat.
Gestern Abend wollte ich ganz in Ruhe mit Mann und Sohn fernsehen, aber dauernd kam ein Gast dazwischen. Anfangs glaubte ich oft, im Zoo zu sein. Aber das ist Gewohnheitssache. Nur die vielen Treppenstufen machen mich nach wie vor verrückt: 138 sind es bis ganz oben. Manchmal erzählen mir Gäste auch, dass sie in einer Stadt wie New York leben möchten. Unbegreiflich! Ich habe einmal für zwei Jahre in Itzehoe gewohnt, das war mir schon zu anstrengend. Wenn Ende Oktober die Saison vorbei ist, ziehe ich deshalb nach Puls in Schleswig-Holstein. Das ist zwar auch ein ganz kleines Nest, nur 600 Einwohner. Aber nirgendwo ist es so ruhig wie in meinem Turm. Egal aus welchem der oberen Fenster ich schaue, ich sehe immer das Meer.
Die Werftbesitzer
Die Traditionalisten
Jan Gerjet Erich Bültjer (li.), 50, führt mit seinem Bruder Gerjet Hinderk in vierter Generation die Bültjer-Werft in Ditzum
Man könnte denken, außer Gerjet, Hinderk und Jan sind unseren Vorfahren keine Namen für ihre Söhne eingefallen. Unser Vater hieß Hinderk Gerjet, unser Großvater Jan und dessen Bruder Gerjet Hinderk. Das Weitergeben der Vornamen hat bei uns einfach Tradition. Ich bin froh, dass meine Frau die Geschichte der Bültjer-Werft seit 1899 rekonstruiert hat, sonst käme selbst ich mit den Namen in den Tüdel. In unserer Familie hat sich stets alles um Schiffe gedreht. Von meinen drei Jungs hatte aber nur Gerjet Hinderk junior Lust dazu, in den Betrieb einzusteigen. Ehrlich gesagt, das reicht mir auch mit dem Familienklüngel. Mein jüngerer Bruder Gerjet Hinderk senior kümmert sich um die Buchführung.
Mir liegt der Fisselkram nicht; ich baue am liebsten Außenplanken ein oder lege Decksbalken, weil sich Holz gut verarbeiten lässt. Es ist schön anzusehen, und ich mag den Geruch. Ich würde mir wünschen, dass wir in unserer Werft beim Stapellauf öfter ein ganz neues Schiff zu Wasser lassen könnten, aber das passiert leider sehr selten. Hauptsächlich reparieren wir alte Holzkutter und Yachten. Manche davon sind richtige Oldtimer. Im Moment haben wir einen Dampfsegler des englischen Königshauses aus dem Jahr 1898 hier liegen. So ein Prachtstück wieder flottzumachen, ist eine große Sache. An alten Schiffen hängt einfach das Herz - und sie haben auch eine Seele. Einmal wollte ein neuer Besitzer einem alten Boot einen anderen Namen verpassen. Aber das geht nicht! Ein Kind kann man doch auch nicht einfach umbenennen.
Der Küstenkünstler
Der Küstenkünstler
Hermann Buß, 57, arbeitet als Maler in Norden und setzt sich künstlerisch mit dem Thema Wasser auseinander
Wasser, Schiffe und Küsten sind mein Leben, deshalb male ich sie. Welche Motive sollte ich mir sonst suchen? In meiner Familie väterlicherseits fuhren die Männer zur See. Darum bin ich mit all ihren spannenden Geschichten groß geworden. Für mich war klar, dass auch ich Seemann werden möchte, weil es den Inbegriff von Abenteuer bedeutete. Das Schlafen in der Koje und das beruhigende Schwanken an Bord habe ich schon als kleiner Junge geliebt. Das Gefühl, auf See zu sein, war meine Welt. Ich habe Pädagogik studiert, aber auch in den Jahren als Lehrer bin ich immer wieder in Richtung Schifffahrt ausgebüxt.
Seit 30 Jahren male ich nun professionell. Thematisch rankt sich alles um das Wasser - im Grunde aber geht es um den Lebenssinn. Denn Wasser verkörpert die permanente Veränderung. Was die bildende Kunst betrifft, bin ich vor allem von den kritischen und magischen Realisten geprägt, von der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre und von den Realisten der niederländischen Tradition. Initialzündungen aber gingen von Schriftstellern wie Joseph Conrad oder Herman Melville aus. Kurz: Ich würde nie einen idyllischen Traumstrand in der Karibik malen, es muss immer das Raue sein. Denn das Meer hat auch etwas Gnadenloses. Außenstehende empfinden meine Bilder oft als düster. Ich sehe sie als Versuch einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Leben. Die Nähe zum Meer ist für mich existenziell geblieben. Meine Frau und ich wohnen seit 27 Jahren direkt am Wasser, vom Atelier bis zum Deich sind es 20 Meter. Das Bedürfnis, zur See zu fahren, ist aber im Laufe der Jahre schwächer geworden. Jetzt lebe ich es in der Malerei aus. Manchmal sind die inneren Reisen sowieso die spannendsten.
Die Seehund-Pflegerin
Die Seehund-Flüsterin
Anne-Kathrin Jüngst, 27, ist Tierpflegerin auf der Seehundstation Nationalpark-Haus in Norden-Norddeich
Manchmal bin ich ganz erschrocken darüber, wie wenig die Menschen über Seehunde wissen. Wir erleben immer wieder, dass Touristen über Sandbänke spazieren, auf denen Mütter ihre Kleinen säugen. Die Leute machen Nahaufnahmen mit ihren Handys, fassen die Heuler sogar an. Jungtiere verlieren viel Energie, wenn sie flüchten oder beim Trinken gestört werden. Und manche Mütter verstoßen ihr Junges, weil sie es nicht mehr am Geruch erkennen. Seehunde sind Raubtiere. Die wollen nicht geknuddelt werden! Es war mein Wunsch, Tierpflegerin zu werden. Menschen sind häufig nicht sehr nett zu Tieren, und so kann ich dies durch meine Arbeit ein bisschen wiedergutmachen. Ich versuche, Stationsbesuchern Respekt vor der Natur zu vermitteln. In einem gewöhnlichen Zoo zu arbeiten, kam für mich nie infrage. Auch wenn es die Tiere dort vergleichsweise gut haben, ist ihre Zukunft trostlos. Unsere Seehunde haben ein Leben als Wildtiere vor sich!
Jedes Jahr im Juni werden die ersten verwaisten Seehundbabys zur Station gebracht. Wir füttern sie anfangs über eine Magensonde mit einer Mischung aus abgekochtem Wasser, Haferschleim, Vitaminen, Mineralstoffen und Muttermilchersatz. Die Fütterung scheint zuerst unangenehm, aber nach dem zweiten Mal reißen sich die Heuler darum, den Schlauch schlucken zu dürfen. Der Moment, wenn wir die Seehunde nach acht bis elf Wochen wieder aussetzen, ist unbeschreiblich. Ich bin nie traurig, dass uns ein Tier verlässt, ich freue mich über jedes, das draußen ist. Wenn ich die Seehunde in die Freiheit schwimmen, sehe, weiß ich, wofür ich meine Kraft eingesetzt habe.