Ein Professor und ein Bauer
Zwei Männer klettern aus dem gekühlten Inneren des Taxis in die Hitze eines indischen Mittags. Der eine, hochgewachsen und hellhäutig, mit sorgfältig gestutztem Vollbart und Brille: Anil Gupta, 56 Jahre alt, Professor am Indian Institute of Management (IIM) in Ahmadabad. Der andere, klein und verknittert, trägt einen löchrigen dhoti, das traditionelle Tuch, um die Hüften und geht auf nackten Füßen: Shakarabhai, auch Großväterchen genannt. Wie alt er ist, weiß er nicht, 65 Jahre, vielleicht. Er hat in seinem Leben keine Schule besucht und keine Schuhe getragen.
Ein Professor und ein Bauer
Sie setzen sich in den Schatten eines alten Baumes, der Mann, der an der renommiertesten Wirtschaftsuniversität Indiens lehrt, der in Berkeley Vorträge hält, in Cambridge und in Boston. Und der andere, der sein ganzes Leben im selben Dorf verbracht hat, in Bhuval an der Grenze zwischen den Bundesstaaten Gujarat und Madhya Pradesh. Der Professor, der die schwarzen Augenbrauen zusammenzieht und durch seine Brille blitzt, wenn ein Student einen Fehler macht. Der Bauer, der sich zum Melken die Kleider seiner Frau anzieht, damit die Kühe keine Furcht vor ihm haben.
Hier, nur wenige Autominuten entfernt von Shakarabhais Heimatdorf, werden die beiden Männer am nächsten Tag gemeinsam ein shodh yatra beginnen, eine Erkundungsreise. Seit 1998 wandert Anil Gupta zweimal im Jahr von Dorf zu Dorf, begleitet von Studenten, Forschern, Bauern. 5700 Kilometer durch das ländliche Indien ist er schon gelaufen und hat eine Datenbank angelegt von altem Kräuterwissen und zahlreichen Erfindungen, die der Not entsprungen sind: 120 000 Einträge sind bereits zusammengekommen, der Schatz der Armen Indiens.
Guptas wichtigste Entdeckung
Shakarabhai ist vielleicht Guptas größte Entdeckung. Denn Shakarabhai begann schon als junger Mann als Heiler zu arbeiten. Oft kann nur der vaidya helfen in einer Gegend, wo das nächste Krankenhaus mehrere Stunden entfernt liegt und der Arzt nicht immer zum Dienst erscheint. Wo es keine Krankenschwester im Dorf gibt und keinen Tierarzt. Männer wie Shakarabhai können Knochen einrenken und Kopfschmerzen heilen, mit einer Mischung aus ätherischen Ölen, die brennend in die Nase schießt und Tränen aus den Augen treibt. Männer wie er wissen, dass Weihrauch gegen Fieber hilft und Pillen aus Papayablättern und Kalk gegen Gelbsucht. Sie kennen den Vogel, dessen Feder die Nachgeburt einer Kuh lösen kann, und eine Medizin gegen den Biss der Kobra. Als Zeichen ihrer Würde und um ihren Verstand vor der Sonne zu schützen, tragen sie ein weißes Schiffchen auf dem Kopf.
Auf der Suche nach altem Wissen
Shakarabhai wird auf dieser Wanderschaft sein Wissen mit anderen Heilern teilen, die selten aus ihren Dörfern herauskommen. Und er wird als lebendes Beispiel dienen für das, was der Professor erreichen möchte. Eine Viertelmillion Rupien hat Gupta ausgegeben, um Shakarabhais Wissen zu überprüfen, dann hatte das Bombay Veterinary College den Beweis: Der alte Mann kennt ein effektives, bisher unbekanntes Mittel gegen Koliken bei Kühen. Bis nach Delhi sind der Heiler und der Professor zusammen gefahren, weil Wissenschaftler dort den Vaidya treffen wollten. Das Medikament ist fast fertig. Und wenn es sich verkauft, wird der alte Mann bald genug Geld verdienen, um ein Bankkonto zu eröffnen.
Erkundungsreisende auf der Suche nach altem Wissen
Die shodh yatris, die Erkundungsreisenden, brechen früh auf am nächsten Morgen - zwei Dutzend Menschen, die 750 Rupien bezahlt haben, knapp 13 Euro, um mitwandern zu dürfen. Der Professor nennt sie baccho: Kinder. Und alle, von der Studentin bis zum Pensionär, rauchen auf dieser Reise nur heimlich. Sie haben die asphaltierten Straßen hinter sich gelassen und wandern auf staubigen Pfaden zwischen ebenso staubigen Feldern oder querfeldein über die Äcker. Der Landstrich, in dem sie unterwegs sind, wird fast ausschließlich von Adivasi, Ureinwohnern, besiedelt, Menschen außerhalb des Kastenwesens.
Kaum jemand hier besitzt ein Fahrrad und niemand einen Traktor; der Boden ist zu steinig für die Büffel; oft müssen Frauen jene Arbeit verrichten, die anderswo Tiere übernehmen. Die Pflüge sind aus Holz wie die Ochsenkarren. Die meisten Bauern ernten gerade genug, um ihrer Familie das nackte Überleben zu sichern. Und opfern doch die erste Milch einer Kuh den Göttern, in kunstvoll getöpferten Gefäßen, in tönernen Pferden.
Zwanzig Kilometer laufen die Shodh Yatris jeden Tag, die Hitze steigt mit der Sonne. Es ist die trockenste Zeit des Jahres, noch zwei Wochen bis zum Monsun.
Ein Pilgerleben für die Wissenschaft
Dreimal am Tag hocken sich die Wanderer bei einem Gastgeber auf den Boden, auf zusammengenähten Blättern erhalten sie Reis, Gemüse, Linsen aus großen Eimern. Bröckeln das Brot in die Sauce und schaufeln sich das scharfe Gemisch mit den Fingerspitzen in den Mund. Zwischendurch gibt es Tee, in ein gefaltetes Blatt gegossen, stark und süß. Nachts schlafen sie in Schulen, Privathäusern oder Ashrams auf dem Boden, auf dem Dach, unter einer Mondsichel, die auf dem Rücken liegt. ie Sonne ist bereits untergegangen, als der Professor am ersten Tag das Haus eines Mannes erreicht, der ihm eine Erfindung vorführen möchte. Kumar Khiemdas hat Betten vor sein Haus geschleppt, damit sich die Gäste darauf niederlassen können; seine Frau und seine Kinder gehen umher und bieten säuerlich-erfrischendes Tamarindenwasser an.
Vom College zurück ins Dorf
Im Dunkeln jenseits des Lichtscheins drängen sich Nachbarn und Kinder und bestaunen die Fremden, die Kumar Khiemdas solche ungewohnte Aufmerksamkeit schenken. Der verschwindet bald darauf in seiner niedrigen Hütte, die Küche, Esszimmer und Stall in einem ist, und erscheint mit einem Apparat, den er vor dem Gast auf den Boden setzt: Ein großer Topf, ein kleiner Topf, ein Rohr, darum ein rotes Tuch zu einem Knoten geschlungen, damit Kumar Khiemdas das heiße Rohr bewegen kann. Der Professor beugt sich vor. Es ist ein Kuh-Urin-Destillator. Kumar Khiemdas hat darüber in alten Büchern gelesen und ihn nachgebaut. Wenn die Kuh sich erleichtert, muss man schnell sein und eine Schüssel unter sie halten. Das destillierte Ergebnis hilft gegen Fieber und Gelenkschmerzen. Seine Familie trinkt es regelmäßig.
Vom College zurück ins Dorf
Khiemdas war auf dem College, hat einen Abschluss und ist doch vor 15 Jahren in sein Dorf zurückgekehrt. Da waren jüngere Geschwister, um die er sich kümmern musste, und Aussicht auf eine feste Anstellung anderswo hatte er ohnehin nicht. Jetzt ist er Bauer, besitzt zwei Kühe, einen Hektar Land und einen kleinen Laden vor dem Schlafzimmer, in dem er Süßigkeiten verkauft und Teesiebe.
Doch sein Kopf arbeitet weiter. Khiemdas hat einen zweiten Brunnen gegraben, vielleicht kann er seine Felder so fruchtbar machen, dass er einen ErnteÜberschuss verkaufen kann. Mit säuberlichen blauen Schriftzeichen füllt er Schulhefte, mit Kugelschreiberlinien skizziert er seine Ideen. Er möchte, erzählt er dem Professor, auch einen Deckenventilator bauen, betrieben durch ein Windrad auf dem Dach.
Das "Netz der Verrückten"
Gupta verspricht, Khiemdas zu helfen. Auf dieser Reise sucht er beides: Menschen wie Shakarabhai, die jahrhundertealtes Wissen bewahren und weitergeben. Und Menschen wie Kumar Khiemdas, die sich mit der Beschaffenheit ihres Umfelds nicht abfinden. Das "Netz der Verrückten" nennt Gupta liebevoll das Honey Bee Network, seine Datenbank mit den zusammengetragenen Ideen. Und wann immer die shodh yatris eine Versammlung abhalten, verbreitet Gupta die Nachrichten von den Verrückten in noch mehr Dörfern.