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Selbstversuch Wie sich eine Weltreise per Virtual Reality wirklich anfühlt

Selbstversuch: VR-Apps versprechen Erholung an virtuellen Zielen. Perfekt für den urlaubsreifen Autor. Doch erst muss er lernen, wie man einen Fuß vor den anderen setzt
VR-Apps versprechen Erholung an virtuellen Zielen. Perfekt für den urlaubsreifen Autor. Doch erst muss er lernen, wie man einen Fuß vor den anderen setzt
© Norman Konrad / INNOVATOR by The Red Bulletin
CO²-neutral, stressfrei und bezahlbar: Per Virtual Reality können wir um die Welt reisen, ohne unsere Wohnung zu verlassen. Aber können Pixel vor den Augen wirklich den Sand unter den Füßen ersetzen? Autor Tobias Moorstedt hat es ausprobiert

Die Realität ist die düsterste aller Wirklichkeiten. Zumindest in Hamburg, an einem Wintertag, zirka 15 Uhr. Tief hängen die Wolken vor meinem Bürofenster, die Sonne, nichtsnutziger Tagedieb, hat sich längst verzogen. Der Computerbildschirm ist die einzige Lichtquelle im Raum. Auf Instagram scheint dagegen die Sonne, mein Fußballverein postet Bilder aus dem Trainingslager in Doha, ein Kollege scheint auf Dienstreise in Vietnam zu sein, die Hälfte der Insta-Nutzer hält sich dank Fotofilter eh permanent in Kalifornien auf. Wenn ich morgens um 8.30 Uhr im Büro ankomme, ist es fast noch dunkel, der Heimweg um 17.30 Uhr fühlt sich an wie tiefste Nacht. Nichts wie weg hier. Nur: wie? Der nächste Urlaub liegt in weiter Ferne. Und ein Kurztrip auf die Kanarischen Inseln verbietet sich aus klimatechnischen Gründen. Eine Familienreise nach Teneriffa würde für den Ausstoß von mehr als acht Tonnen CO² sorgen – dabei dürfen alle 80 Millionen Deutsche bis 2035 nur noch 7,3 Gigatonnen CO² verursachen, 90 Tonnen für jeden Bürger. Und danach gar nichts mehr. Eine Flugreise ist nicht drin. Sorry.

Seit Monaten verfolgen mich im Netz die Anzeigen des Virtual-Reality-Anbieters Oculus. „Step into the rift“, heißt es da. Auf Deutsch: Mach dich auf den Ausweg. Ich will aber keine Monster besiegen oder Raumschiffe steuern, sondern ein Glas Wein auf einem Hügel in der Toskana trinken. Oder einfach mal am Strand einschlafen. Ist die Technologie weit genug? Für die Anschaffungskosten einer VR-Brille von 549 Euro kann man
zwar fast eine Woche ins All-inclusive-Resort fahren, aber jetzt liegt die „Oculus Quest“ vor mir, ein unscheinbarer schwarzer Quader mit zwei Controllern. Es ist 20 Uhr. Ich sitze in der Küche, die Kinder schlafen. Zeit, abzuhauen. Nach 30 Minuten, in denen ich eine App heruntergeladen habe, setze ich die VR-Brille auf, stelle das Bild scharf. Durch eine Kamera in der Brille sehe ich meine Umgebung: Küchentisch und Sitzbank, Kräutertopf und Messerblock. Ich halte einen Knopf am Controller gedrückt und ziehe so eine „Guardian- Linie“ auf dem Boden, die verhindern soll, dass ich im Pixelrausch vom Balkon falle. Übertrete ich später diese Grenze, erscheint ein rot leuchtendes Raster vor meinen Augen, und das Spiel stoppt.

Dieser Text erschien ursprünglich in der Print-Ausgabe von INNOVATOR by The Red Bulletin – das Magazin für eine bessere Zukunft erzählt von innovativen Menschen und zukunftsträchtigen Ideen und inspiriert uns damit, die Welt von morgen mitzugestalten.

Check-in: Verloren zwischen Nordlichtern und einsamen Stränden

Und Schnitt. Die Küche ist verschwunden. Ich stehe allein in einer riesigen Glaskuppel. Es ist Nacht. In der Ferne sehe ich schwarze Berge. Über mir funkeln die Sterne, ein Nordlicht wabert. Ich verrenke mir den Hals, laufe ein paar Schritte. „Wow“, sage ich in die leere Küche hinein. Die Kommandozentrale, der Home Screen der „Oculus Quest“, sieht aus wie das Feriendomizil eines Silicon-Valley-Milliardärs. Einmalige Lage, Top-Architektur, offener Kamin und schicke Mid-Century-Modern-Möbel. Ich fühle mich sofort wie zu Hause. Dann wende ich mich dem zwei Quadratmeter großen Bildschirm zu, der im Raum schwebt. Mit Kopfbewegungen und einem Laserpointer, den ich mit dem Controller steuere, bediene ich das Menü – jeder Smartphone- Nutzer findet sich sofort zurecht zwischen Mediathek, Einstellungen und Store. Erst mal mache ich ein allgemeines VR-Tutorial, um mich in der neuen Welt und ihren Naturgesetzen zu akklimatisieren. Das Oculus- Programm „First Steps“ schmeißt mich in eine endlose Landschaft mit leuchtenden Linien und Glühwürmchen, ich lerne, wie ich Joystick, Trigger- und Greiftaste des Controllers nutze, um zum Beispiel Bauklötze zu stapeln, Papierflieger fliegen zu lassen oder einen Ball auf einem Tischtennisschläger zu jonglieren.

Aber ich bin nicht für Zirkusübungen hier, sondern zum Relaxen. Erst mal ab an den Strand. Im Store gibt es eine eigene Tourismus-Kategorie. Ich lade mir die Apps „Nature Treks VR“ und „Wander“ für 10 bis 20 Euro herunter. Sanftes Meeresrauschen tönt aus den 3D-Lautsprechern an der Brille und vermischt sich mit dem Geräusch des Geschirrspülers. Palmen, weißer Sand. Eine menschenleere Insel. Ich mach mir ein reales Bier auf – kurzer Seitenblick aus der Brille heraus – und versuche, wie es so schön heißt, die Szenerie zu genießen. Dann schreit ein Baby in der Ferne. Wer programmiert denn heulende Babys in eine Südsee-Experience?, frage ich mich für einen ziemlich langen Moment, bis mir auffällt, dass meine Tochter im Nebenraum aufgewacht ist und weint. Nur zögernd logge ich mich aus.

Menschen suchen immer nach Orten, an denen sie noch nie gewesen sind – und wo der Neuanfang möglich scheint. 1965 dachte der Computerwissenschaftler Ivan Sutherland bereits über künstliche Umwelten nach, in denen die Abbildung an die Realität heranreicht. In den 1980er-Jahren entdeckten SciFi-Autoren virtuelle Realität als Schauplatz. „Cyberspace. Eine gemeinschaftliche Halluzination, täglich erlebt von Milliarden Teilnehmern, über alle Nationen hinweg“, wie William Gibson in „Neuromancer“ schrieb. In den 1990ern gab es in Videospielhallen bereits erste 3D-Maschinen. Wie aufgeregt ich war, als ich damals als Provinz-Teenager in Berlin eine Art Laufstall für Erwachsene betrat, ein Lichtschwert / einen Controller bekam, die Brille aufsetzte und gegen Polygondrachen kämpfte, die so realistisch aussahen wie die Zeichnungen meiner dreijährigen Tochter. In den vergangenen Jahren haben Bewegungssensoren und Grafikchips jedoch starke Fortschritte gemacht: 2011 stellte der damals 19-jährige Palmer Luckey in seiner Garage einen Prototyp einer neuen VR-Brillengeneration her. 2014 kaufte Facebook Luckeys Firma Oculus für zwei Milliarden Dollar. VR könnte wirklich ein Massenmedium werden.

Das Baby schläft jetzt ruhig. Zurück an den Strand mit „Nature Treks VR“. Da die Grundfläche meiner Küche kleiner ist als meine virtuelle Karibikinsel, kann ich nicht über den Pixel-Sand schreiten, sondern muss mit dem Controller springen. Ich setze mich in ein bereitstehendes Kanu und paddle los – durch das kristallklare Wasser sehe ich die Fische in der Tiefe. Nach zehn Minuten fühle ich mich so wohl auf der Insel, dass mir, äh, langweilig wird. Da ich hier kein Buch lesen kann, was ich sonst gerne am Strand mache, lade ich das nächste Szenario, „Winterberge“: Ein verschneites Tal, Schneehasen und Hirsche springen herum. Wow! Und weiter: „Deep Blue“, ich schwebe 20 Meter unter der Wasseroberfläche, Buckelwale, Korallenfische, eine versunkene Ruine. Wow! Herbstwald. Frühlingswiese. Weltall. Wow!

Selbstversuch: Zehn Abende lang begab sich unser Autor Tobias Moorstedt auf VR-Kurzurlaube. Ein Experiment, das Spuren hinterließ – innerlich wie äußerlich
Zehn Abende lang begab sich unser Autor Tobias Moorstedt auf VR-Kurzurlaube. Ein Experiment, das Spuren hinterließ – innerlich wie äußerlich
© Norman Konrad / INNOVATOR by The Red Bulletin

Zehn Tage Urlaub im Cyberspace

Die Grafik ist gar nicht so außergewöhnlich, die Tiere wirken bei näherem Hinsehen etwas steif und wie ausgestopft. Die Illusion, wirklich woanders zu sein – „Präsenz“ im Jargon der VR-Community –, ist trotzdem eindrucksvoll. Das ist der Grund, warum VR-Brillen bereits in der Psychotherapie eingesetzt werden – um posttraumatische Belastungsstörungen und Phobien zu heilen. Weil sich die Erlebnisse im 3D-Raum so real anfühlen, können sich Patienten unter Begleitung von Therapeuten ihren Ängsten und Erinnerungen stellen. Das heißt auch, dass die Erlebnisse „hier“, an meinen virtuellen Urlaubsorten, so „real“ sind, dass sie Spuren im Hirn hinterlassen können. Nach zwei Stunden ist der Akku leer. Ich nehme die Brille ab, bewege mich leicht orientierungslos durch die Wohnung. Vom Berggipfel und Meeresgrund ins Bett in fünf Minuten. Ich schlafe tief und traumlos.

Zehn Tage lang mache ich jeden Abend Kurzurlaub im Cyberspace. Schon nach zwei Tagen wird es mir am Strand und in den Bergen zu langweilig – obwohl ich festgestellt habe, dass sich bei „Nature Treks VR“ mit den Händen Wetter und Tageszeit kontrollieren sowie Schmetterlinge oder Fische herbeizaubern lassen – und im Weltraum kann ich Kometen und Schwarze Löcher erschaffen wie ein kleiner Gott. Aber das macht ja auch nicht für alle Ewigkeiten Spaß. In der VR-App „Wander“ bewegt man sich dagegen in einem Standbild der realen Welt – es ist eine Art Google Streetview auf Speed und arbeitet sogar mit denselben Daten. So kann man nicht nur Tourismusattraktionen besuchen – zum Beispiel gotische Kathedralen, die extra für das Spiel aufbereitet wurden –, sondern sich auf einer Karte an jeden Ort der Welt beamen. Ein Klick. Ein Schnitt. Plötzlich stehe ich an der Ostküste Grönlands, eine Schotterpiste führt einen Hügel hinauf, es dämmert, in der Ferne namenlose Berge. Mühsam klicke bzw. gehe ich den Hügel empor. Fünf Minuten, zehn, „gehe“ ich an Lkw-Wracks vorbei, kein Mensch weit und breit.

Mein Puls beschleunigt, obwohl ich mich nicht bewege. Ich will wissen, was sich hinter dem Hügel verbirgt. Dann bin ich da, noch ein Klick, und: ein weiterer, etwas höherer Hügel. Eine Ahnung von Grönlands Weite. Meine Lieblingsfunktion von „Wander“ ist die Random-Taste, die mich per Zufall an einen Ort irgendwo auf unserem Planeten versetzt. Ich versuche dann zu erraten, wo ich mich befinde. Ich stehe neben einem Esel auf einem Kiesweg, grüne, sanft geschwungene Hügel. Umbrien? Toskana? Falsch! Ostrumänien scheint eine Reise wert zu sein. Ich lande im Baltikum (korrekt geraten), Albanien (falsch, glaubte an Südfrankreich), Vietnam (korrekt), in Ghana und dem Schwarzwald. Und überall blicke ich in den blauen Himmel. „Powered by Google“ steht da immer geschrieben. Fast wie im echten Leben. Reisen, heißt es, hilft dabei, Vorurteile abzubauen. Und in meinem Fall und bei Ostrumänien stimmt das eindeutig. Ich bin viel unterwegs. An manchen Tagen schmerzt mein Hals, weil die VR-Brille doch ganz schön schwer ist. Sonnenbrand, Lebensmittelvergiftungen und Jetlag bleiben mir dagegen erspart.

Apps für VR-Reisen

World Traveler VR versetzt dich an verschiedene Orte auf der Welt – und du musst erraten, wo du dich befindest. Das fällt vor der Golden Gate Bridge oder der Freiheitsstatue nicht sehr schwer. Der Schwierigkeitsgrad steigt mit jedem Level

In The Climb kann der Spieler in realistischen Landschaften Berge erklimmen. Ob man in Ruhe nach der Idealroute sucht, um eine Bestzeit klettert oder im vereinfachten Touristenmodus die Landschaft genießt, ist jedem selbst überlassen

Nature Treks VR nimmt den Nutzer mit in idyllische Landschaften und andere Szenarien. Zu den interaktiven Welten zählen eine einsame Insel, eine Savanne, eine Unterwasserwelt, aber auch der Weltraum. Immer wieder tauchen auch Tiere in der Umwelt auf

Postkarten aus dem VR-Urlaub

Im echten Strandurlaub werde ich nach spätestens sechs Tagen unruhig. Im VR-Superkurzurlaub bemerke ich ein ähnliches Muster. Ich lade mir Apps wie „Real VR Fishing“ oder „The Climb“ herunter, die idyllische Settings mit einer Herausforderung verbinden. Macht doch viel mehr Spaß, auf dem Gipfel zu stehen, wenn man selbst hochgeklettert ist. Eindrucksvoll auch die VR-App „National Geographic Explore“, in der man als Fotograf in der Antarktis oder den Anden unterwegs ist – das Spiel gibt einen Pfad durch die liebevoll gestaltete Welt vor, die Fotomotive wählt man selbst. Als einmal plötzlich ein Pinguin aus dem eiskalten Pixel-Wasser springt und auf meinem Kanu landet, zucke ich zusammen, behalte aber einen kühlen Kopf und drücke auf den Auslöser. Das Foto kann ich mir per E-Mail selbst schicken. Eine Postkarte aus dem VR-Urlaub, sozusagen.

Eignet sich die VR-Brille als Urlaubsersatz? Das ist eine Definitionsfrage. Wenn man unter Urlaub das Sichselbst-Mästen im All-inclusive-Resort versteht, dann eher nicht. Und wer gern in Hostels im Zentralamazonas Freundschaften knüpft, wird auch nicht zufrieden sein. Auf jeden Fall fühle ich mich nach zwei Wochen VR-Superkurzurlauben erholt und habe mehr Energie. „In den ersten Minuten nach der Landung in einem fremden Land“, schreibt Alain de Botton in „Kunst des Reisens“, „sind die Schleusen unserer Wahrnehmung weit geöffnet.“ Auch wenn man nicht wirklich verreist, kann man diesen Effekt simulieren, indem man nach einem Routine-Tag im Büro mal was Neues erlebt, statt vor Netflix wegzudämmern. Ein „Wow!“ tut uns eben ab und zu ganz gut. Dafür braucht man nicht unbedingt VR-Reise-Apps. Vielleicht hätte ich auch einen Nähkurs anfangen können. Um sich zu erholen, kann man natürlich auch mit der VR-Brille neue Welten erkunden, unbedingt aber sollte man ab und an etwas Neues machen.

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