
22 Kilometer Straße sind längst mit Barrikaden gesäumt, Warnschilder für Autofahrer aufgestellt und selbst Swimmingpools und Gartenteiche gesichert. Eigentlich könnte der Marathon beginnen. Der größte der Welt. Der älteste. Und der gefährlichste. Mindestens 65 Millionen Läufer werden Anfang November 2006 erwartet, auf einem Eiland, ein Drittel größer als Sylt: der australischen Weihnachtsinsel im Indischen Ozean. Briefmarken und Poststempel, T-Shirts, Rucksäcke und Tassen sind mit den Athleten geschmückt: breiter Körper in rot glänzendem Chitin-Trikot, wachsame Facettenaugen, zwei kräftige Scheren, acht schlanke Beine.
Darunter die Signatur Gecarcoidea natalis, Rote Landkrabbe. Doch wo stecken die Marathoniken? Es ist ihnen zu heiß, es ist ihnen zu trocken. Und so verharren sie in ihren Startlöchern im nahen Regenwald: in bis zu einem Meter langen und 35 Zentimeter tiefen Höhlen.
In der Regenzeit beginnt der Marathon
"Sie laufen immer erst, wenn die Regenzeit beginnt", erklärt der Tierphysiologe Steve Morris von der University of Bristol. Er reist seit 20 Jahren zu jedem Marathon. Die bis zu acht Kilometer lange Strecke vom Inselinnern an die Küste ist für Landkrabben die weltweit mit Abstand längste Laufdistanz. Eine Besonderheit: Nicht etwa der Starttermin steht vorher fest, sondern die Ankunftszeit. Die letzte Etappe - das Laichen der Weibchen im Meer - endet synchronisiert mit dem Mondzyklus kurz vor Neumond, also dann, wenn der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser besonders gering und damit die Brandungszone weniger gefährlich ist. Hinzu kommen noch die Disziplinen Extremklettern, Wrestling, Höhlenbau, Paarung - und, lediglich für Frauen, Gewichtheben: Während des Marathons tragen die Läuferinnen bis zu 100.000 Eier bei sich. "Das ist, als müsste ein Mensch einen Fünf-Kilo-Sack Kartoffeln 35 Kilometer weit schleppen", erklärt der Krabbenforscher Morris.
Höchst eigenwillige Lauftechnik
Die internationalen Wettkampfbeobachter suchen noch immer den Himmel nach Wolken ab - da gerät der Waldboden plötzlich in Bewegung. Trockenes Laub verschiebt sich in windloser Stille. Unter den Blättern tasten sich behaarte Beinspitzen hervor. Kräftige Scheren hieven Körper aus dem Boden, glänzend im frühen Sonnenlicht. Dann setzt ein sanftes, gleichmäßiges Prasseln ein, als regnete es endlich. So klingen Tausende Bein- und Scherenspitzen, die über einen Blätterteppich eilen. In der Nacht zuvor hat sich die Luftfeuchtigkeit auf 94 Prozent erhöht. Das muss reichen, denn die Läufer spüren: Wenn sie jetzt nicht starten, schaffen sie den nächsten Termin für die Eiablage nicht und müssen ihr Programm um einen vollen Monat verschieben.
Um ihren breiten Körper schneller tragen zu können, bewegen die Crab-Sportler ihre zehn Beine, Scheren mitgezählt, im Seitwärtsgang. Dabei lässt sich jedes Gliedmaß in alle Richtungen bewegen - dank seiner sieben Segmente. So schaffen die Marathoniken in der Ebene Spitzengeschwindigkeiten von bis zu sechs Metern pro Minute, können aber auch schwierigste Klettergrade an waagerechten Felsüberhängen bezwingen. Überhaupt sind die Krabbenpanzer Wunderwerke der Rüstungstechnik: Die Tiere benötigen keine Visiere - die Augen selbst lassen sich in passgenaue Mulden herunterklappen. Zu eng gewordene Außenskelette werden abgelegt, deren kostbare Wertstoffe recycelt: Die kalziumreiche Chitin-Kruste landet auf dem Speiseplan. Die männlichen Einzelgänger finden sich binnen Stunden zu dichteren Feldern zusammen, die in allen Himmelsrichtungen auf die Küste zustreben. Sie haben schwieriges Terrain zu überwinden: Die Streckenverläufe führen über steile Felswände, Überhänge und Geröllhalden aus messerscharfem Kalkgestein.
Nach jahrelangen Aufzeichnungen kann der Marathon-Forscher Steve Morris inzwischen klare Laufmuster erkennen: Ganze Krabben-Nachbarschaften nehmen alljährlich den gleichen Weg an die Küste - nicht unbedingt den kürzesten, aber einen erstaunlich gradlinigen. Wie sie sich dabei orientieren, kann auch Steve Morris allenfalls vermuten. Vielleicht wiederholen sie die Route, die sie erstmals gelaufen sind, als sie nach ihrem Larvenstadium aus dem Meer an Land kamen. Und noch gar keine Daten hat er zu der Frage, wie weit ihr Weg noch ist. In Jahren, in denen noch reichlich Zeit bis zur Eiablage bleibt, bummeln die Männchen und drehen Ehrenrunden. Denn auf der Weihnachtsinsel will keiner zu früh am Ziel sein. Diesmal haben sie es eilig: In acht Tagen ist der Paarungstermin. Gefressen wird deshalb zeit- und energiesparend im Gehen.
Abgesprengte Gliedmaßen zucken über den Asphalt
Neun Uhr, die Sonne steht schon hoch am Himmel. Hunderte Krabben sind vom Wald in eine Wüste geraten. Die Luft flimmert. Die ersten Läufer kollabieren. Klappen ihre Augen ein, ziehen die Beine an, um der Sonne möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Aber ihr Panzer ist so durchlässig wie die Haut einer Kröte. Auch über ihre Lungen verlieren sie Wasser und lebenswichtige Salze. In der Wüste sterben viele Krabben. Auch im Wald halten die Läufer nur bei Regen bis zum Abend durch. Bei dem gegenwärtigen Schönwetter müssen sie pausieren: Von etwa 9 bis 17 Uhr ruhen sie im Laub, in Felsnischen, Baumhöhlen und unter Wurzeln. Wegen Hochbetriebs sind viele Rastplätze mehrfach belegt. Auf der East-West-Baseline-Road kommt es am nächsten Morgen zu einem schweren Unfall. Mit 100 km/h donnert ein fast 80 Tonnen schwerer, elfachsiger "Roadtrain" heran – mitten in einen Zug von Läufern. Manche versuchen zu flüchten, andere reißen drohend die Scheren hoch. Dann klingt es, als raste jemand über ein Straßenpflaster aus rohen Eiern. Abgesprengte Gliedmaßen zucken über den Asphalt, den eine Haut aus Krabbenpaste überzieht.
Es kommt immer wieder zu tödlichen Anschlägen
"Überall Tote", ruft die junge Frau in ihr Funkgerät. "Hier auch", meldet ihr knackend die Stimme eines Kollegen zurück. Dann krachen wieder Machetenschläge. In einer Fünfer-Kolonne arbeiten sich Mitarbeiter des Nationalparkamtes durch den Wald. Hier haben schon lange keine Gärtner mehr gewirkt, das Unterholz ist zum Dickicht gewuchert. Denn hier ist Kriegsgebiet. Seit Mitte der 1990er Jahre kommt es immer wieder zu tödlichen Anschlägen auf Wohnhöhlen und durcheilende Sportler. Die Attentäter setzen stark ätzende Säure ein, die ihre wehrlosen Opfer erblinden und ihre leuchtende Farbe verlieren lässt. Schaum und schwarze Flüssigkeit quellen aus dem Mund, die Kräfte erlahmen. Innerhalb von zwei Tagen sterben sie. Schätzungsweise 30 Millionen Tote waren in den vergangenen zehn Jahren zu beklagen. Die Angreifer sind seit den 1930er Jahren in mehreren Gruppen unbemerkt per Schiff auf die Insel gelangt: Gelbe Spinnerameisen aus Westafrika oder Asien. Lange verhielten sich die vier Millimeter kleinen Ameisen unauffällig, dann aber haben sie sich aus unbekannten Gründen explosionsartig vermehrt und zu Superkolonien zusammengeschlossen.
Tosend brechen hohe Wellen sich an den Klippen, jagen Fontänen weit hinein in das Land. Eingestaubt eilt die Prozession der Meerwasser-Dusche entgegen: ein kurzes Chill-out vor der nächsten Etappe. Glänzend herausgeputzt eilen sie schon bald zurück in den küstennahen Wald, um die Ankunft der Läuferinnen vorzubereiten. So kurz vorm Ziel ist auch bei den Crab-Sportlern Schluss mit der Solidarität. Nun gilt: Jeder gegen jeden. Während manche mühsam mit ihren Scheren Hochzeitshöhlen ausbaggern, versuchen andere, diese hinterrücks zu besetzen. Die Kontrahenten ringen mit acht Beinen, nehmen sich in den Scherenschwitzkasten, schleudern den Gegner vom Platz. Einen Tag später treffen die Läuferinnen ein. Scheinbar ziellos wandern sie an den Männern vorbei, die den Eingang zu ihren Höhlen flankieren. Nach welchen Kriterien sie ihren Champion wählen, konnte bisher kein Forscher aufdecken. Die Nachwuchsförderung findet dann meist diskret im Höhleninneren statt: Bauch an Bauch, Beine und Scheren einander umklammernd, 20 Minuten lang. Zwölf Tage später, kurz vor Neumond, letzte Etappe.
Aus halbgeöffneten Bauchklappen quellen schwarze Eier
Die werdenden Väter sind längst an den Start zurückgekehrt. Jetzt verlassen die Läuferinnen die Paarungshöhlen und machen sich klar zum Finale: verhaken sich in den Felsüberhängen der Küste oder versammeln sich an den Stränden. Stellenweise drängen sich 100 Tiere auf einem Quadratmeter. Aus halbgeöffneten Bauchklappen, einem Relikt des Hinterleibes, quellen schwarze Eier, gehalten von gefiederten Beinchen. Gegen drei Uhr morgens ist es so weit. Die ersten Krabben sprinten in die Wellen, richten sich schnell auf und wedeln mit ihren Scheren, um ihre Bauchtaschen zu entleeren. Von den Klippen regnet es Eier. Ein Tanz auf Leben und Tod, bei dem Tausende Athletinnen abstürzen oder fortgespült werden. Sie ertrinken in den gleichen Wellen, die ihr Nachwuchs zum Leben braucht: Die Larven entwickeln sich vier Wochen lang im Wasser und klettern dann als drei Millimeter kleine rote Krabben an Land. Die Kinderstube im Ozean ist das letzte Erbe ihrer aquatischen Vergangenheit – Ursprung und Ende des Christmas Island Marathon.