GEO.de: Kürzlich wurde das Bundesjagdgesetz geändert: Es sollen mehr Rehe geschossen werden, um dem Wald zu helfen. Gehen Sie da mit?
Josef H. Reichholf: Nein. Was den Rehen – im Prinzip richtigerweise – unterstellt wird, ist nicht neu. Aber es ist nicht in dem Sinn richtig, dass man mit weiterer Steigerung der Bejagung das Problem lösen könnte. Was in fünfzig Jahren nicht funktioniert hat – trotz steigender Abschusszahlen – wird auch mit der neuen jagdlichen Verpflichtung nicht zu lösen sein.
Mehr jagen ist nicht die Lösung? Woran liegt das?
Das Reh ist seiner Natur nach kein eigentliches Waldtier. Aber die Art der Bejagung hat das Reh so scheu gemacht, dass es praktisch gezwungen ist, Zuflucht im Wald zu suchen. Und je mehr gejagt wird, umso mehr wird diese Scheu gefördert. Die scheuesten Tiere überleben und bleiben in den Wald hinein gedrängt – und gezwungen, sich von dem zu ernähren, was dort wächst. Ich erinnere mich, dass noch in meiner Kindheit und Jugend die Rehe draußen auf den Fluren waren. Ab Herbst sah man Rudel mit bis zu 60 oder 70 Stück.
Gab es damals eigentlich mehr Unfälle mit Wild?
Im Gegenteil: Die Zahl der Wildunfälle hat drastisch zugenommen. Und zwar nicht nur, weil die Verkehrsdichte gestiegen ist, sondern, weil die Rehe vornehmlich bei Nacht und Nebel den Wald zu verlassen versuchen, dabei die Straßen überqueren und mit Autos kollidieren.
Worauf stützen Sie sich bei Ihrer These?
Es gibt den indirekten Beweis, dass die starke Steigerung der Rehabschüsse ihr Ziel nicht erreicht hat. Die Vorgehensweise war nicht zielführend. Das Zweite ist der Befund, dass die Rehe dort, wo sie nicht so intensiv bejagt werden, etwa in Teilen Ostdeutschlands oder Osteuropa, das ganze Jahr über auf der freien Flur stehen – auch im Winter, wenn die Nahrung knapp ist. Wo die Bejagung von der Zeitspanne her stark reduziert durchgeführt wird, vergrößert sich die Aufenthaltsspanne der Rehe in der offenen Landschaft. Man hat den Wald zur Ruhezone des Wildes erklärt. Das war falsch.
Was folgt daraus für die Jagd?
Das zentrale Problem ist, dass die Rehwildbejagung bei uns auf der Basis von Jagdrevieren stattfindet. Jagdreviere sind teuer, und darum versuchen die Revierinhaber, das Wild mit Fütterungen an das eigene Revier zu binden. Darum wird ja oft auch der Wolf so kritisch gesehen: Er vertreibt die Rehe aus dem Revier. Unser Revierjagdsystem ist ein Erbe feudaler Strukturen – und nicht geeignet, die Problematik in den Griff zu bekommen.
Was wäre besser?
Ein Lizenzjagdsystem würde, wie in anderen Ländern auch, ermöglichen, dass viele Jäger in kurzer Zeit relativ viele Tiere erlegen. Die Jagd würde dadurch wie eine Naturkatastrophe über den Wildbestand kommen. Sie wäre schnell vorbei – und den überwiegenden Rest des Jahres herrschte Ruhe. Denkbar wären zum Beispiel Anlockfütterungen in der Flur, wo man einen guten Überblick hat. Da müssten dann allerdings auch die Landwirte mitziehen. Und man sollte mit Schalldämpfer schießen, damit die Rehe nicht lernen, den Schuss mit der Gefahr zu verknüpfen.
Wie kann denn Ihrer Meinung nach der notwendige Waldumbau gelingen?
Sowohl Staats- als auch Privatforste müssen standortheimische oder standorttypische Baumarten säen. Es ist absurd anzunehmen, dass jedes gepflanzte Bäumchen überlebt. Der natürliche Zustand ist, dass auf 100.000 Sämlinge einer überlebt. In Reih und Glied Bäumchen zu pflanzen und anzunehmen, dass alle durchkommen, das ist Gärtnermentalität, fern der ökologischen Realität. Und wenn, wie in Bayern, das ganze Jahr über intensive Holzernte betrieben wird, erzeugt das weitere Störungen. Und es gibt umso mehr Verbiss.
Jagen Sie eigentlich selbst?
Nein. Ich kenne viele vernünftige Jäger, stehe aber dem Prinzip der Jagd als Regulierung kritisch gegenüber. Genauso, wie ich als Ökologe die heute vorherrschende Art der Waldbewirtschaftung kritisch sehe. Das ist eine Bewirtschaftung wie auf Maisfeldern, nur eben in erheblich längeren Zeiträumen.