Eine heikle Aufgabe
Für Mathematikstudenten wäre das eine schöne Rechenaufgabe: Angenommen, eine schwangere Wanderratte (Rattus norvegicus) überlebt auf einer einsamen Insel. Nach 21 Tagen bekommt sie acht Junge. Nach 84 Tagen beginnen diese, sich mit ebenfalls je acht Jungen pro Wurf fortzupflanzen. Sechsmal im Jahr. Auch ihre Mutter wird wieder trächtig. Wie viele Nachkommen hinterlässt sie, wenn sie nach 18 Monaten stirbt? - 25.408.
Für Tony Martin wäre das eine Katastrophe. Der britische Zoologe hat zwei Helikopter gekauft, 56 Tonnen Gift mischen lassen und 30.000 Liter Benzin nach Südgeorgien verschifft, um nichts anderes zu tun, als die Insel von Ratten zu befreien. Wie viele der Nager auf dem subantarktischen Eiland leben, weiß kein Mensch. 100.000? Eine Million? Auf jeden Fall aber genug, um eines der beeindruckendsten Vogelparadiese zu zerstören. Und genau das will Martin verhindern.
Ein prometheisches Unterfangen: Nie zuvor wurde versucht, eine so große, so entlegene Insel von den die Vogelbrut fressenden Räubern zu befreien. Der nächste Hafen liegt 1400 Kilometer weiter westlich auf den Falklandinseln, und abgesehen von ein paar Kreuzfahrtschiffen kommt nur einmal im Monat ein staatliches Patrouillenschiff vorbei. Ein logistischer Albtraum also, noch dazu in der stürmischsten Region der Erde.
Aber nur wenn möglichst keine einzige Ratte überlebt, kann sich Südgeorgien in jene Insel zurückverwandeln, die sie war, bevor der Mensch die aggressiven Nager einschleppte: der Brutplatz für die größte Zahl an Seevögeln in der südlichen Hemisphäre, vielleicht sogar auf der Welt.
1. März 2011, fünf Uhr früh. Die Königspinguine schlafen noch. Den Kopf unter die Flügel gesteckt, stehen sie am Strand vor der Forschungsstation des British Antarctic Survey. Jenseits der Bucht erhebt sich eine Bergkette aus der Dämmerung. Bis zu 3000 Meter ragen schneebedeckte Gipfel empor, Gletscher zeichnen weiße Bänder in dunkles Geröll. Kein Baum, kein Gebüsch wurzelt hier, nur Gras säumt die Küste. Stumm ruht das Meer, reglos stehen die Wolken am Himmel.
Flugwetter! 15 Jahre lang hat Tony Martin auf diesen Tag gewartet. Der Mann, der Südgeorgien in den kommenden Wochen radikal verändern will, ist klein, schmal, jungenhaft trotz seines grauen Bartes. 18 Monate zuvor hat ihn der South Georgia Heritage Trust zum Leiter der knapp acht Millionen Euro teuren Rattenausrottung ernannt. Und rückblickend erscheint es, als sei Martins ganzes Leben eine Vorbereitung darauf gewesen. Er ist Antarktisforscher, Experte für Meeressäuger, er kann Bagger und Gabelstapler fahren, Flugzeuge fliegen und andere Menschen begeistern. Um einen schwedischen Unternehmer zu überzeugen, die erste Projektphase zu finanzieren, brauchte er ganze 15 Minuten.
Martins elfköpfiges "Team Rat" verlässt den neonhellen Speiseraum am King Edward Point: Neuseeländer, Australier, Falkländer, Briten. Bereit zu einer Aktion der Superlative, in einer Natur voller Superlative.
Bis zum Südpol ist es zwar von hier aus noch so weit wie von Hamburg zum Nordpol, trotzdem ist Südgeorgien zu mehr als der Hälfte von Eis und Schnee bedeckt: Die Insel liegt südlich der Polarfront. Ihre Küsten umfließt der Antarktische Zirkumpolarstrom. Wohl nirgendwo sind die Gewässer des Südpolarmeers nährstoffreicher als hier. Nirgendwo beherbergen sie eine größere Vielfalt an Meereslebewesen. Die weltgrößten Vorkommen von Krill treiben an Südgeorgien vorbei. Die wenige Zentimeter kleinen Krebse sind Grundnahrungsmittel für Wale, Robben und Seevögel - und zwar in Millionenstärke. Und von diesen brauchen die meisten irgendwann eisfreies Land für die Brut. Und das bietet Südgeorgien, diese ostwärts gewanderte Verlängerung der Anden: die größte Landmasse weit und breit.
Eine Serengeti im Südpolarmeer
Das Eiland ist 170 Kilometer lang und hat eine Fläche von der Größe Mallorcas. Aber die Strände sind voller. Bis zu fünf Millionen Antarktische Seebären und 200.000 Südliche See-Elefanten belegen ab Oktober so ziemlich jeden Quadratmeter - beim weltweit größten Paarungstreffen von Meeressäugern. In der zweiten Reihe finden sich noch gewaltigere Ballungsräume: Die Kolonien der Königspinguine. Wie bei einem Open-Air-Konzert stehen Hunderttausende Tiere beisammen, und genauso laut sind sie auch.
Naturforscher vergleichen den Tierreichtum Südgeorgiens mit jenem der afrikanischen Serengeti. Mehr als ein Viertel aller Goldschopfpinguine bekommen hier ihren Nachwuchs, ein Drittel aller Eselspinguine und knapp die Hälfte aller
Graukopfalbatrosse. Bei den meisten der 31 hier brütenden Vogelarten fehlen zuverlässige Zahlen. Die Schätzungen schwanken zwischen 30 und 65 Millionen.
Doch das ist nur noch ein Bruchteil des einstigen Lebens: "Es würde mich nicht wundern, wenn mehr als 90 Prozent fehlen", sagt Martin. "Der Anblick der Pinguin- und Albatroskolonien ist irreführend. Die meisten Vögel kommen nur nachts auf die Insel - und diese Arten sind fast verschwunden."
Eingeschleppte Wanderratten fressen jedes Jahr Millionen Tiere und Eier. Sie sind schlau, sie können Distanzen von bis zu einem Kilometer schwimmen und bis zu drei Tage im Wasser überleben. Nur die großen Arten wie Pinguine, Albatrosse oder Riesensturmvögel können sich mit ihren Schnäbeln gegen die Nager wehren. Kleine Vögel, darunter Buntfuß-Sturmschwalben, Blau- , Tauch- und Taubensturmvögel, sind ihnen ausgeliefert. Schutzlos
nisten sie auf dem Boden oder in Erdhöhlen. Viele legen nur ein Ei pro
Jahr; kaum ein Küken überlebt die erste Woche. Die größte Sorge der Naturschützer gilt den beiden Vögeln, die
ausschließlich auf Südgeorgien vorkommen: der
Südgeorgien-Spitzschwanzente, die als Einzige ihrer Gattung auch Fleisch
frisst, und dem Riesenpieper, der am weitesten südlich lebenden
Singvogelart. Er brütet nur noch auf vorgelagerten Inseln, doch sicher
vor den Ratten ist er auch dort nicht überall: Vor wenigen Jahren
verstummten die Vögel auf dem knapp 300 Meter von der Küste entfernten
Saddle Island.
Ratten, die Biodiversitätskiller
Ratten sind Generalisten. Sie haben weltweit mehr als 80 Prozent aller
Inselgruppen erobert, alle drei Jahre kommt ein weiteres Eiland hinzu.
Ihre Raubzüge sind hier noch vernichtender als auf dem Festland, da die
Nager auf Inseln so gut wie keine natürlichen Feinde antreffen, wohl aber
viele einzigartige Spezies, die sich in der Abgeschiedenheit entwickeln
konnten - ohne Schutzmechanismen gegen räuberische Säuger. Deshalb sind
Ratten verantwortlich für die größten Verluste an Biodiversität auf
Inseln.
Letzte Kontrolle der Cockpit-Anzeigen, dann fährt Peter Garden "Alpha
Mike" hoch - einen gelben Helikopter, konzipiert zur Panzerabwehr, gebaut
als Luftlimousine für Jackie Onassis, zuletzt Rettungshubschrauber in
Schottland. Garden steckt in einem wasserdichten Überlebensanzug, auf
seinem Helm klebt der Cartoon einer toten Ratte. Der 65-Jährige ist der
erfahrenste Pilot für Rattenausrottung weltweit. 15.000 Flugstunden hat
er schon hinter sich, Einsätze auf den Seychellen, Galapagos- und
Fidschi-Inseln.
Garden kommt aus Neuseeland. Nirgendwo wurden mehr Inseln von Ratten
befreit als in seiner Heimat. Weil das Inselreich seit mindestens 80
Millionen Jahren von anderen Landmassen isoliert ist, hat es besonders
viele eigene Arten hervorgebracht - und leidet umso mehr unter den
Raubzügen eingeschleppter "Aliens". 50 Vogelspezies sind bereits
ausgestorben.
Langsam steigt "Alpha Mike" auf und hebt an einem Seil einen Trichter aus Stahl an, 1,20 Meter hoch und gefüllt mit 300 Kilogramm Gift.
Die Welt am Boden wird zur Miniatur: der "Flugplatz", das Fundament eines abgerissenen Kühlhauses; daneben der "Hangar", eine Werkhalle aus verrostetem Blech. Riesige, vom Wind eingedrückte Öltanks, löchrige Kessel, Maschinen und Ankerketten, am Ufer die Wracks von Walfangschiffen und ein Friedhof mit dem Grab des Polarforschers Ernest Shackleton.
Die Basis des Rattenteams ist ein verlassener Walfangort, einen Kilometer entfernt von der Forschungsstation. Ein passender Platz, denn er erzählt die Geschichte einer gnadenlosen Ausbeutung der Tierwelt durch den Menschen. Grytviken, heißt er, norwegisch für "Kesselbucht".
Die Zeit 250 Jahre zurückdrehen
Als der britische Entdecker James Cook Südgeorgien 1775 für König Georg III. in Besitz nahm, erschien ihm die Insel völlig wertlos. Doch schon bald gingen Robbenfänger mit ihren Kesseln an Land und kochten Hunderttausende See-Elefanten zu Tran. Königspinguine waren der Brennstoff. Millionen von Seebären
zogen die Jäger das Fell ab für Handschuhe, Buchumschläge, später auch Hüte. Binnen weniger Jahrzehnte waren die antarktischen "Pelzrobben" so gut wie ausgerottet.
Mit ihnen hatten die Wale einen wichtigen Konkurrenten um Krill verloren und tauchten nun häufiger vor Südgeorgiens Küsten auf. Der Vernichtungsfeldzug ging in eine neue Runde. Norweger errichteten 1904 Grytviken, die erste von sieben Walfangstationen entlang der Ostküste. Sie verwandelten Südgeorgien in den blutigsten Schauplatz des Walfangs im 20. Jahrhundert: 275.000 Südkaper, Buckel-, Blau- und Finnwale wurden hier bis in die 1960er Jahre zu Öl und Dünger verarbeitet. Dazu kamen ungezählte Tiere, die auf Fabrikschiffen geschlachtet wurden. Als es kaum noch Wale gab, fanden sowjetische Fangflotten neue Ziele: Sie fischten vor Südgeorgien Antarktisdorsche und Makrelen, bis deren Bestände ebenfalls zusammenbrachen - und endlich auch die UdSSR.
Erst als es nichts mehr zu holen gab, zog sich der Mensch zurück. Heute haben Antarktische Seebären die zerfallenen Häuser der Walfänger bezogen, lümmeln auf den ehemaligen Schlachtrampen, toben zwischen den Wracks wie Kinder an einem heißen Sonntag im Freibad. Um bis zu zehn Prozent jährlich wächst ihre Zahl auf Südgeorgien. Und nachdem sie noch in den 1930er Jahren zu den seltensten großen Säugetieren der Welt
zählten, sind sie nun eines der häufigsten. Auch die Walpopulationen erholen sich, sehr langsam. Heute leben 2000 bis 3000 Blauwale im Südpolarmeer, ein Hundertstel der einstigen Population. Die Fischerei wurde massiv eingeschränkt.
Und so ist zwar der Mensch aus Südgeorgien verschwunden, nicht aber seine fatalste Hinterlassenschaft: ebenjene Ratten, die einst auf Schiffen kamen und sich vermehrten. "Die Vögel haben nur dann eine Chance, wenn der Mensch noch einmal eingreift", sagt Martin. "Wir müssen die Zeit zurückdrehen - bis zu Cooks Ankunft vor fast 250 Jahren."
Gletscher als Schutzwälle
Peter Garden hat die südliche Begrenzung des ersten Einsatzgebietes erreicht: den Nordenskjöld-Gletscher. Ein mächtiger weißer Strom, mit tiefen Furchen, von Staub dunkel eingefärbt. Drei Kilometer breit und 20 Meter hoch schiebt sich die Eiszunge ins Meer, darüber, klein wie ein Spielzeug, der gelbe "Alpha Mike". In einem weiten Bogen wendet Garden, darauf bedacht, dass der Giftbehälter nicht in Schwingung gerät und wie ein Pendel am Helikopter zerrt. Durch die Luftvibrationen löst sich eine Gletscherklippe und stürzt donnernd ins Wasser.
Mehr als 100 Gletscher erstrecken sich bis an Südgeorgiens Küsten. An einigen Orten schirmen sie letzte Vogelbrutgebiete vor der Invasion der Nager ab. Die Gletscherbarrieren sind auch für die Ausrottung unverzichtbar. "Südgeorgien ist im Prinzip wie eine Reihe von Inseln", erklärt Garden. "Dadurch können wir schrittweise vorgehen, ohne dass Ratten Terrain zurückerobern." Nur so ist es überhaupt möglich, insgesamt 80.000 Hektar von Ratten zu befreien - eine siebenmal größere Fläche als jemals zuvor.
In der ersten Projektphase 2011 werden drei solcher isolierten Gebiete sowie Saddle Island mit Gift behandelt, 2015 soll die Rettungsaktion abgeschlossen sein. Ein Wettlauf gegen die Zeit: Durch den Klimawandel schmelzen die Schutzwälle aus Eis - bis zu einem Meter pro Tag.
Am Gletscherrand beginnt ein schmaler Kiesstrand. Verblichene Walknochen liegen herum, die Rückenwirbel so groß wie Kinderfahrräder. Angeschwemmt in Walfängertagen, als ausgeschlachtete Kadaver zurück ins Meer gestoßen wurden und zusammen mit Ratten in andere Buchten trieben.
Daneben faulenzen ein paar See-Elefanten. Massige Körper, drei, vier Meter lang, Jungtiere noch. Sie schenken dem Hubschrauber nicht mehr als ein Blinzeln. Königspinguine, die am Wasser promenieren, verdrehen ihre Hälse.
Flughöhe 50 Meter, Geschwindigkeit 60 Knoten. Auf einem Monitor sieht Garden, wo er mit dem Giftabwurf beginnen soll: Per Knopfdruck öffnet er den Verschluss des Giftbehälters, ein Rotor schleudert die Köder in alle Richtungen.
Es ist, als hagelte es halbe Stückchen runder Tafelkreide vom Himmel, in der Farbe von Pistazieneis.
Die Zeit 250 Jahre zurückdrehen
Die Mischung, die das Gift für die Ratten unwiderstehlich macht, ist geheim. Haferflocken gehören dazu und Brodifacoum. Das in den 1980er Jahren entwickelte toxische Gemisch wirkt in geringen Dosen und führt nach einigen Tagen zu inneren Verblutungen. Kein schneller Tod, aber die einzige Möglichkeit, die Tiere zu überlisten. Weil zwischen Fressen und Sterben Tage vergehen, erkennen sie nicht den Zusammenhang - und fressen die Köder auch weiterhin.
So konnte 1987 mithilfe von Giftstationen erstmals eine größere Insel von Ratten befreit werden: Breaksea Island in Neuseeland, 170 Hektar Fläche.
Die Räuber vergiften, nicht die Vögel
Sally Poncet schaut kurz zum Hubschrauber auf, dann heftet sie ihren Blick wieder auf den Boden. Die zierliche Frau, das Haar wie zu einem Vogelnest gesteckt, läuft ein zuvor ausgemessenes Gebiet ab - und sammelt zwischen Moosbetten und Miniaturfarnen die grünen Giftstückchen wieder ein. Sie will prüfen, ob die Menge stimmt.
Genau beobachten, akribisch zählen, das macht Poncet auf Südgeorgien schon seit über 30 Jahren. Immer wieder verbringt die Naturforscherin Monate in entlegenen Buchten und zählt Vögel, meist im Auftrag der britischen Regierung, die Südgeorgien von den Falklandinseln aus als Überseeterritorium verwaltet. Niemand kennt die Insel besser als sie. Und die Bewegungen der Ratten.
"Wenn sich Jungtiere eigene Reviere suchen müssen, verlassen sie die Grünflächen und legen oft weite Wege durch karges Gelände zurück." Poncet hat ihre Spuren bis an die Eisgrenze in 600 Meter Höhe gefunden. Also muss bis dorthin Gift gestreut werden: auf einem Fünftel der Insel.
"Ganz Südgeorgien von Ratten zu befreien, das übertrifft fast mein Vorstellungsvermögen. Aber wenn diese erste Phase klappt, wird hoffentlich auch das Unmögliche möglich", sagt Poncet, die vor zehn Jahren von Hand Gift auf dem vorgelagerten Grass Island gestreut hat. Heute nistet dort wieder der Pieper.
Alle fünf bis zehn Meter findet Poncet einen Köder. Sie wiegt nach: zwei Kilogramm pro Hektar, wie geplant. In den Vegetationszonen sollen einige Tage später noch einmal vier Kilogramm nachgestreut werden, um Nachzügler zu erwischen und Mäuse, die in mindestens zwei Buchten vorkommen.
Wie wichtig eine sorgsame Dosierung ist, hat 2008 die Schädlingsbekämpfung auf einer Aleuten-Insel gezeigt. Aus ungeklärten Gründen wurden auf der "Ratteninsel" (ein neuer Name wird noch gesucht) weitaus mehr Köder gestreut als genehmigt. Nicht nur die Nager, sondern auch Beringmöwen griffen zu - und verendeten. Ihre giftigen Kadaver zogen wiederum Weißkopfseeadler an, die normalerweise schon zur Lachsjagd aufgebrochen wären. 46 Adler und Hunderte andere Vögel starben.
"Die größte Herausforderung ist, nicht auch die zu töten, die man schützen will", sagt Tony Martin. Seine Sorge gilt den Spitzschwanzenten. "Wenn wir die verlieren, dann für immer." Sicherheitshalber züchtet der selbst ernannte "Duckologist" oder "Entologe" seit 1997 zu Hause in England die seltenen Enten. Ihnen hat er auch - giftfreie - Köder in grün und blau vorgesetzt. "Blau zog sie an, Grün nicht."
Martin hat mit dem Projektbeginn gewartet, bis die meisten Zugvögel fort waren; die Größe der Köder so gewählt, dass sie für viele Vögel schwer zu schlucken sind; die Giftcontainer nur halb befüllen lassen, damit die Fracht nicht in kleinere Stückchen zerbricht. Trotzdem könnten vor allem Möwen das Gift fressen, braune Raubmöwen verschlucken toxische Rattenkadaver. "Aber dieses Risiko müssen wir in Kauf nehmen, denn die Nager töten jedes Jahr Millionen von Vögeln", sagt Martin. Auf Südgeorgien zieht er jede Nacht mit einem Kescher los, um Enten mit einem Sender auszustatten. So will er verfolgen, ob die Tiere den Gifteinsatz überleben.
Eine Panne, noch am ersten Tag
Immer wieder lehnt sich Garden aus der offenen Tür des Helikopters, prüft, ob noch Gift im Trichter ist. Auf einem Monitor sieht er eine Landkarte mit seiner Flugroute: schnurgerade Linien mit Wendekreisen am jeweiligen Ende. Es sieht aus wie das Schnittmuster eines Rasenmähers. 80 Meter liegen die Bahnen auseinander. Weicht Garden auch nur einen Meter vom Kurs ab, warnen ihn Lichter. Und bei jedem Tankstopp am Boden werden die aufgezeichneten Flugdaten kartographisch ausgewertet. Falls irgendwo auch nur eine geringe Lücke klafft, muss Garden nacharbeiten. Technik made in Neuseeland. "Erst dank GPS kam Mitte der 1990er Jahre der Durchbruch für die Rattenbekämpfung aus der Luft", sagt Garden, "vorher wäre der Giftabwurf viel zu ungenau gewesen." Fast 300 Inseln wurden seither von Ratten befreit.
Die Fluglinien des Neuseeländers sehen aus wie mit dem Lineal gezogen. Doch wie schwer es ist, in bergigem Gelände geradeaus zu fliegen und auch noch stets den gleichen Abstand zum Boden zu halten, offenbart der Flugschreiber des zweiten Helikopters. Dessen Pilot, der Brite Bob Brett, beherrscht zwar schwierigste Polizei- und Rettungsmanöver, aber noch sind seine Flugbahnen krakelig wie Kinderzeichnungen. Und ein größeres Problem wird das Team bekommen, gleich am ersten Tag: Garden nähert sich mit "Alpha Mike" dem Flugplatz, setzt den leeren Trichter ab und verharrt daneben in der Luft. Wer kann, sucht Deckung vor dem Sturm der Rotorblätter. Ein Gabelstapler fährt vor, an seinen Zinken ein großer, unten verschnürter Sack voller Gift. Über dem Trichter kommt er zum Stehen, der stellvertretende Projektleiter öffnet ihn. Pistazienfarbener Giftstaub umweht ihn, er trägt Mundschutz, Helm, Ohrenschützer, Schutzoverall.
Ein Blick zur Bucht, dort ist Bob Brett im roten Helikopter im Anflug, er wird warten müssen. 20 Sekunden, dann setzt der Gabelstapler zurück, Garden gewinnt wieder an Höhe. Da stürzt der Trichter um, Köder landen im Gras. Helfer eilen mit Eimern herbei, schütten sie zurück in den Trichter, "Alpha Mike" im Nacken.
Ein Blick hinüber zur Bucht. Der rote Hubschrauber trägt keinen Giftbehälter mehr.
Der Trichter schwimmt im Meer. Und versinkt.
"Gut, dass dir nichts passiert ist", sagt Martin zum Unglückspiloten, als der den Flugplatz erreicht. Immer erst das Positive. Auch beim Fazit am Abend, vor versammelter Mannschaft: "Ein dramatischer Tag, zum größten Teil fantastisch. Zum anderen Teil nicht ganz so gut." Martin zeigt eine Karte des Einsatzgebietes: 1600 Hektar sind bereits fein säuberlich mit Fluglinien gefüllt, "ein großartiges Ergebnis". Dann der verlorene Trichter: Der Haken, an dem der 13.000 Pfund teure Behälter hing, war beschädigt. Ein erster Tauchgang, um ihn zu bergen, war im trüben Wasser vergeblich. Es gibt zwar einen Ersatz, aber erst muss der Ingenieur des Teams den Haken reparieren und testen.
Martin hatte kalkuliert, dass jeder Helikopter acht Flugtage benötigen würde. Bei gemischter Wetterlage war dafür ein Monat vorgesehen. Unklar jetzt, ob das reichen wird.
3. März 2011. Dichter Nebel, Meer und Himmel sind eins. Mittags kämpft sich die Sonne durch das farblose Einerlei. Doch schon nach einer Flugbahn muss Peter Garden wieder abbrechen: Wie im Zeitraffer jagen Wolken über die Bergspitzen. Südgeorgien ist berüchtigt für seine Stürme. Ungebremst rasen Winde von Kap Hoorn bis an seine Küsten; von den schneebedeckten Bergen stürzen Fallwinde in Orkanstärke zu Tal. Im Flur der Forschungsstation hängt ein Schild: "Heute keine Flüge. Genießt den Tag."
Genießen? Team Rat fürchtet nichts so sehr wie schlechtes Wetter. Immer wieder reden die Neuseeländer von der australischen Macquarie-Insel, einem Weltnaturerbe in der Subantarktis. Dort warteten 2010 vier Helikopterpiloten drei Wochen auf ihren ersten Flugtag. Auch danach waren die zeitlichen Abstände zwischen den Flügen zu groß. Nach zwei Monaten wurde das 18 Millionen Euro teure staatliche Projekt auf das kommende Jahr verschoben.
Doch Martins Team hat Glück. Das Wetter verbündet sich mit ihm. Fast jeder Tag ein Flugtag.
Nach einer Woche hagelt es "Giftkreide" über Grytviken und der Forschungsstation. Auch wenn die Köder sich nicht in Wasser lösen, wird das Trinkwasserreservoir durchgespült. Nur ein Drittel aller Ausrottungsaktionen finden auf bewohnten Inseln statt, zu groß ist die Angst der Menschen vor dem Gift oder der Aufwand, Vieh und Haustiere einzusperren.
Mit Gebäudeplänen durchstreift Team Rat die Walfängerruinen, um dort Köder auszulegen. Im halb verfallenen Wohnheim findet es Rattenspuren, Pin-ups aus den 1940er Jahren, Graffiti von 1982. Türen sind zerschossen, Munition liegt herum - Erinnerungen an den Falklandkrieg, der mit einer argentinischen Invasion in Südgeorgien begann.
In jedem Zimmer, auf Dachböden, in Werkzeugkammern, unter Öltanks, in Wracks: Überall werden Giftköder platziert, jeweils zwölf Stück. Ratten sind nirgends zu sehen.
Sie kommen in der Nacht. Schleppen die Köder Stück für Stück in ihre Nester, legen Vorräte an. Am nächsten Tag ist das meiste Gift verschwunden. Sally Poncet legt nach.
Nach drei, vier Tagen bleiben alle Köder liegen.
Es gibt kaum mehr als dieses indirekte Zeichen, dass die Ratten verendet sind.
Täglich laufen Sally Poncet und der Ornithologe Andy White viele Kilometer Küste ab, um nach toten Vögeln Ausschau zu halten. Einmal fliegt eine Raubmöwe mit einer toten Ratte im Schnabel über sie hinweg. Poncet entdeckt grün eingefärbten Kot eines Weißgesicht-Scheidenschnabels; White kehrt mit einer toten Ente zurück.
Ist sie eines natürlichen Todes gestorben? Oder an Rattengift? Im Labor seziert er das Tier. Innere Blutungen sind nicht zu erkennen. Um Gift im Körper zu identifizieren, enthalten die Köder einen fluoreszierenden Marker. White löscht das Licht und strahlt den Kadaver mit einer UV-Lampe an. Darm und Magenwände leuchten grün: "voller Gift".
In den kommenden Wochen wird die Zahl der toten Enten auf über 120 steigen. Auch die Kadaver von 30 Raubmöwen und einigen anderen Möwen werden gefunden. Bleiben durch den zweimaligen Gifteinsatz in den Vegetationszonen zu viele Köder liegen und werden dann von anderen Tieren gefressen? Müssen die Enten vor weiteren Giftaktionen eingefangen werden? Bis zur nächsten Projektphase muss Martin eine Lösung finden.
Auch das Wappentier ist ein "Alien"
Fortuna Bay, 20 Kilometer nördlich von Grytviken. Die Bucht ist mit Rasen bewachsen, saftig grün und kurz geschoren wie auf einem Golfplatz. Eine Rentierherde grast am Ufer eines Gletscherbaches. 50, 60 Tiere mögen es sein, auch die Weibchen tragen Geweihe. Ein Anblick wie in Norwegen - würden sich nicht im Bach mausernde Königspinguine die Füße kühlen.
Hier sind es die Rentiere, die nicht ins Bild passen. Walfänger hatten sie 1909 für die Jagd ausgesetzt, inzwischen grasen etwa 2000 Hirsche auf einem Fünftel der schneefreien Flächen und zerstören das heimische Tussock - jene bis zu 1,5 Meter hohen Grashorste, in denen vier Sturmvogelarten, Spitzschwanzente und Riesenpieper brüten. Stattdessen breitet sich immer weiter Rasen aus, dessen Samen einst mit Heu auf die Insel gelangt ist.
Die Rentiere sollen aus dem Bild verschwinden, hat die auf den Falklandinseln ansässige Regierung Südgeorgiens beschlossen. Auch sie sind Eindringlinge, eine fremde Art, die Einheimisches verdrängt und das Ökosystem verändert - wie die Ratten.
Da allerdings endet die Parallele. Denn während die Ratten den hässlichen Beinamen "Schädling" tragen, zieren die Rentiere das Inselwappen. "Deshalb reagieren manche Menschen emotionaler", sagt der Umweltbeauftragte für Südgeorgien, Darren Christie. Im Februar 2011 konnte er in der Londoner "Times" die Überschrift lesen: "Helikopter-Scharfschützen engagiert, um Rentier-Eindringlinge zu erledigen". Darin kam die radikale Tierschutzorganisation PETA zu Wort. Es gebe keinerlei Rechtfertigung, Tiere für den Naturschutz zu töten.
Um solchen Angriffen vorzubeugen, wurde das Rentier-Problem mit diplomatischer Umsicht behandelt: Anders als für die Rattenausrottung wurden der Verband der Antarktis-Reiseveranstalter, die britische Königliche Vogelschutzgesellschaft, die Königlichen Botanischen Gärten in London und diverse Südgeorgien- Vereine konsultiert. Um den Genpool der Population zu erhalten, wurden bereits Dutzende Rentiere auf die Falklandinseln gebracht. Alle Tiere zu evakuieren, wäre jedoch zu aufwendig. 95 Prozent der Befragten plädierten daher für die Ausrottung, auch Tony Martin: "Mein Herz sagt, die Rentiere sollen bleiben. Mein Kopf sagt: Wenn wir den Einfluss des Menschen auf die Natur verringern wollen, dann gehören sie hier nicht her."
Noch hat die Regierung nicht entschieden, wie sie vorgehen will. Sollen erfahrene Jäger aus Neuseeland oder Australien die Tiere töten? Oder Norweger mit "mobilen Schlachthöfen", die das Fleisch verwerten könnten? Klar ist, dass die Regierung drei Beraterteams engagieren wird: für einen Ausrottungsplan, für die Forschung - und für den Umgang mit den Medien.
15. März 2011. Der Wind hat gedreht und treibt Eis vom Nordenskjöld- Gletscher in die Bucht. Tony Martin fischt einen Brocken heraus, schleppt ihn zur Forschungsstation und gibt eine Runde Gin Tonic aus. Nach 70 Flugstunden sind alle drei Festland-Abschnitte der ersten Projektphase fertig bearbeitet: über 12.000 Hektar, was schon jetzt die größte Fläche ist, auf der eine solche Ausrottungsaktion je gelaufen ist. Ob sie erfolgreich war, wird sich erst sagen lassen, wenn zwei Jahre lang keine Nager entdeckt werden. Immerhin: In Neuseeland sind bisher alle Rattenausrottungen geglückt.
2013 soll ein dritter Helikopter hinzukommen, denn die Herausforderungen werden noch größer: Das Team wird ein Begleitschiff brauchen und entlegene Basen mit Treibstoff und Gift einrichten müssen, weil die Flugdistanzen nach Grytviken dann zu weit sein werden.
In der Zwischenzeit wird Tony Martin mithilfe neuseeländischer Hunde nach überlebenden Ratten suchen - und nach der Stimme des Riesenpiepers horchen. "Die meisten Seevögel werden nur langsam zurückkehren, aber der Pieper verbreitet sich schnell. Er ist mein Kanarienvogel im Bergwerk: Wenn er wieder singt, ist hoffentlich keine Ratte mehr da.