5. August 2006

Torsten lernt die ecuadorianische Arbeitsweise kennen - und unterzieht sich einer schamanistischen Behandlung

Hier bei Carlos war ja, wie zuvor berichtet, die Bude voll. Es hausten neben uns beiden noch drei Amerikaner/innen hier. Darunter war auch Judy, die Kallari vor einigen Jahren gegründet hat. Judy ist Biologin und extrem engagiert. So hat sie es sich zur Gewohnheit gemacht, auf dem nackten Fußboden ihres Büros zu übernachten, um auf diese Weise nur den nötigsten Schlaf zu bekommen und gleich nach dem Aufwachen am nächsten Morgen weiterarbeiten zu können. Kallari war jahrelang unter ihrer Führung, bis sie sich dafür entschied, die Kooperative in die Hände derer zu geben, die davon profitieren sollen: Die Kichwa. Zuvor hatte man ihr vorgeworfen, dass sie nur auf deren Rücken Geld verdienen wolle. Das konnte und wollte sie nicht auf sich sitzen lassen, wenn die Idee Kallari funktionieren sollte, woran sie stark glaubt. Seitdem arbeitet sie circa neun Monate im Jahr verdienstfrei und bezeichnet sich selber als Volontärin für Kallari.

Die restlichen drei Monate gibt sie Ökologievorlesungen für vornehmlich amerikanische Studenten im Dschungel von Jatun Sacha. Sie spricht fließend Spanisch und Kichwa mit dem stärksten amerikanischen Akzent, den ich je in meinem Leben gehört habe. Weil sie jahrelang bei den Kichwa gelebt hat, kennt sie sich auch hervorragend mit deren Schamanismustradition aus. So waren die beiden Amerikaner und ich dazu eingeladen, eine sehr starke halluzinogene Droge namens "Ayahuasca" am eigenen Leibe auszuprobieren, die auch die Schamanen der Kichwa zum Hellsehen verwenden. Sie ist völlig legal, hat aber eine weitaus stärkere Wirkung als viele illegale Drogen, wie mir gesagt wurde. Ich musste LEIDER diesem Erlebnis fern bleiben, weil mich die Wissenschaft bereits ab 6 Uhr morgens in Beschlag nimmt. So muss ich um 6:15 Uhr den Bus nach Shandia nehmen, um dort um 7 Uhr anzukommen und auch "gleich" anzufangen.

Für moderne Technik sind einheimische Kinder leicht zu begeistern
Für moderne Technik sind einheimische Kinder leicht zu begeistern
© Torsten Lubenow

Die Droge der Schamanen

Zurück zu der Droge, von der ich erzählen wollte. Sie ist derart stark, dass man sie nur in völliger Dunkelheit konsumieren sollte, weil sie extreme visuelle Reize auslöst, die einem bei Tageslicht in den Wahnsinn treiben können. So sieht man schon bei völliger Dunkelheit die bizarrsten Sachen und bekommt Zukunftsvisionen (deren Wahrheitsgehalt aber Interpretationssache ist). Sie besteht aus zwei verschiedenen Tees, deren Zubereitung bereits einen Tag zuvor begonnen werden muss. Denn der eine Tee aus Pflanzenwurzeln wird mehrfach mit einigen Litern Wasser aufgegossen und jeweils so weit ausgekocht, bis nur mehr eine Paste übrig bleibt. Er soll die Farbe von Kaffee haben und ganz scheußlich schmecken (wer hätte das gedacht?!).

Noch scheußlicher sind allerdings die Nebenwirkungen, die man mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit hat. Dieser Tee bewirkt nämlich nebenbei, dass sich der Körper aus allen erdenklichen Öffnungen entleert. Da man davon aber angeblich wegen der Visionen nicht allzu viel mitbekommen soll, sei dies "halb so schlimm"... Am nächsten Tag sprach ich mit den beiden Amerikanern, die sehr Unterschiedliches zu berichten wussten. So sprach Seth von leichter Übelkeit und sehr interessanten Visionen. Jeff hingegen betonte, dass es das schlimmste Erlebnis seines Lebens gewesen sei. So hält die Wirkung im Allgemeinen selten über sechs Stunden an. Bei ihm begannen aber sämtliche Nebenwirkungen nach der ersten halben Stunde gegen 20:00 Uhr und endete gegen 5:00 Uhr morgens. Wer den Schaden hat ...

Wir, die nicht mitgemacht haben, hatten jedenfalls großen Spaß an den Schilderungen. Jetzt weiß ich auch ganz genau, welche mögliche Erfahrung ich hier NICHT näher in Augenschein nehmen möchte, auch wenn ich jetzt als Spielverderber gelte!

Der Ort Shandia und die ecuadorianische Bedeutung von "vielleicht"

Shandia: Ja, Shandia ist so ein Ort für sich. Als hätte ich es am Donnerstag geahnt, war doch tatsächlich am Montag so gut wie niemand mehr da. Die eigentlich schon festgelegen "Jugendgruppen" sind am Sonntag mit anderen "Shandiern" in eine benachbarte Ortschaft gefahren, um an einem Fußballturnier teilzunehmen und wurden erst am Mittwoch gegen tarde - "spät" erwartet. So hatte ich sowohl am Montag und am Dienstag das Vergnügen, mit jeweils nur einer (1!) Person zu arbeiten, bzw. mir von dieser Person die Finca zeigen zu lassen. Damit waren wir schon nach ca. 2,5 bis 3 Stunden fertig. Danach durfte ich dann jeweils gefrustet nach Hause fahren.

Den Rest gab mir der Dienstag, als ich mit dem letzten verbliebenen Jugendlichen von Haus zu Haus tingelte, um nach den wenigen verbliebenen Leuten Ausschau zu halten, die vielleicht sogar auch noch Zeit hätten. Der eine hatte aber ein krankes Kind, wieder ein anderer hatte schon etwas ganz Wichtiges vor (Chicha trinken?) usw. Man sagte mir jeweils: vielleicht Morgen. "Vielleicht" ist mir hier aber nicht Abmachung genug. Für mich klingt ein "Vielleicht" in Ecuador eher nach einem klaren "Nein". Selbst ein sonst so eindeutiges "Ja", hat hier noch etwas von einem "Nein" in meinen Ohren. Demnach bin ich Mittwoch morgens nicht hingefahren, habe mir eine neue Strategie überlegt, wie meine Arbeit strukturierter ablaufen könnte. Außerdem wollte ich mit den Leuten von Kallari am Nachmittag nach Shandia fahren, um meine Zugehörigkeit zu Kallari noch einmal zu demonstrieren, und um sicher zu gehen, dass ich auch alle Fußballleute treffe. Also habe ich einen Stundenplan entwickelt, in dem sich jeder einen Termin mit mir eintragen kann, der dann aber auch bitte, bitte als verbindlich anzusehen ist. Zu meiner völligen Verblüffung hatte man schon den ganzen Mittwochmorgen auf mich gewartet und wollte mit mir arbeiten. (Aber die Leute sind ja, genau wie ich, Warten gewohnt!) Jedenfalls habe ich versucht, ihnen die Notwendigkeit zu erklären, warum ich feste Absprachen benötige und warum eine halbe Woche Zeitverlust aufgrund von irgendwelchen Fußballspielen, die man mir zuvor nicht angekündigt hat, nicht gehen. Schließlich ist die Arbeit eine Abmachung zwischen den Leuten von Shandia, Kallari, FLOAGRI und mir. Bei diesem netten und klärenden Gespräch reichte man mir Chicha, an die ich ja bereits gewöhnt bin, so dachte ich jedenfalls.

Der Fluss Jatunyacu in der Nähe der Ortschaft Shandia
Der Fluss Jatunyacu in der Nähe der Ortschaft Shandia
© Torsten Lubenow

"Westliche Mägen sind einfach nicht abgehärtet

Na, da war ich aber gespannt, ob es am nächsten Tag mit Terminen klappen würde. Ich kam also pünktlich um 7 Uhr in Shandia an und bekam die Namen der drei Personen, die ich an diesem Tag besuchen sollte (erste positive Überraschung!). Die erste Person, der Bürgermeister, hatte auch gleich (also ecuadorianisches "gleich") Zeit für mich (zweite positive Überraschung!). Wir waren nach 1,5 Stunden fertig mit der Kartierung und der nächste Termin sollte 1,5 Stunden später sein. Also gingen wir zu dessen Haus, um den Termin womöglich vorziehen zu können. Dieser konnte aber weder vorgezogen werden, noch überhaupt wahrgenommen werden, denn die Person war am Morgen mit dem Bus nach Tena gefahren und wurde erst am Abend wieder zurückerwartet. Auch die Person, bei der ich meinen dritten Termin hatte, war nicht da. Also stieg mein Frust wieder. Mit einem Schnitt von einer Person am Tag, bin ich mit Glück in 50 Werktagen mit Shandia fertig.

Mein Magen fühlte sich schon den ganzen Morgen seltsam an. Ich dachte eigentlich, dass es daran lag, dass ich noch nichts gegessen hatte und auch noch Durst hatte. Doch Essen und Trinken half nicht wirklich. Ich wollte den dritten Termin wenigstens noch abwarten (4,5 Stunden WARTEN), doch mir ging es immer schlechter und ich bekam Fieber. Gleich bot man mir an den Kichwa-Shamanismus bei mir anzuwenden. Ich nahm dankbar an, denn man betonte dass es sich bei meinen Symptomen GANZ klar um einen "mal viento - schlechten Wind" des Waldes handeln würde, den man ganz schnell durch Wedeln mit Blättern wieder loswerde. Man müsse nur daran glauben. Besser wurde es allerdings nicht und das lag nicht am mangelnden Glauben. Tatsächlich tauchte später die dritte Person zu ihrem Termin auf. Das Warten hätte sich also gelohnt, nur war ich nicht mehr arbeitsfähig. Dafür hatte man aber volles Verständnis.

Durch einen Zufall fand ich einige Tage später heraus, was wirklich Schuld an meinem Zustand war. Carlos wurde nämlich 2 Tage später eine Chicha in Shandia angeboten und abends beklagte auch er ein Unwohlsein. Zufälligerweise war es eine Chicha von derselben Person, von der auch meine letzte Chicha war. Ecuadorianische Mägen sind aber wohl härteres gewohnt und reagieren nicht mit zwei Tagen Fieber ...

Rohrverlegung auf ecuadorianisch: Hält doppelte Arbeit besser?

Ich freue mich darauf, endlich wieder richtig essen zu können. Heute gab es Haferschleim mit Cola. Das war wohl meine letzte Chicha. Mir ist in diesen Tagen des Nichtstuns aber klar geworden, dass die Arbeit in Shandia zu viel von meiner kostbaren Zeit auffrisst. Nur Shandia hat derart komplizierte Eigentumsverhältnisse, dass man für die Kartierung von nur einer Finca vom Ostende zum Westende und dann vom Nordende bzw. Südende des gesamten Gemeindegebietes latschen muss. Das bitte alles dreimal am Tag. Darum habe ich mir überlegt, dass ich nur noch die Grenzen von Shandia fertig machen werde und den Rest mittels Satellitenbildauswertung bearbeiten werde. Dann können die Leute so oft, so viel und zu allen Zeiten Fußball schauen und spielen. Andere Comunidades haben klarere Begrenzungen und vor allem zusammenhängende Fincas. Wir werden sehen wie es dann dort laufen wird.

Seit Montag bin ich wieder unter den Lebenden, obwohl an Essen noch nicht wirklich zu denken ist. So ist mein Tagespensum ein pappiges Brötchen, das sie hier großspurig "Brot" nennen. Allein für diesen Typ Brot gibt es hier aber "Bäckereien". Kein Witz. Da gibt es diese Brötchen in den Variationen süß und salzig, das war's.

Es gibt hier in Ecuador sowieso noch so einige Sachen, wofür man in Deutschland nur ein langsames Kopfschütteln übrig hätte. So ist die Hauptstraße zu Carlos Haus seit Monaten eine Dauerbaustelle. Die bauen dort nämlich "gerade" einen Abwasserkanal und eine Wasserversorgung. Das tun sie auf folgende Weise: Es kommen schwere Baumaschinen, die die ganze Straße auf einer Länge von 100 Meter aufreißen (das ist ja nicht so schwer, denn diese ist unbefestigt). Man baut also quasi einen Graben. Das tut man aber so, dass garantiert kein Auto mehr passieren kann. So aufgegraben lässt man das alles dann für mehrere Wochen "ruhen", denn man hat ja schon einiges geschafft ... Die ersten Fische siedeln sich in den nun durch Regen gefüllten Graben an. Weil man aber merkt, dass man die Straße als solche braucht, schüttet man diesen Graben nun wieder zu, ohne irgendetwas mit diesem Graben zuvor angestellt zu haben, denn er war ja ungünstigerweise voll Wasser. Was wollte man noch gleich tun? Ach ja, ein Abwasserrohr verlegen. Um dies tun zu können, muss natürlich die Straße aufgegraben werden. Man hebt also einen Graben aus ... Auf diese Weise ist das Erdreich der Straße schon einige Male umgegraben worden, wie mir von den Anwohnern berichtet wurde, die aber an der Prozedur nichts Ungewöhnliches finden. Unglaublich.

Beim Straßenbau kann man hier auch sonst einiges erleben. So wird nämlich gerade die Straße nach Shandia fertig gestellt. Sie ist schon fast komplett asphaltiert. Nun ist man dabei, die Seiten mit Betonrinnen für das Regenwasser zu betonieren. Dafür ist eine Heerschaar von ca. 20-30 Personen mit dem Verlegen der Verschalung für diese Rinnen und mit dem Betonieren dieser beschäftigt. Für das Betonieren wird Sand, Zement und natürlich Wasser benötigt, das immer wieder zur Baustelle gekarrt werden muss und dort irgendwo verwahrt werden muss. Das ist ja alles noch nichts wirklich Erwähnenswertes. Was mich aber immer wieder verblüfft, ist dabei der Einfallsreichtum der Sandfahrer. Die laden nämlich ihren Sand grundsätzlich so ab, dass er zu einer Gefahr für die Verkehrsteilnehmer wird. So kann man mitunter meterhohe Sandhügel mitten vor sich auf der Straße direkt hinter einer Kurve bewundern. Wenn man mit einem Bus unterwegs ist, kann es so also passieren, dass direkt nach einer Kurve abrupt ein weiterer Richtungswechsel eintritt, der den Bus fast von der Straße katapultiert.

Selbstverständlich ist hier auch keine Baustelle mit Warnschildern usw. ausgestattet. So kann hinter der nächsten Kurve (man hat sich gerade vom Schock erholt und war gerade auf dem Weg, den Busfahrer für die letzte waghalsige Fahrsituation zu erwürgen) der Bautrupp lauern, an dem man dann mit 60 Sachen vorbeiwackelt. Warum da noch nicht mehr passiert ist, ist mir ein Rätsel. Das ist aber scheinbar so in der Anarchie. Irgendwie funktioniert doch wieder alles. So hält sich hier z.B. kein Mensch an Verkehrsregeln. Auch Fußgänger werden nicht wirklich beachtet. Als Bremse fungiert die Hupe. Man wird sowieso ständig angehupt. Das ist aber nicht immer als unfreundlich zu verstehen. Man möchte so nur seinem Wunsch Ausdruck verleihen, dass man auf seine unrechtmäßige Vorfahrt besteht oder man hupt, weil man jemand Bekanntes gesehen hat (oder auch eine Frau, die anhupwürdig erschien). Oder man hupt, weil man ein Taxi fährt und so fragen möchte, ob eine Mitfahrgelegenheit gewünscht ist ...

So ist mir hier der Gedanke gekommen, dass Ecuador wohl eines der wenigen Länder sein könnte, in dem die Hupe das erst Autoteil ist, das wegen Verschleiß den Geist aufgibt (neben den Stoßdämpfern). Das Lebenspensum einer deutschen Autohupe wäre hier jedenfalls bereits nach einer Woche erfüllt.

Schamanismus auf ecuadorianisch: Eine Behandlung gegen "schlechte Winde des Waldes"
Schamanismus auf ecuadorianisch: Eine Behandlung gegen "schlechte Winde des Waldes"
© Torsten Lubenow
Dschungel-Tagebuch

Dschungel-Tagebuch

Für "GEO schützt den Regenwald e.V." kartierte Torsten Lubenow ein Stück unzugänglichen Regenwald in Ecuador. Seine Arbeiten sind nun abgeschlossen. In einem abschließenden Bericht blickt er auf seine abenteuerliche Zeit in Südamerika zurück