Zehn Millionen tote Tiere. Altmodische Vitrinen. Ein zerbröselndes Gebäude: Die kostbare naturhistorische Sammlung der Stadt Hamburg ist in einem bedauernswerten Zustand. Aber sie hat einen neuen Direktor. Der ist Schneckenforscher - und Visionär. Er will den Hamburgern einen Schatz zurückgeben. Wenn das nur so einfach wäre, in dieser reichen Stadt...
DAS LEBEN hält sich an den abgelegensten Orten. In der Tiefsee, in Schwefelquellen. Am Ende eines Wendehammers, in einem der hässlichsten Gebäude der Universität Hamburg. Seit Jahrzehnten von Bauzäunen umgeben, damit herabstürzende Teile niemanden erschlagen.
Hier steht Matthias Glaubrecht an einem Oktobertag 2015 und blickt in die Reihen seiner Mitarbeiter. Im Hörsaal der Biologen sitzt eine Vielfalt von Lebensformen: Menschen, die kommakleine Schnecken aus der Salzsteppe Aserbaidschans klauben; Menschen, die Knochen entfetten und Gehirne sortieren. Menschen, die Schnurrhaare in verdünnte Ameisensäure einlegen, um sie einem ausgestopften Seehund einsetzen zu können. Menschen, die Kinder Tigerfelle streicheln lassen.
Seit Carl von Linné die moderne Taxonomie erfand, lässt sich die belebte Welt relativ leicht in Schubladen sortieren. Nur ganz wenige Lebewesen sind nicht so leicht zu fassen, weil sie sich einfach nicht festlegen lassen.
Schnabeltier. Kleiner Igeltenrek. Matthias Glaubrecht. Er ist Professor für die Biodiversität der Tiere und Schneckenforscher, er kann sich versenken in die Betrachtung winziger Raspelzungen. Er ist auch Direktor des Centrums für Naturkunde (CeNak), zuständig für die zoologischen, mineralogischen und paläontologischen Sammlungen der Hamburger Universität. Er muss Organigramme verstehen und wissen, was ein Globalhaushalt ist. Außerdem leitet Glaubrecht die Ausstellungen der Sammlungen und überlegt, was man neben ein ausgestopftes Tier schreiben muss, damit Besucher staunen.
Vor allem aber ist Matthias Glaubrecht der Mann, der Hamburg endlich wieder ein Naturkundemuseum bringen will. Keines im Deutschen Reich zog einst mehr Besucher an als das der Hansestadt. Doch der wilhelminische Bau am Hauptbahnhof ging 1943 unter alliierten Bomben in Flammen auf und mit ihm ein großer Teil der Sammlung. Wenig mehr als die in Alkohol eingelegten Tiere waren ausgelagert.
Hamburg hat dieses Museum längst vergessen. An seiner Stelle steht heute ein Elektrogroßmarkt.
Die Sammlungen, gerettet oder nach dem Krieg neu aufgebaut, gehören inzwischen der Universität. 90 000 Mineralien, 100 000 Fossilien. Zehn Millionen tote Tiere. Untergebracht in drei Gebäuden, die der Wissenschaftsrat der Bundesrepublik Deutschland, vorsichtig formuliert, für nicht mehr geeignet hält, „eine hinreichende Sicherheit der wertvollen Sammlungen zu gewährleisten“.
Und über deren größtes Haus Professor Glaubrecht sagt: „Ein grottiger Bau, der mir unter dem Hintern wegbröckelt.“
An diesem Oktobertag erklärt er seinen rund 100 Mitarbeitern zum ersten Mal, was er gemacht hat, seit er Ende 2014 vom Berliner Naturkundemuseum nach Hamburg gekommen ist: Er hat das CeNak aufgebaut, neue Leute eingestellt. Hat an der Uni-Verwaltung vorbei ein eigenes Logo entworfen. Außerdem hat die Mineralogie jetzt auch mittwochs auf.
Kleine Schritte. Glaubrecht hat kein Budget, um seine Ausstellung zu modernisieren, keinen Kurator für die Insekten und keinen für die Spinnentiere. Einen Ornithologen bekommt er sowieso nicht, und eine Vertreterin der Wissenschaftsbehörde zitiert er so: „Wenn Hamburger ins Museum gehen wollen, dann fahren sie nach Berlin.“
Hamburg besitzt einen Schatz. Einen Schatz, der in einer morschen Kiste lagert, dessen Münzen niemand poliert, dessen Perlen niemand zählt. Die naturhistorischen Sammlungen sind ein Archiv des Lebens, eine Datenbank aus Erbgut, sie erlauben einzigartige Einblicke in das Leben auf dieser Erde; jenes, das es einst gab, und jenes, das es bald nicht mehr geben wird: Hier lagern letzte Zeugen, eine Asservatenkammer des Artensterbens.
Stücke aus Hamburg reisen, sorgfältig verpackt, in die USA, nach Japan oder Großbritannien. Wissenschaftler kommen nach Hamburg, um hinter den Waschbetonfassaden zu erforschen, wie, wo und warum neues Leben entsteht. Wie es sich anpasst, wann es untergeht. Sie ziehen DNS sogar aus Tieren, die seit Generationen eingelegt sind.
Die Schubladen und Gläser, die Buckelzirpen und Goldbauchnattern sind eine Forschungsinstitution. Unscheinbarer, aber in Glaubrechts Augen nicht weniger wichtig als die Teilchenbeschleuniger des DESY, die das Land mit Millionen fördert.
Seinen Mitarbeitern verspricht Glaubrecht: „Die Frage ist nicht mehr, ob Hamburg ein Naturkundemuseum bekommt. Sondern nur noch, wo, und wie es aussieht.“
Genug Platz für die Sammlungen, für Büros, Labore und Werkstätten wünscht sich der Forscher, dazu 10 000 Quadratmeter für eine anständige Ausstellung. Dabei ist ihm egal, ob das Land Hamburg das Naturkundemuseum neu errichtet oder ein ausreichend großes Gebäude kauft und umbaut: 100 Millionen Euro, rechnet Glaubrecht, würde es wohl in jedem Fall kosten.
Ein großes Haus, eine halbe Million Besucher im Jahr, die in einer multimedialen Ausstellung verstehen, was Leben ist. Ein Evolutioneum.
Das ist die Vision des Matthias Glaubrecht.

DIE WIRKLICHKEIT LIEGT nur wenige Schritte vom Hörsaal entfernt. Unter niedrigen Decken erheben sich zwei ausgestopfte Braunbären. Auch Antje, das berühmte Walross aus dem Tierpark Hagenbeck, hat hier ihre letzte Ruhe gefunden.
Schwarze Folien verkleben die Fenster, durch die Risse fällt fahles Licht. Ein Fischotter dreht sich, unmerklich gestützt, lebensecht durch die Luft, als tauche er gerade in klarem Wasser. Ausgestopfte Vögel liegen sehr tot auf dem Rücken und illustrieren „Die Variabilität des Eichelhähers“.
Im Glaskasten mit den Korallen hat jemand die Kalkskelette auf einen blauen Hintergrund gepappt, mit der wenig erklärenden Erklärung „Stylophora. Acropora. Lobophyllia“.
In den Körben neben der Garderobe aber türmen sich Kinderrucksäcke. Hinten rechts, bei den Neozoen, drängen sich Grundschüler. Und neben einem Terrarium mit lebenden Blättern und einem ausgestopften Raben sitzt Daniel Bein und telefoniert.
Neozoen sind Arten, die sich in einem neuen Lebensraum wiederfinden, sich dort ausbreiten – auch wenn sie eine ganz andere Umgebung gewohnt sind.
Chinesische Wollhandkrabben. Spanische Wegschnecken. Daniel Bein.
Ein kugelbäuchiger Zupacker: Er hat die Kinder in die Ausstellung gelockt.
Er dürfte eigentlich nicht hier arbeiten.
In den Büros des CeNak sitzen Menschen wie Matthias Glaubrecht. Frauen und Männer mit linearen Lebensläufen: Jugend forscht, Diplom, Promotion, Habilitation. Daniel Bein hat kein Studium abgeschlossen. Seine Grundkenntnisse über Biologie stammen aus „Was ist Was“-Büchern.
Der Sohn rumänischer Ungarn wuchs auf zwischen Ost und West, war überzeugt, den Kalten Krieg nicht zu überleben und studierte deshalb bloß zum intellektuellen Zeitvertreib: Islamwissenschaften, Ethnologie, Linguistik.
Seine Doktorarbeit blieb unvollendet, dafür kann er Jurten bauen, mit Bögen schießen. Vor sieben Jahren hat er die Ausstellung zum ersten Mal betreten.
NUR WIDERSTREBEND machte damals die Aufsicht das Licht an, wenn Besucher kamen. Ein paar Menschen bewahrten die Ausstellung auf dem Stand von 1984. „Sie war noch hässlicher als jetzt“, sagt Bein und zeigt auf imaginäre Vitrinen: „Tier, Tier, Tier, staubig, Tier.“
Irgendetwas hielt ihn. Eigentlich hatte die Kulturbehörde ihren freien Mitarbeiter geschickt, damit er bestätigte, dass die Ausstellung tot war. Daniel Bein suchte sich stattdessen eine ökologische Nische.
Einen freien Nebenraum bestückte er mit Möbeln vom Sperrmüll: für die Museumspädagogik. Ein Freiberufler ohne Befugnisse und ohne Respekt vor rein akademischen Fragen. Für Dinosaurier ist natürlich nicht die Zoologie zuständig, sondern die Paläontologie. Theoretisch. Praktisch aber bot damals niemand Dino-Geburtstage an. Also tat Bein das.
Und erweckte so das Museum der toten Tiere zum Leben.
Inzwischen ist Daniel Bein angestellt, es kommen Abiturienten zu Führungen über Evolution, er erklärt Zöllnern, woran man illegales Krokodilleder erkennt.
2015 haben seine Mitarbeiter insgesamt 850 Führungen geleitet. Statt 10 000 kommen jetzt 65 000 Besucher im Jahr. An manchen Tagen feiern sieben Kindergruppen gleichzeitig in den niedrigen Räumen. Sie müssen auf ein Café verzichten, auf einen Museumsshop, auf interaktive Bildschirme. Aber wenn der siebenjährige Bruno sich für Bartgeier interessiert, dann bekommt er eine maßgeschneiderte Bartgeier-Party. Und seine Gäste dürfen Tigerfelle anfassen.
Glückliche Kinder in einem bröckelnden 70er-Jahre-Bau: ein unscheinbarer Schritt auf dem Weg zum multimedialen Evolutioneum. Vielleicht ein entscheidender. So wie das sich ändernde Gesicht Afrikas letztlich den Siegeszug des Menschen auslöste.
Evolution ist das Spiel von Genen und Umwelt. Damit sich eine Spezies durchsetzt, müssen Anlagen und äußere Umstände zusammenpassen: Die Homininen wurden auch deswegen so erfolgreich, weil sie im aufrechten Gang Beute durch das Grasland hetzen konnten. Und wäre die Zeit in Hamburg Mitte der 1990er Jahre stehen geblieben, als der frisch promovierte Matthias Glaubrecht aus der Hansestadt erst nach Australien, dann als Kurator nach Berlin ging – er hätte, bei allen Visionen, heute keine Chance auf ein neues Naturkundemuseum.
Doch seitdem hat sich der Lebensraum verändert. Daniel Bein hat bewiesen: Hamburger lassen sich mit toten Tieren locken. Der Wissenschaftsrat fordert, die Schausammlung endlich angemessen unterzubringen. Und die Universität hat einen neuen Präsidenten bekommen, der in seiner zweiten Amtszeit ein Naturkundemuseum verwirklichen will.
„Wenn wir es jetzt nicht schaffen“, sagt eine Kuratorin, „dann schaffen wir es in 100 Jahren nicht.“
Glaubrecht will dieses Museum. Er will es unbedingt
ANFANG NOVEMBER 2015 eilt Matthias Glaubrecht mit langen Schritten ins Hauptgebäude der Uni, wo ein Präparator live einen Uhu ausstopft. Die Universität feiert die „Nacht des Wissens“, sieben Stunden, mehr als 1000 Programmpunkte. Zum ersten Mal ist auch das CeNak dabei.
Glaubrecht plaudert, schüttelt Hände, lädt Menschen zur Einweihung eines neuen Foyers ein, am 17. September 2016. Dann würde das alte Naturhistorische Museum 125 Jahre alt, ein schönes Datum. Die Wissenschaftssenatorin könnte ein Band durchschneiden und sich zum Museum bekennen, denkt Glaubrecht. Allerdings hat er den Bauantrag für das Foyer noch nicht eingereicht, und auch die Senatorin erfährt nichts von ihrem Glück: Sie verbringt die Nacht des Wissens im Institut für Holzwissenschaft.
Das aber sind Details, und von Details lässt sich Matthias Glaubrecht nicht aufhalten. Fast scheint es, als habe sein Leben unweigerlich auf den Posten eines Museumsdirektors hingeführt, seit er als 15-Jähriger von zu Hause wegradelte, um Bussarde zu beobachten. Meistens kommt er erst nach Mitternacht dazu, seine E-Mails zu beantworten, er schläft wenig, sieht seine Familie nur am Wochenende, einige Wochen zuvor hat seine Frau das zweite Kind bekommen.
Aber Glaubrecht will dieses Museum. Er will es unbedingt.
Kurz vor Mitternacht besucht er mit Daniel Bein das Paläontologische Museum, untergebracht in einem Keller. Die Pädagoginnen haben hier mit Kindern Dinosaurier aus bunten Maisschnipseln gebastelt.
Diese Schnipsel hat Daniel Bein noch schnell im Spielzeugladen kaufen müssen. Eigentlich hatte er rechtzeitig recycelbare Verpackungsflocken bestellt: das gleiche Material, sehr viel günstiger. An der Universität aber kümmert sich eine zentrale Beschaffung um jeden Bleistift. Und die zuständige Dame hat statt Mais Styroporflocken besorgt, die sind noch billiger.
Styropor lässt sich bloß nicht zu Dinosauriern zusammenpappen.
Glaubrechts Präparatoren warten seit Monaten darauf, dass sie endlich neue Flecken auf verblasste Seehund rücken sprühen können. Die Beschaffungsabteilung aber versteht nicht, warum es ausgerechnet diese teuren Farben sein müssen.
„Das müssen die nicht verstehen“, regt sich Glaubrecht auf, morgen wird er mit dem Kanzler reden. Bein bremst ihn: „Da machst du ein Riesenfass auf.“
Wie ein Putzerfisch hat Daniel Bein als Freiberufler gelernt, sich gefahrlos zwischen großen Tieren zu bewegen. Und er hat auf dem Weg zu einem neuen Museum eigentlich nur eine Sorge: dass sein Chef die falschen Leute düpiert.
„Manchmal“, sagt der 53-jährige Bein über den gleichaltrigen Glaubrecht, „ist er ein bisschen jugendlich rabiat.“
Die beiden Männer laufen durch nasses Laub zurück in die Zoologie, Bein mit einem ständigen Schmunzeln um die Augen, Glaubrecht mit einer ungeduldigen Falte über der Nase. Ihr Museum liegt im Dunkeln, auch während dieser Riesenveranstaltung. Niemand kann die Schrift an der Fassade lesen: „Universität Hamburg Zoologisches Museum“ steht da, nur ist das U schon lange heruntergefallen.
„Niversität Hamburg“: ein Sinnbild der Überforderung.
Keine andere naturkundliche Sammlung dieser Größe untersteht in Deutschland mehr einer Hochschule: Erfolgreiche Museen werden in der Regel nicht von klammen Universitäten betrieben. Die Einrichtungen in Berlin und Bonn werden als Leibniz-Institute von Bund und Ländern finanziert, ebenso wie das Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main.
Aus gutem Grund – denn Museen sind teuer. Und mit „Museum“ meinen Glaubrecht und die anderen Wissenschaftler nicht bloß ein paar liebevoll präparierte Fischotter. Sie meinen vor allem das, was in Hamburg unter und über der Ausstellung liegt, in schlecht temperierten Räumen, an deren Wänden dunkle Rinnsale abstrakte Muster gemalt haben. Kästen, Schubladen, Gläser – gefüllt mit den Funden unzähliger Expeditionen. Haare, Federn, Knochen, Föten, Tierleiber. Leb lose Spuren des Lebens, aus denen jede Forschergeneration neue Schlüsse ziehen kann, aus der Vergangenheit auf die Zukunft.
Mit aufgespießten Zweiflüglern zum Beispiel.
1903 hat ein Kurator Kasten um Kasten „Mückenartige“ gesammelt, kaum zu unterscheidende winzige Tierchen, die an schönen Sommerabenden durch den Stadtpark tanzten.
Die Mückenartigen der Jahrhundertwende verglühten im Feuersturm. Ein Lebenswerk, vernichtet. Im September 1945 zog der Kurator wieder los. Hamburg lag in Trümmern. Hunger, Schwarzmarkt. Aus der Alkoholsammlung verschwanden die größten Gefäße, ihr Inhalt befeuerte angeblich die Partys der britischen Besatzer.
Und ein alter Mann fing Mückenartige im Stadtpark.
Zum Glück. Denn viele seiner Feldtagebücher von 1903 sind erhalten. Das heißt: Eine Doktorandin kann heute nachvollziehen, welche Arten in den vergangenen 112 Jahren verschwunden, welche vielleicht neu hinzugekommen sind. Und damit kann sie auch sagen, welche Pflanzen 1903 und 1945 im Stadtpark wuchsen. Wie sich Klimawandel und Abgase ausgewirkt haben.
Zusammen mit anderen derartigen Datenreihen ließe sich daraus ein Modell erstellen, um die Zukunft vorherzusagen: Wenn es so weitergeht, was geschieht dann mit Hamburgs grüner Lunge? Welche Arten werden verschwinden, wie wird die Hansestadt in 50 Jahren aussehen?
Die Sammlung, sagt Glaubrecht, steckt voller Antworten. Man muss ihr nur die richtigen Fragen stellen. Ob es wirklich zehn Millionen Tiere sind, die sie hier verwahren? Das können die Hamburger nur schätzen. Aber es wird wohl ungefähr stimmen.
Manchmal lagern Hunderte Krebse in einem einzigen Glas, und ob die Wirbel im Keller zu einem oder mehreren Finnwalen gehören, wer weiß das schon? Manchmal ist ein bisschen Geld übrig, dann bezahlen sie einen Studenten, damit der in der Entomologie Käfer zählt.
Augäpfel kullern durch die Flüssigkeit
DORT RIECHT ES nach Mottenkugeln: Naphtalin schützt die toten vor lebenden Insekten. Zwischen Holzschränken stapeln sich gespendete Privatsammlungen in Zigarrenschachteln. Es könnten Schätze darunter sein. 100 Jahre alte Blindschlangen heben den Kopf aus dem Alkohol, als wollten sie Luft holen, einige neuere Funde sind in Rote-Bete-Gläser gebettet, die kosten nichts. Auf Schienbeinhöhe warten Frösche seit einer Indien-Expedition vor 60 Jahren darauf, bestimmt zu werden.
Vor einem Metallschrank mit der Aufschrift „Eingeweide“ lagern Gehirne von Säugetieren in alten Plastikdosen. Sie stammen von einem emeritierten Professor aus Kiel und wären auf dem Müll gelandet, hätte Hamburg sie nicht genommen. Neben einem Fuchshirn kullern zwei Augäpfel durch die Flüssigkeit.
In der Skelettsammlung schließlich hängt ein Geruch, irgendwo zwischen alten Büchern und ranziger Butter: Knochenfett. Es färbt die Stücke gelb und lässt sie sich im Laufe der Jahre zersetzen. Deshalb werden sie nach und nach in der Edelstahlmaschine Marke „Funeralia“ im Keller entfettet. Es sei denn, sie sind zu groß: Neben der Entfettungsanlage gilbt seit Jahren ein einzelner Walwirbel vor sich hin, es fehlt der Kran, um ihn in das Lösungsmittel zu tauchen.
Um seinen Schatz zu heben, brauchte Glaubrecht mehr Menschen, mehr Geld. Solange er das nicht bekommt, versucht er, aus dem Vorhandenen mehr herauszuholen. Auch aus seinen Kuratoren.
FORSCHER SIND EINE EIGENE FAMILIE. Biologen bilden darin eine spezielle Gattung. Und Taxonomen wie Glaubrechts sechs zoologische Kuratoren eine faszinierende Art.
Taxonomen ordnen, kurz gesagt, Lebewesen in Schubladen. Sie verbringen Jahre mit der Betrachtung von Blütenstempeln oder der Hinterteile von Schmetterlingen. Eine Weihnachtsfeier lassen Taxonomen nicht sanft beschwipst ausklingen, sie kehren nach einigen Bechern Glühwein an ihre Mikroskope zurück, um die Schleifspuren auf Ziegenzähnen zu zählen oder die Windungen von Schneckenhäusern.
Die Bedeutung ihrer Arbeit lässt sich nicht so leicht erklären wie die einer Verhaltensforscherin, die Schimpansen durch Tansania begleitet, um unsere tierischen Verwandten zu ergründen. Aber nur Taxonomen können zuverlässig Spezies voneinander unterscheiden. Sie sind diejenigen, die jene schätzungsweise 80 Prozent tierischen Lebens auf der Welt einordnen können, die bisher noch nicht bestimmt, ja noch nicht einmal entdeckt sind. Die so Muster der Evolution nachzeichnen und das Artensterben verfolgen können.
Die Forscher des Hamburger Museums wandern durch die Täler Tuschetiens. Sie steigen in Madagaskar Heuschrecken nach. Sie sind bei all dem extrem fokussiert. Und das ist ein Problem.
Wer Säugetier-Kurator ist und sich vor allem für Zähne interessiert, weiß vielleicht nicht genau, welche Penisknochen und getrockneten Flughunde in seinen Schubladen liegen. Wer wochenlang in der Arktis nach neuen Arten sucht, ist vielleicht nicht verfügbar, wenn eine wichtige Anfrage zu seiner Sammlung kommt.
Als Universitätsangestellte sollen die Kuratoren lehren und forschen. Wann sollen sie sich da um eine Sammlung kümmern? Zuallererst, findet Glaubrecht.
Er hat wenig Geduld mit Spezialisten, die von jedem Punkt im Gespräch zum Schwerpunkt ihrer eigenen Forschung zurückkehren, er, der sich lieber hakenschlagend durch die Wissenschaftsgeschichte bewegt. „Glaubrecht blättert gern in alten Folianten“, sagt ein Kurator. Beide Seiten fremdeln.

BEVOR MATTHIAS GLAUBRECHT Hamburg verließ, hat er sich vergebens als Kurator für Weichtiere in genau jenem maroden Gebäude beworben, in dem er jetzt in einem frisch renovierten Büro sitzt. Was wäre passiert, hätte er die Stelle vor mehr als 20 Jahren bekommen?
Die geografische Trennung ist einer der Hauptgründe für die Entstehung neuer Arten: Finken, die der Wind auf die Galápagosinseln trug, konnten sich irgendwann mit ihren Vettern auf dem Festland nicht mehr fortpflanzen. Aber sie haben neue Schnäbel entwickelt.
Vieles scheint Glaubrecht angeboren. Das Talent, sieben Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten. Das Verlangen, Laien zu erklären, was er tut. Frühmorgens zu schreiben, sieben Bücher bisher, Dutzende Artikel für den „Tagesspiegel“, die „FAZ“, die „Zeit“ – und auch für GEO.
Vielleicht hätte er sich als junger Wissenschaftler trotzdem irgendwann eingerichtet in den Zwängen der Hamburger Universität. Hätte Bestimmungskurse gehalten, über mangelnde Mittel geklagt und sich ansonsten seinen Schnecken gewidmet. Dass eine Sammlung ein Schatz ist und der Kurator sein Hüter: „Das haben sie mir erst in Berlin eingeimpft.“
Er ist deshalb manchmal ungerecht mit seinen Kuratoren, und es hilft nicht, wenn Daniel Bein in den Sammlungen herumstöbert und Interessantes herauszieht, das der zuständige Kurator nie zuvor gesehen hat.
Doch sie machen mit, bei Glaubrechts Abendveranstaltungen, in der „AG Mission/Vision“. Die Kuratoren sind nicht Glaubrechts Problem. Sein größter Gegner ist die Hamburger Politik.
EIN ABEND im Dezember 2015. Matthias Glaub recht sitzt beim Koreaner, wartet auf seine Ente und weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll. In seinem ersten Winter als Direktor hat Hamburg gewählt; die Wissenschaftssenatorin der SPD, von der er sich hingehalten fühlte, hat Platz gemacht für eine von den Grünen. Katharina Fegebank redet mit allen, sie ist freundlich zu jedem, Glaubrecht durfte ihr seine Pläne vorstellen; er dachte, jetzt ginge es endlich voran.
Stattdessen haben Hamburger Bundestagsabgeordnete 120 Millionen Euro eingeworben: für den An kauf eines Windjammers und das Hafenmuseum. Die Bürgerschaft der Hansestadt hat beschlossen, die Betriebskosten zu tragen.
Und vor drei Tagen hat Fegebanks Staatsrätin das Treffen abgesagt, auf dem Glaubrecht das weitere Vorgehen abstimmen wollte: „Diese Ignoranz, nicht mal das Gespräch mit uns zu führen!“
Matthias Glaubrecht ist in Rage.
Er hat keine gute Meinung von Politikern, er hält Zuhälter und Makler für seriösere Berufe. Vielleicht ist ja der Erste Bürgermeister Olaf Scholz anders, gern würde Glaubrecht ihm erklären, was ein Naturkundemuseum ist. Nur ist er bisher nicht zu ihm vorgedrungen.
Politiker, glaubt der Forscher, geben Geld für Dinge, die sie nicht verstehen, aber faszinierend finden. Mondflug, Marsmission, Teilchenbeschleuniger.
Matthias Glaubrecht hat Deutschlands größte Sammlung von Meeresborstenwürmern. Darunter ein Geschöpf mit schillernden Härchen, in der gestochenen Schrift des 19. Jahrhunderts hat ein Kurator in schwarzer Tinte „Seemaus“ auf dem Glas vermerkt. Schwer vorzustellen, dass Olaf Scholz diese Seemaus betrachtet und dann ein paar Millionen Euro lockermacht.„Das muss er auch gar nicht“, sagt Glaubrecht.
Ein Mäzen habe sich längst bereit erklärt, das Geld für das Museum zusammenzubringen. Er könne sich sogar vorstellen, die Betriebskosten zu tragen. Alles andere, glaubt Glaubrecht, könnte man über Zinsen aus einer zu gründenden Stiftung finanzieren und aus 500 000 Eintrittskarten im Jahr.
Der Senat müsste nur Ja sagen. Und drei Millionen aus dem Etat der Wissenschaftsbehörde festschreiben für das Naturkundemuseum, so wie er es beim Botanischen Garten gemacht hat.
Die drängenden Fragen der Menschheit, sagt Glaubrecht, würden nicht auf dem Mars beantwortet. Nicht, solange Tiere schneller aussterben, als Wissenschaftler sie beschreiben können. Nicht, solange die Zentren der Artenvielfalt unter Palmölplantagen verschwinden.
Nichts lässt den ewigen Optimisten Glaubrecht so ernst werden wie dieses Sterben, nicht einmal die Nachricht, dass Hamburg Millionen für ein altes Segelschiff ausgibt.
Er will die Vielfalt wenigstens im Museum bewahren. Forscher der Zukunft sollen Tiere untersuchen können, die es in freier Wildbahn dann vielleicht nicht mehr gibt.
Für all das brauchte Glaubrecht Geld.
Aber er soll darüber möglichst wenig reden. Hanseatische Zurückhaltung. Der Mäzen will nicht genannt, soll nicht verschreckt werden. Das alles liegt Glaubrecht nicht. Und ihm läuft die Zeit davon. Zwar ist er als Direktor des CeNak auf Lebenszeit berufen. Die zusätzlichen Stellen aber, die er durchgeboxt hat, sind auf fünf Jahre begrenzt, eigentlich reicht das Geld nur für zweieinhalb.
Und mehr als ein Jahr davon ist schon vorbei.
Glaubrecht hat in Berlin erlebt, wie aus einem vernachlässigten Museum eine Attraktion wurde, die 500 000 Besucher im Jahr anlockt. Allerdings war Berlin immer eine Stadt im Wandel.
Hamburg kämpft monatelang um ein paar neue Busspuren. Die Hansestadt hat kein Gespür für Geschichte und einen starken Hang zum Status quo. Eine schlechte Kombination für Matthias Glaubrechts Museum.
IM MÄRZ 2016 schneit es noch gelegentlich, aber auf den Büschen zeigt sich ein erster Schimmer von Frühling, und auch das Moos auf den Waschbetonplatten wirkt grüner.
Glaubrecht reicht den Bauantrag für das Foyer ein: Er will ein Loch in die hintere Wand brechen. Einen neuen Eingang, das Museum liegt dann nicht mehr hinter einem Wendehammer, sondern direkt an der Straße.
Streng genommen hat er bei der Berufung nur Mittel für eine „behindertengerechte Rampe“ eingeworben – er hat die Zusage etwas großzügig ausgelegt. Die zusätzlichen 100 000 Euro will er noch irgendwie auftreiben.
Schließlich hat er Daniel Bein an seiner Seite. Als die Bauabteilung die alten Lampen nicht ersetzen wollte, hat Bein stattdessen mit der Fachfrau für Energieeffizienz gesprochen. Jetzt erhält das Museum auch neue LED-Lampen, die die Felle der Tiere nicht mehr ausbleichen. Man muss, sagt Bein lächelnd, nur mit den richtigen Leuten reden.
Im Frühjahr stellt Matthias Glaubrecht auch Kuratoren für Insektenkunde und Arachnologie ein. Der eine ist ein ausgewiesener Forscher, der andere hat vor allem Sammlungserfahrung, zusammen sollen sie Glaubrechts Ideal vom 150-prozentigen Kurator nahekommen: dem Taxonomen, der DNS sequenzieren, aber auch Kinder durch die Ausstellung führen kann. An einem Regensamstag im Frühling zählen Beins Aufsichten 850 Besucher; kämen die jeden Tag, wären es im Jahr eine Viertelmillion.
„Wir werden so erfolgreich, dass sie uns nicht mehr ignorieren können“, sagt Glaubrecht.
Im Mai holen sie die Walwirbel aus dem Keller und zählen sie durch, ein halber Buckelwal und ein ganzer Finnwal sind es. Glaubrecht ist begeistert von „Finni“: Sie werden das Skelett halb auslegen, den Rest in Regalen präsentieren. Wir haben Schätze im Keller, soll das heißen, aber wir haben keinen Platz. Im Oktober soll der Wal die Besucher im neuen Foyer begrüßen. Zwei Jahre sind dann vergangen, seit Matthias Glaubrecht nach Hamburg gekommen ist. Vielleicht, so hofft er, wird sich die Stadt bis dahin endlich entschieden haben.
Noch einmal schreibt er der Behörde auf, was das alles kosten würde. Er setzt auf einen Klimawandel, von kaltem Desinteresse zu warmer Sympathie. Den Wissenschaftsrat hat er auf seiner Seite, den Uni-Präsidenten, den Mäzen. Zeitungen berichten über Finni, und vielleicht kriegt er auch die Hamburger Öffentlichkeit rum.
Und dann? Wenn sich die Umwelt ändert, passen sich Arten an oder sterben aus. Nach dem Meteoriteneinschlag entwickelten sich mauskleine Säugetiere zu tonnenschweren Brontotherien. Auch sein unscheinbares Museum, hofft der Direktor, steht kurz vor einem evolutionären Siegeszug.