Als die Südkoreaner am Abend des 3. Dezember 2024 erfuhren, dass ihr Präsident Yoon Suk-yeol soeben das Kriegsrecht über das Land verhängt hatte, da muss es den Älteren unter ihnen wie ein Déjà-vu vorgekommen sein. Denn in der Vergangenheit hatten Politiker immer wieder zu dieser harten Maßnahme gegriffen – und doch war diesmal alles anders. Es dauerte nur wenige Stunden, bis es Demonstranten und Parlamentariern gelang, Yoons schockierende Entscheidung zu annullieren.
Die Ereignisse in Seoul sind nur das jüngste Kapitel einer bemerkenswerten Erfolgsgeschichte: Südkoreas Aufstieg zu einer der stabilsten Demokratien in Asien, ja sogar der Welt. Im internationalen Demokratie-Ranking, das die Zeitschrift "The Economist" jedes Jahr veröffentlicht, liegt das Land auf Platz 22 und damit noch vor Spanien, Frankreich oder den USA. Aber bis dorthin war es ein langer Weg.
Das demokratische Experiment geht schnell schief
Als die Republik Korea, so ihr offizieller Titel, am 15. August 1948 gegründet wird, haben ihre Bewohner keinerlei Erfahrung mit der Demokratie. Die Älteren unter ihnen können sich noch an die Zeit erinnern, in der nahezu allmächtige Könige die Halbinsel regierten, die Jüngeren kennen nur Ausbeutung und brutale Fremdherrschaft, die erst mit der japanischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg endete. Doch nun ist Südkorea ein Frontstaat im Kalten Krieg, und auf Druck der Vereinigten Staaten tritt eine demokratische Verfassung in Kraft. Allein: Dieses Experiment geht schnell schief.
Denn anders als in der ebenso jungen Bundesrepublik Deutschland, wo die Demokratie Wurzeln schlägt, wird sie in Südkorea sogleich ausgehöhlt – und zwar von oberster Stelle. Es ist der erste frei gewählte Präsident, Rhee Syng-man, der die kommunistische Bedrohung und den Krieg gegen Nordkorea (1950–53) geschickt nutzt, um auch seine Gegner im Inneren zu verfolgen. Die Schutzmacht USA lässt ihn weitgehend gewähren. Als das Parlament im Jahr 1952 dennoch gegen Rhee aufbegehrt und er damit rechnen muss, die Macht zu verlieren, verhängt er kurzerhand das Kriegsrecht und droht seinen Gegnern mit der Hinrichtung. Dass das keine leeren Worte sind, beweist der Fall von Cho Bong-am, seinem Gegenkandidaten bei der Präsidentenwahl. Cho wird als vermeintlicher nordkoreanischer Spion zum Tode verurteilt und exekutiert.
Der neue starke Mann ist ein General
Doch im Frühling 1960 geht Rhee, der mittlerweile längst als De-facto-Diktator über Südkorea herrscht, zu weit. Er lässt auf protestierende Studenten feuern, die gegen den offenkundigen Wahlbetrug bei den letzten Präsidentschaftswahlen demonstrieren. Die Situation gerät außer Kontrolle. Rhee muss nach Hawaii fliehen, wo er 1965 stirbt.
Zunächst scheint es so, als sei die April-Revolution, wie sie auch genannt wird, ein politischer Neuanfang, ein demokratischer Reset. Aber nur ein gutes Jahr später – am 16. Mai 1961 – putscht die Armee. Der neue starke Mann ist General Park Chung-hee. Ausgerechnet er, ein Absolvent einer japanischen Militärakademie, wird zum Vater des modernen Südkoreas. Mit der Demokratie hat auch er nicht viel am Hut (allerdings tritt er aus der Armee aus und lässt sich zum Präsidenten wählen, um seiner Herrschaft einen zivilen Anstrich zu geben).

In den folgenden fast 20 Jahren fährt Park einen radikalen Modernisierungskurs. Der Lohn sind zweistellige Wachstumsraten, die aus einem bettelarmen Land allmählich einen wirtschaftlichen Riesen machen werden. Doch der Aufschwung ist teuer erkauft. Freie Gewerkschaften lässt Park verbieten (auch um die Löhne zu drücken). Die Arbeiter der großen Mischkonzerne ("Jaebeol") leben oft in unternehmenseignen Wohnheimen, Kasernen eher, 60-Stunden-Wochen sind keine Seltenheit. Und so wächst nicht nur das Bruttosozialprodukt, sondern auch die Unzufriedenheit, vor allem in den Städten.
Deshalb entgeht Park bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1971 nur knapp einer Niederlage, obwohl er wie sein Vorgänger Rhee skrupellos Stimmen fälscht. Daraufhin verhängt er das Kriegsrecht und lässt sich eine Verfassung auf den Leib schneidern, die ihm praktisch uneingeschränkte Macht verleiht. Den Oppositionspolitiker Kim Dae-jung, der beinahe gegen ihn gewonnen hat, lässt er entführen und foltern. Nur die Intervention der Amerikaner rettet Kim das Leben.
Ein Mord für die Demokratie?
Wegen seines nun offen diktatorischen Führungsstils gerät Park immer stärker in die Kritik. Im Herbst 1979 kommt es erneut zu Demonstrationen, die der Präsident notfalls mit Gewalt unterdrücken will. Sein Geheimdienstchef sieht das anders – und schießt Park am 26. Oktober 1979 eine Kugel in den Kopf. Bis heute ist ungeklärt, was ihn wirklich zu dieser Tat bewogen hat, persönlicher Groll oder politisches Verantwortungsgefühl. Vor Gericht gibt der Täter an er habe das Attentat "für die Demokratie dieses Landes" begangen.

Falls das wirklich sein Motiv gewesen sein sollte, hat er keinen Erfolg gehabt. Denn auf Park folgt die nächste Militärdiktatur, die – natürlich–, das Kriegsrecht verhängt. Dass die Geschichte der Demokratie in Südkorea dennoch eine Erfolgsstory ist, liegt an den Demonstranten, die im Juni 1987 zu Tausenden auf die Straßen gehen. Diesmal geben die Generäle nach – wohl weil sie vor den für 1988 geplanten Olympischen Sommerspielen in Seoul kein Blut vergießen wollen und die USA signalisiert haben, dass sie keinen Gewaltexzess mehr tolerieren werden.
Die Folge: Die Militärjunta dankt ab, der demokratische Wandel bricht sich Bahn. 1997 wird schließlich jener Kim Dae-jung zum Staatsoberhaupt gewählt, den Park einst fast hatte ermorden lassen. Yoon Suk-yeol, der mittlerweile abgesetzt worden ist und sich vor Gericht verantworten muss, steht also in einer ganzen Reihe von südkoreanischen Präsidenten, die das Kriegsrecht verhängt haben. Aber frei nach Karl Marx hat sich in seinem Fall die Geschichte nicht als Tragödie wiederholt – sondern als Farce.