Es war ein Telegrafenjunge, der die schreckliche Nachricht im Juli 1959 überbrachte. David Bell lebte mit seinen Eltern in London. Sein Bruder Dennis war ein Jahr zuvor in die Antarktis aufgebrochen, um als Meteorologe auf einer britischen Forschungsstation zu arbeiten. Er würde nicht zurückkommen.
Vom Gletscher verschluckt
Jahrzehntelang wartete David Bell vergeblich darauf, seinen Bruder bestatten zu können. Dieser war, so stand in dem Telegramm, in eine Gletscherspalte gestürzt, 13.500 Kilometer von seiner Heimat entfernt auf der antarktischen Insel King George Island. Das Eis hatte ihn verschluckt.
Erst 65 Jahre später, im Januar 2025, stieß die Besatzung einer polnischen Forschungsstation auf Knochenfragmente, Skistöcke, eine Taschenlampe und weitere persönliche Gegenstände, die über das Eis eines nahen Gletschers verteilt lagen. Ein DNA-Abgleich hat nun bestätigt: Es handelt sich um die sterblichen Überreste von Dennis Bell.

Der damals 25-jährige Brite hatte, so erzählt sein Bruder es heute dem Sender BBC, immer von der Antarktis geträumt. Nach seinem Studium ließ sich Dennis Bell für zwei Jahre auf die britische Forschungsstation auf King George Island versetzen. Bilder aus dem Archiv des "British Antarctic Survey", der die Station damals betrieb, zeigen ihn stets lachend, mit zotteligem Bart und oft mit einem Schlittenhund im Arm. Um die Tiere kümmerte er sich den Stationsaufzeichnungen zufolge liebevoll, wenn er keine Wetterballons steigen ließ.

Am 26. Juli 1959, im tiefsten antarktischen Winter, machte sich Dennis Bell mit einem Kameraden und einem Schlittengespann auf den Weg, den nahegelegenen Gletscher zu erkunden. Welch fatale Wendung diese Expedition nahm, beschreibt der damalige Leiter des British Antarctic Survey, Sir Vivian Fuchs, in seinem Buch "Of Ice and Men": Bell sei durch den tiefen Schnee vorausgestapft, um die müde gewordenen Hunde im steilen Anstieg zu motivieren. Sein Kamerad Jeff Stokes habe nur noch gesehen, wie Bell plötzlich verschwand: Er war durch die Schneedecke gebrochen und in eine Gletscherspalte gestürzt.
Beinahe wäre er gerettet worden
"Stokes spähte in die Tiefe, rief wiederholt und war sehr erleichtert, als er eine Antwort erhielt", schreibt Fuchs. "Er ließ ein fast 30 Meter langes Seil hinunter und forderte Bell auf, sich daran festzubinden. Da er dessen Gewicht nicht alleine heben konnte, befestigte er sein Ende des Seils am Gespann. Die Hunde begannen zu ziehen."
Fast wäre es gelungen. Seine Schlittenhunde hatten Bell bereits bis zum Rand der Spalte gezogen. Doch der junge Brite hatte das Seil nicht um seinen Körper geschlungen, sondern an seinem Gürtel befestigt. Kurz, bevor er aus der Spalte klettern konnte, riss dieser – und Bell stürzte wieder in die Tiefe. Als Stokes ihn erneut rief, erhielt er keine Antwort.
Inzwischen war ein Schneesturm aufgezogen. Obwohl Stokes die Stelle markiert und Peilungen an die umliegenden Berggipfel vorgenommen hatte, gelang es einem Rettungstrupp erst zwölf Stunden später, die Stelle des Unglücks wiederzufinden. "Es bestand keine Chance, dass er das überlebt haben könnte", erinnert sich einer der Männer.

Dass der Gletscher nun die sterblichen Überreste von Dennis Bell freigab, ist der rapiden Erwärmung des Klimas zuzuschreiben. Während der 65 Jahre taute das Eis nicht nur stark ab – es bewegte sich offenbar auch über eine weite Strecke. Die Knochenfragmente wurden weit entfernt von der ursprünglichen Stelle des Unglücks gefunden. "Ein Gletscher ist wie ein großer Wäschetrockner, die Dinge sind ständig in Bewegung", sagte ein Mitarbeiter des British Antarctic Survey dem "New Scientist". "Die Tatsache, dass wir über Knochenfragmente sprechen, ist ein Hinweis auf die Kräfte, die hier wirken."
Bells Überreste und Habseligkeiten wurden nach Großbritannien verschifft, wo sein Bruder und seine Schwester, beide weit über 80 Jahre alt, ihn nun bald bestatten wollen. "Es ist wunderbar; ich werde meinen Bruder treffen", sagt David Bell der BBC. "Man könnte meinen, wir sollten nicht so begeistert sein, aber wir sind es. Er ist jetzt nach Hause gekommen."