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Erlebenslust auf Capri
Capris Schönheit überfällt wie eine Krankheit. Es gibt kein Gegenmittel. Auch die Tagestouristen in Badeschuhen und Ho-Chi-Minh-City-T-Shirts, die sich wie ein zäher Lavastrom von der Station der Zahnradbahn über die Piazzetta bis hin in die Augustusgärten ziehen, können den Zauber nicht brechen. Nicht die Amerikaner aus dem Hotel Quisisana, die sich in Bergsteigerkluft, mit Metallstöcken bewaffnet, zu einem Tagesausflug nach Sorrent aufmachen und lautstark rätseln, ob sie Medikamente gegen Seekrankheit einnehmen sollten. Selbst der Anblick der in Fotokästen ausgestellten Promis hat keinen ernüchternden Einfluss auf das Caprifieber.

Ein Postamt zwischen Himmel und Erde
Lästig ist das Getue um die Berühmten schon. Ach, Capri, muss man denn wissen, dass Aristoteles Onassis hier seiner Gastgeberin Mona Bismarck eine goldene Schere zum Rosenschneiden schenkte, die er beim berühmten Capreser Juwelier Chantecler hatte anfertigen lassen? Dass Prinzessin Margaret hier auf die Idee kam, ihr Kopftuch im Nacken zu verknoten, und dass Thomas Manns Tochter Monika hier mit einem Fischer zusammenlebte, 35 Jahre lang, bis zu seinem Tod? Doch es reicht, einen Brief auf die Capreser Post zu bringen, und man ist versöhnt. Die Post schwebt zwischen Himmel und Meer, und während man für Briefmarken ansteht, bringt man es nicht übers Herz, dem Panorama mit dem türkisgrünen Meer, das der Wind mit weißen Fäden durchzieht, den kalkweißen Felsen und den Terrassen mit den Weinstöcken auch nur einen Wimpernschlag lang den Rücken zuzuwenden.
Das weißmarmorne Lenindenkmal
Es gibt es wohl keinen Ort auf der Welt mit einer ähnlich hohen Dichte an Aussichtspunkten. Jeder Weg endet an einem Belvedere, als gelte es, die Mühe des Spaziergangs zu belohnen. Das finden auch die Sachsen, die von den Augustusgärten auf die Serpentinen der Via Krupp und auf die smaragdgrün eingefasste Marina Piccola schauen. »Nu, solche Ausbligge gipps off Ischia nich.« Hinter ihrem Rücken steht das weißmarmorne Lenindenkmal »A Lenin - Capri«, mit dem die Stadt die Via Krupp ideologisch neutralisieren wollte. Neben Lenin sitzt eine platinblonde Russin. Sie hat keinen Blick für das Panorama und erst recht nicht für Lenin, sondern nur für ihren Spiegel und den toupierten Pony. Belvedere di Tragara, Belvedere Punta Carena, Belvedere di Migliara. Nachtblaue Unendlichkeit. Silbriges Glitzern. Türkisgrünes Toben. Der Pony fällt noch immer nicht richtig, die Russin toupiert weiter.
Der Versus im Morgendunst
Man kann sich Capri auch von unten nähern. Auf den frotteebezogenen Polstern eines Bootes liegend, in den Himmel und auf die weißen Felsen mit den Schirmpinien blickend. Der Bootsführer heißt Stefano und liebt eine Frau, die gerade erkältet ist. Er ruft sie alle zwei Minuten an. »Amore, bleib im Bett, wenn es dir schlecht geht!« Das Meer ist schwarzblau, und der Vesuv taucht plötzlich aus dem Morgendunst auf, als hätte ihn ein Bühnenbildner ins Bild geschoben. »Amore, beweg dich nicht!«

Von Grotte zu Grotte
Stefano erklärt uns Grotte für Grotte, die Grotte der Sünde, in der sich die Liebespaare treffen, die Grotte der drei Schwestern, »Amore, hast du schon Fieber gemessen?«, die Grüne Grotte, funkelnd wie flüssiger Smaragd, die Champagner-Grotte, aus der die Gischt spritzt, »Amore, ich komme bald, und mach dir keine Sorgen, ich bringe dir etwas zu essen mit«, die Schleier-Grotte, die Weiße Grotte. Die Felsen über unseren Köpfen bewegen sich, sie strecken sich, dehnen sich, und das Meer glitzert, als hätte jemand eine Tüte Pailletten über ihm ausgestreut.
Umsteigen ins Ruderboot
Dann kommen wir zur Blauen Grotte, vor der sich die Ausflugsschiffe drängeln. Wir werden in kleine Ruderboote umgeladen und geheißen, uns flach auf den Boden zu legen. Ich denke an meine Tante Gisela, lege die Hände eng an meine Beine und schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, sehe ich das blaue Leuchten und höre, wie ein Bootsführer »O sole mio« singt. Und dann schäme ich mich. Für meine Ungläubigkeit. Für jede Sekunde, in der ich nicht an Wunder geglaubt habe. Ach, Capri.
