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Weiße Haie sind individuelle Wesen
Sie haben das Hai-Weibchen "Rasta" genannt. Seit 1997 ist es jedes Jahr im südafrikanischen Winter nach "Seal Island" gekommen, zur "Robbeninsel" bei Kapstadt in Südafrika, um dort auf Jagd zu gehen. Sie kam zusammen mit Dutzenden anderen Weißen Haien - von denen aber keiner so berühmt wurde wie Rasta.
Weiße Haie sind individuelle Wesen

Wenn die Forscher auf ihren Beobachtungsboot standen, konnte es vorkommen, dass Rasta den Kopf aus dem Wasser reckte und die Menschen anschaute. Sie war so ruhig und zutraulich, dass sie stundenlang das Boot begleitete, anstatt schnell wieder zu verschwinden wie die meisten iHaie. Und sie war verspielt: Einmal schnappte sie einen Seevogel. Tauchte unter. Tauchte wieder auf; und ließ den Vogel frei. Bei alldem konnten die Forscher Rasta immer gut erkennen: an ihrer verkrüppelten Rückenflosse.
Vermutlich war sie der Motorschraube eines Fischerbootes zu nahe gekommen. Weiße Haie: Das sind, wie die Biologen inzwischen wissen, Tiere, die über ein individuelles Wesen verfügen. Räuber, deren Charakter durch ihren Erfolg beim Jagen geprägt wird.
Mit ihrem grauen Rücken ist Rasta im Dämmerlicht des Morgens für Pelzrobben, die an der Oberfläche schwimmen, kaum zu erkennen. Von unten schießt sie plötzlich empor, 40 km/h schnell - mit solcher Gewalt, dass sie mitunter ihren etwa eine Tonne schweren Körper einige Meter weit in die Luft katapultiert. Weiße Haie sind vorsichtige Tiere, sie greifen immer aus dem Hinterhalt an. Mit genau geplanten Überraschungsattacken minimieren sie ihr Sicherheitsrisiko und steigern die Aussicht auf Erfolg. Gelingt es nicht, die Beute mit einem einzigen Biss zu erledigen, beginnt ein Todesballett. Die Robbe flieht im Zickzackkurs, wehrt sich mit Bissen. Irgendwann, spätestens nach zehn Minuten, geben die meisten Haie auf. Nicht aber Rasta. Sie ist eine geduldige Verfolgerin. Sie jagt weiter, so lange, bis sie den Feind zu fassen bekommt. Ja, sie sieht dessen Aktionen sogar voraus. Am 29. Juli 2003 greift Rasta, sie ist zu dieser Zeit knapp vier Meter lang, eine Robbe an. Diese versucht zu entkommen. Verschwindet für 15 Sekunden unter Wasser, springt plötzlich in die Luft, fällt herunter – ins geöffnete Maul von Rasta, die an der richtigen Stelle gewartet hat. Die Forscher haben errechnet, dass an der Robbeninsel 47 Prozent der Hai-Attacken tödlich enden; bei Rasta sind es fast 80 Prozent.

Im Mutterleib verschlingen Weiße Haie unbefruchtete Eier
Als Rasta um das Jahr 1990 aus dem Mutterleib ins Meer entlassen wurde, war sie bereits eine fertige Beutegreiferin: vielleicht 1,40 Meter lang, etwa 25 Kilo schwer, mit den dreieckigen, extrem spitzen Zähnen des Weißen Hais und dessen typischer Stromlinienform. Schon als Embryo lernte sie zu fressen. Im Mutterleib verschlang sie - gemeinsam mit den Geschwistern - unbefruchtete Eier. In einer Hinsicht ähnelt die Fortpflanzung mancher Haie der von Säugern. Die Jungen von etwa zwei Dritteln aller Arten werden lebend geboren; denn die Entwicklung der Eier ist im Laufe der Evolution nach und nach in den schützenden Körper übergegangen. Die Eischale verschwand, die Versorgung erfolgte stattdessen über den Dottersack im Mutterleib – so auch beim Weißen Hai, dessen Weibchen nach 14 Monaten zwei bis zehn Minijäger zur Welt bringen. Bei anderen Arten bildete sich gar ein Plazenta-ähnliches Organ aus. Immer mehr Energie investierten die Muttertiere so in ihren Nachwuchs.
Bessere Augen als eine Katze
Solch eine evolutionäre Perfektionierung brauchte viel Zeit. Vor knapp 400 Millionen Jahren schwammen die ersten Urtypen der Haie im Meer. Vor 200 Millionen Jahren stand ihre heutige Form fest. Vor 25 Millionen Jahren jagte Carcharodon megalodon durch die Ozeane, ein Ahn des Weißen Hais: mehr als zwölf Meter lang, mit 18-Zentimeter-Zähnen und einem Gebiss, das er so weit öffnen konnte, dass ein Mensch aufrecht hineingepasst hätte. Auch wenn der Weiße Hai nur halb so lang wird wie sein riesiger Vorfahr: Er ist ein Top-Prädator, ein Tier also, das an der Spitze der Nahrungspyramide steht. Auf dem Land kamen und gingen die Top-Räuber, verdrängte der Tiger den Tyrannosaurus, der Wolf den Velociraptor. Im Wasser behauptete sich der Hai. Kaum ein Meeresbewohner ist heute auf der Welt ähnlich weit verbreitet wie Blauhai, Makohai und Weißer Hai.
Haie haben bessere Augen als Katzen

Und so sieht es aus, Rastas in Jahrmillionen entwickeltes Jagdinstrumentarium: Da sind zunächst die überscharfen Sinne. Weiße Haie können die Beute über Hunderte Meter hinweg erschnüffeln. Ein einziger Tropfen Blut in einem Schwimmbecken - Rasta käme ihr auf die Spur. Sogar rechts und links kann sie mit ihrem Geruchssinn unterscheiden und durch S-förmiges Schwimmen einem Duftgefälle präzise über mehr als 100 Meter folgen. Das Zappeln eines verletzten Tieres spürt sie noch in einigen Kilometern Entfernung. Ihre Augen sind empfindlicher als die einer Katze. Wenn Rasta zum Angriff ansetzt, lässt sie sich von Haarsinneszellen leiten, die unter der Haut angeordnet sind und auf Druckschwankungen reagieren - ausgelöst etwa durch Flossenschläge. Für präzise Ortung sorgen zudem die Lorenzinischen Ampullen am Maul, kleine Hautkanäle voller Nervenzellen. Mit ihnen ermitteln Haie das elektrische Feld, das Lebewesen umgibt. Schnappt Rasta schließlich zu, kann sie einen Beißdruck von drei Tonnen pro Quadratzentimeter entwickeln, doppelt so viel wie ein Königstiger. Ihr Maul ist eine Art Munitionslager. Dort stehen mehrere Reihen Zähne; nur die vorderste wird gebraucht. Ist ein Zahn abgenutzt, fällt er aus, und von hinten rotiert Ersatz nach vorn.
Haie haben keine Schwimmblase
Sogar beim Verfolgungsrennen gegen kleine, wendige Gegner hat die Evolution dem Superjäger der Meere Chancen eingeräumt. Dank ihres Knorpelskeletts kann Rasta fliehenden Robben auf der Spur bleiben, kann ihren massigen Körper krümmen und verdrehen; undenkbar bei Knochenfischen dieser Größe. Der zweite wichtige Unterschied zur Bauweise der Knochenfische: Haie haben keine Schwimmblase. Deren Aufgabe übernimmt die ölhaltige Leber - ein gigantischer Energiespeicher, der beim Weißen Hai 15 bis 20 Prozent des Körpergewichts ausmacht. Rasta frisst Thunfische und Sardinen, Schildkröten und Krabben, Delfine und andere Haie. Bevorzugt aber frisst sie, was die Robbeninsel bei Kapstadt im Angebot hat. Und ihren Artgenossen geht es genauso. An Orten wie der Robbeninsel ist den Wissenschaftlern eines klar geworden: Sie haben es nicht mit Einzelgängern zu tun. Immer genauer zeichnen die Forscher das Bild eines sozialen Wesens, eingebunden in eine Hierarchie des Jagens, angewiesen auf Kooperation und Konfliktvermeidung.
Die Hauptregel lautet: Vorrecht für die Größeren, Älteren, Erfahrenen. Jungtiere etwa müssen sich mit einem Jagdrevier begnügen, das direkt vor der Insel liegt, dort also, wo Robben eher an Land entwischen können. Rasta belegt einen besseren Platz weiter draußen im Meer. Macht ein Junghai erst einmal Beute, kann es vorkommen, dass Rasta auftaucht,
angelockt vom Blutgeruch. Der Junghai muss dann weichen. Wie gut diese Verhaltensregel greift, können die Forscher auch beobachten, wenn ein toter Wal im Meer schwimmt. Dann versammeln sich an einem Tag bis zu 25 Weiße Haie an dem riesigen Kadaver und fressen gigantische Mengen Fleisch - so lange, bis sie nicht mehr in der Lage sind, sich koordiniert zu bewegen.
Wer ausweicht, ordnet sich unter
Manche Tiere übergeben sich sogar. Von diesem Festmahl sind kleinere Artgenossen ausgeschlossen: Ihnen bleibt höchstens ein Platz an den wenig ergiebigen Brust- oder Schwanzflossen des Wals. Was aber, wenn zwei Weiße Haie, die etwa gleich stark sind, um ein Beutetier konkurrieren? Um einen - womöglich tödlichen - Zweikampf zu vermeiden, bedienen sich die Räuber einer Reihe von Verhaltensweisen. Sie schwimmen etwa kurze Zeit parallel miteinander; und ermitteln so eine Rangfolge, indem sie ihre Längen vergleichen. Oder sie halten frontal aufeinander zu. Wer ausweicht, ordnet sich unter - und zeigt das auch an: mit einer Art Buckeln vor dem Sieger.
Das Zeit- und Raumgefühl funktioniert perfekt
Sobald im Mai vor Seal Island die Jagdsaison beginnt, sind die Superjäger zur Stelle, denn ihr Zeit- und Raumgefühl funktioniert perfekt. Einige kommen fast auf den Tag genau Jahr für Jahr zur Robbeninsel. Kennen sie sich? Gehören sie einer Gruppe an, die gemeinsam die Insel erreicht und in den folgenden Monaten auch zusammenbleibt? Manche Forscher glauben, dass Weiße Haie Zweckbündnisse schließen, um ihre Nahrungsausbeute zu erhöhen, oder in bestimmten Entwicklungsphasen lockere Gruppen bilden. Vor der kalifornischen Küste haben Wissenschaftler fünf Weiße Haie mit Ultraschallsendern überwacht - und herausgefunden: Die Räuber griffen zwar nicht gemeinsam an; aber sie blieben stets nahe genug beieinander, um die Beute eines Artgenossen zu teilen. Ob es Verwandte waren, Angehörige vielleicht eines Familienclans, soll nun ein genetischer Abgleich klären. Noch stehen die Wissenschaftler erst am Anfang, noch haben sie nicht geklärt, ob sich die sozialen Kontakte der Weißen Haie auf Extremsituationen wie die Beutejagd beschränken; ob sie lediglich dazu dienen, Konflikte zu entschärfen, oder ob sie darüber hinaus Beziehungen aufbauen.
11.100 Kilometer in 91 Tagen
Auch wenn Rasta in den Jahren nach 1997 auffällig oft mit einem männlichen, ebenfalls noch nicht geschlechtsreifen Begleiter gesehen wurde: Permanent scheint kein Weißer Hai in einer Gruppe zu leben. Wenn die Jagdsaison vor Seal Island im September endet, zerstreuen sich die Räuber im Ozean. Manche Haie können ausdauernd schwimmen: Denn anders als bei fast allen Knochenfischen durchströmt ihre Muskeln warmes Blut, dessen Temperatur um bis zu 14 Grad Celsius höher als die des Wassers sein kann. Mit Satellitenpeilsendern, angebracht an der Rückenflosse, haben Forscher weltweit die Routen von Weißen Haien verfolgt: "Neale" - von der Südostspitze Australiens nach Norden, 2946 Kilometer in 113 Tagen. "Tipfin" - von Kalifornien nach Hawaii, 3800 Kilometer in 50 Tagen. Schließlich "Nicole": Ihr Trip führte von Südafrika nach Westaustralien - 11.100 Kilometer in 91 Tagen. Nicole ist womöglich eine Ausnahme. Aber relativ häufig schwimmen Weiße Haie von Südafrika die Küste entlang Richtung Norden, um nach etwa 2000 Kilometern haltzumachen - und einige Monate später zurückzuschwimmen. Folgen sie den Schwärmen von Fischen? Wandern sie zu Paarungsplätzen? Oder suchen sie eine Bucht, um ihre Jungen zur Welt zu bringen?
Diese Fragen werden die Wissenschaftler erst beantworten können, wenn sie viele weitere Sender an die Flossen der Weißen Haie geheftet haben werden. So wie Alison Kock im August 2005. Eigentlich wollte die Haiforscherin an jenem Tag ihre Untersuchung über das Verhalten der Männchen fortsetzen und zwei von ihnen mit Sendern versehen. Aber dann tauchte, wieder einmal, Rasta auf, und Kock entschloss sich spontan, die Wege ihres Lieblingshais zu verfolgen und sie mit einem "Pinger" zu markieren, einem akustischen Sender, dessen Signale von Stationen an der Küste aufgefangen werden. So erfuhr die Biologin, dass Rasta wenige Tage danach die Gegend verließ. Dass sie im Monat darauf vor der Küste Südafrikas patrouillierte. Und schließlich ins offene Meer hinausschwamm. Was danach geschah, weiß die Südafrikanerin nicht. Im Frühjahr 2006 wartete sie auf Rastas Rückkehr zur Robbeninsel - vergebens. Das Raubtier tauchte nicht auf, zum ersten Mal seit neun Jahren. Rasta müsste jetzt 4,50 Meter lang sein: ein etwa 16-jähriges, geschlechtsreifes Weibchen. Womöglich, vermutet Alison Kock, ist sie trächtig und nimmt deswegen eine Auszeit vom Jagen. Oder vielleicht ist sie unterwegs zu einem anderen, unbekannten Ort, um sich dort zu paaren. Das Rätsel Rasta - es ist das Rätsel Weißer Hai.