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Die Gartentherapie erleichtert den Heilungsprozess
Den Unerreichbaren schüttet der Gärtner erst einmal einen Haufen Erde hin. Blumenerde, frisch aus dem Sack, dunkelbraun, duftend - das ist wie eine Einladung, der kaum einer widerstehen kann. Hineinlangen, die Hand eintauchen, Klumpen ertasten, zwischen den Fingern zerbröseln. Den Duft einziehen. Es ist ein Vergnügen, eine Mikro-Exkursion für die Sinne, aber es ist auch ein Stück Arbeit - Gartenarbeit, die jeder leisten kann. Selbst jene, die fast alles verlernt haben, was man zum Leben braucht.Manche Patienten, die in die Gärtnerei zu Andreas Niepel kommen, können nicht mehr gehen, nicht mehr stehen oder nicht mehr sprechen. Andere haben Probleme, zu planen, sich zu erinnern, Eindrücke sinnvoll zu verarbeiten. Und wieder andere geben gar nicht erst preis, was ihnen fehlt - weil sie ein tiefes Misstrauen gegen alles haben, was nach "Therapie" aussieht.
Die Pflege zarten Grünzeugs erschließt sich instinktiv
Diese besonders sensiblen Patienten führt Andreas Niepel zuerst an den langen Tisch am Fenster, gleich neben dem Eingang zum Gewächshaus. Er redet nicht viel, denn was zu tun ist, versteht sich von selbst. Pflanzen gehören in die Erde. Erde gehört in einen Topf. Was grün ist, muss nach oben, Wurzeln müssen nach unten. "Das ist das Schöne an der Gartenarbeit", sagt Andreas Niepel. "Man muss, worauf es ankommt, nicht groß erklären." Und man kann sofort sehen, wie sie wirkt. Zum Beispiel bei Frau N., die den ganzen Vormittag stumm und in sich versunken in ihrem Zimmer gehockt hat - und jetzt mit bedächtigen, aber konzentrierten Bewegungen Setzlinge zurechtlegt. Neben ihr steht Herr P., der in seiner Verwirrung schon mal den Kleiderschrank mit der Klotür verwechselt - aber jetzt sorgfältig und gewissenhaft welke Blätter von Pelargonien zupft. Und Herr S., der gleich beim Eintreten abwehrend die Arme verschränkt hat, topft jetzt Lavendel um in einem Tempo, dass der Gärtner mit gespielter Verzweiflung ruft: "Nicht so schnell, Herr S., am Ende geht uns noch die Pflanzerde aus!"

Auch Grün vollbringt keine Wunder
Was "Gartentherapie" eigentlich ist, was die Beschäftigung mit Pflanzen im Kopf eines Menschen genau auslöst - das ist gar nicht so leicht herauszukriegen. Denn die Menschen, die sich mit der heilenden Wirkung von Gärten befassen, zeichnen sich aus durch eine eigenartige Mischung aus Enthusiasmus und Vorsicht. "Wir vollbringen hier keine Wunder", sagt Andreas Niepel. "Wenn ein Patient plötzlich besser sprechen oder sich bewegen kann, dann weiß man nie, ob er das nun gerade beim Eintopfen von Lavendel gelernt hat. Die Gartenarbeit ist ja immer nur ein Baustein in einem umfassenden Behandlungsplan." Andererseits strahlt der Gärtner Niepel bei der Arbeit eine so ansteckende Begeisterung aus, wie sie nur jemand haben kann, der die magische Wirkung von Grün täglich aus direkter Anschauung erfährt.
Gartenarbeit hilft Probleme zu erkennen
Es gibt keinen Garten, der auf alle Menschen gleich wirkt - egal wie durchdacht und kalkuliert er angelegt ist. Gärten und Gartenarbeit beruhigen nicht nur, sie haben oft auch die seltsame Eigenschaft, innere Turbulenzen sichtbar zu machen. Andreas Niepel kann es in seiner Gärtnerei jeden Tag beobachten. Da gibt es Patienten, die beim Pflanzen alle Töpfe automatisch nach links schieben, weil ihnen das Gefühl für ihre rechte Körperhälfte abhanden gekommen ist. Andere schütten beim Topf-Füllen regelmäßig ganze Erdhügel auf, weil sie es nicht schaffen, einmal begonnene Handlungen wieder zu beenden: "Beharrungs-Syndrom" nennen das die Ärzte. Und wieder andere stehen ratlos vor Topf und Erde, weil sie an Apraxie leiden, der Unfähigkeit, Bewegungen sinnvoll zu organisieren. Natürlich fallen so gravierende Störungen nicht erst in der Gärtnerei auf, sondern werden schon im "normalen" Klinikalltag diagnostiziert. Andere Verletzungen aber sind verborgener und komplexer. Und oft ist es der Garten, der sie zum ersten Mal ans Tageslicht bringt - weil er eben nicht Teil des Klinikbetriebs ist, sondern ein Freiraum mit eigenen Gesetzen.
Erleichterung für die Psyche
Hof Sondern liegt bei Wuppertal, nicht weit von Hattingen entfernt. Hinter einem Erdwall, der wie ein schützender Kordon Wohnhäuser und Werkstätten der Einrichtung umgibt, erstreckt sich der Garten: 3000 Quadratmeter Blumen- und Gemüsebeete, ein Gewächshaus, ein paar Schuppen. Es ist ein Garten, der weniger zum Anschauen als zum Arbeiten einlädt: Einige Lavendelbüsche könnten einen Schnitt vertragen, aus den Erdbeerfeldern schießen die Disteln. "Manchmal wächst der Garten eben zu", sagt Konrad Neuberger, Gärtner und Therapeut. "Wenn das Wetter schlecht ist, oder wenn die Klienten zu schwach zum Arbeiten sind."
Die Klienten, wie sie hier genannt werden, sind psychisch Kranke, viele haben bereits langjährige Behandlungen hinter sich. Hof Sondern, geführt nach anthroposophischen Grundsätzen, bietet ihnen Betreuung und Rehabilitation - in Werkstätten, im Hofladen und im Garten. Gerade dort machen viele die erstaunlichsten Entdeckungen.

Wenn Blumenzwiebeln die Seele öffnen
Konrad Neuberger berichtet von einer jungen Frau, die er beim Unkrautjäten beobachtete. Sie bosselte eher lustlos vor sich hin, und als er sie fragte, was sie tue, sagte sie nach kurzem Nachdenken: "Ich kratze immer nur an der Oberfläche." Da gab es jenen Mann, der Blumenzwiebeln in die Erde legen sollte und sich dabei furchtbar abplagte. Als Konrad Neuberger ihm vorschlug, die Schaufel doch mit mehr Schwung in die Erde zu setzen, erwiderte der Mann erschrocken: "Nein, das kann ich nicht - das ist ja, als wenn ich meine Frau erstechen würde!"
Konrad Neuberger scheut sich, solche Sätze voreilig zu interpretieren, er versteht sie vielmehr als Gesprächsangebot, als Hinweis darauf, dass etwas "in die Welt gesetzt" wurde - Gefühle, die bis dahin unfassbar, unaussprechlich waren.
Die Gartentherapie ist nicht neu ...
Die gute Beziehung zwischen Mensch und Pflanze hat eine lange Geschichte. Schon aus dem alten Ägypten ist überliefert, dass die dortigen Hof-Ärzte Gartenspaziergänge verordneten - für jene Mitglieder der Pharaonenfamilien, die an geistiger Umnachtung litten. Auch im Mittelalter nutzten Heilkundler den "Zauber und Reiz, welchen der Feldbau durch den natürlichen Instinkt einflößt" bei der Behandlung seelisch gestörter Patienten. Ab dem späten 18. Jahrhundert wurden Gärten fester Bestandteil vieler "Irrenanstalten", in Amerika ebenso wie in Europa. Zahlreiche Anstaltsleiter leisteten Pionierarbeit bei der Entwicklung humaner Behandlungsmethoden für psychisch Kranke - zu denen immer auch die "Arbeitstherapie" im Garten gehörte. Unter der Nazi-Diktatur erstarb jeder Reformansatz in der Psychiatrie, und nach dem Krieg wandten sich große Teile der Fachwelt "moderneren" Methoden zu: Psychopharmaka, Schocktherapie oder, seit den 1970er Jahren, der systemischen Familientherapie.

... aber wird jetzt neu entdeckt

Erst seit den 1980er Jahren wird die heilende Wirkung von Gärten hierzulande wieder neu entdeckt. Das Interesse kommt aus vielen Richtungen, nicht nur aus der Psychiatrie, und es ist weniger akademisch als praxisorientiert: Wie sollte ein Garten für Demenzkranke aussehen? Wie viel Höhenunterschied verträgt eine rollstuhlgerechte Grünanlage? Und wie lässt sich die Wirkung von Kräuterduft therapeutisch nutzen?
Eine blinde Pastorin und ihr Garten
Der 14000 Quadratmeter große, von außen eher unauffällige Garten umgibt die "Villa Storchennest", eine Begegnungsstätte für taub-blinde und mehrfach behinderte Menschen in Radeberg bei Dresden. Deren Leiterin, Ruth Zacharias, ist Pastorin und selbst seit ihrem zehnten Lebensjahr blind.
Als vor 15 Jahren die Renovierung von Haus und Garten anstand, wollte sie eigentlich "nur" eine schöne Grünanlage errichten lassen. Einen Freiraum, in dem Besucher sich ohne fremde Hilfe bewegen und nebenher reichlich Sinneserfahrungen machen konnten. Die Suche nach Vorbildern für eine solche Anlage verlief jedoch enttäuschend, und wenn Frau Zacharias davon erzählt, klingt sie noch heute regelrecht zornig.
Unverständnis bei "Sehenden"
"Blindengärten", sagt sie, "werden oft von Leuten gemacht, die irgendwie mildtätig sein wollen, aber wenig Sachverstand haben. Sie stellen Schilder auf, die man nur kniend abtasten kann, sie pflanzen Sträucher in Hochbeete, wo sie außer Reichweite der Hände sind." Solche Garten-Bauer, sagt die Pastorin, hätten das Wichtigste nicht begriffen: dass der Mensch an jedem Finger ein Auge hat! Dass die menschliche Nase über 10000 Geruchsnuancen unterscheiden kann! "Es gibt ein Menschenrecht auf Duft", sagt Ruth Zacharias entschieden.
Sie hat dafür gesorgt, dass die Besucher des "Storchennests" dieses Recht so umfassend in Anspruch nehmen können wie in kaum einem anderen Garten der Welt. Dazu hat sie zunächst ein Orientierungssystem entwickelt, das den Garten ohne Hilfe auch für taubblinde Besucher begehbar macht. Ein durchgehender Handlauf mit eingeprägten Braille-Symbolen führt an den Wegen entlang - und von jedem Punkt des Gartens wieder zurück zum Haus. Die Pflanzen wachsen überwiegend in bequemer Tast-Höhe, und jede hat rechts neben sich ihr Namensschild - wie in einer botanischen Sammlung.

Verkümmerte Sinne
Diese rigorose Ordnung macht erst die Opulenz des Gartens erfahrbar. 1300 Pflanzenarten hat Ruth Zacharias über die Jahre zusammentragen lassen: Tagdufter, Nachtdufter, Winterdufter, Sommerdufter, Blüten- und Blattdufter, Spontandufter und solche, die ihr Aroma nur auf Berührung freigeben. Es duftet nach Zimt, Weihrauch, Zitrone, Kamille, Harz, manchmal sogar nach Marzipan und Schokolade, und was gerade nicht duftet, bietet Spielraum für den Tastsinn - durch interessante Blattstrukturen und Oberflächen. Radeberg ist eine Art Sissinghurst für Nase und Finger; es ist einer dieser Gärten, die Sehenden fast beschämend vor Augen führen, wie einseitig sie die Welt für gewöhnlich wahrnehmen. Und es ist ein Garten, der Zugänge eröffnet - zu Menschen, die über gewöhnliche Kommunikationsbrücken kaum zu erreichen sind.
Sinne neu entdecken
Neulich waren einige Familien in der Villa zu Gast, mit Kleinkindern, die kurz nach der Geburt ertaubt und erblindet waren. Es waren Kinder, die in ihrer extremen Isolation "mehr tot als lebendig" wirkten, wie Ruth Zacharias es ausdrückt. Weil es ein warmer, trockener Tag war, führte die Pastorin die Familien zu einem der Duftbeete mit Kamillerasen.
Was dort passierte, rührte die Eltern zu Tränen: Schon nach wenigen Minuten fingen die sonst so apathischen Kleinen an, zu tasten, zu schnüffeln und sich lustvoll herumzuräkeln auf dem duftigen Teppich.
Düfte und Gefühle Wenn Ruth Zacharias diese Szene schildert, kommt sie noch heute ins Grübeln. "Man weiß eigentlich noch viel zu wenig", sagt sie. "Man müsste noch viel genauer untersuchen, was so ein Duft im Gehirn eines Menschen eigentlich auslöst. Es geht doch schließlich nicht nur um Gefühle, es geht um messbare positive Wirkungen!"
Am Wegrand steht eine kleine Konifere mit dichten, weichen Nadeln. Ruth Zacharias vergräbt die Arme darin bis zum Ellenbogen; ein leiser Duft strömt aus. Irgendwie fruchtig, irgendwie harzig, vielleicht auch zitronig. Man kann es nicht wirklich beschreiben. Aber es tut gut.
