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Kein neuer Trend Weniger war schon immer mehr: Eine kurze Geschichte des Minimalismus

Minimalismus ist kein neuer Trend. In den Weltreligionen war Askese seit jeher verankert, Philosophen priesen den Verzicht als Schlüssel zur Freiheit. Die alten Ideen überlebten die Jahrtausende und fanden immer wieder neue Anhänger – bis in das 21. Jahrhundert

4. Jahrhundert V. Chr. - Diogenes von Sinope

Diogenes von Sinope
© akg-images

„Geh mir nur ein wenig aus der Sonne.“ Diesen Satz soll Diogenes von Sinope zu Alexander dem Großen gesagt haben, als ihn dieser nach seinen Wünschen fragte. Diogenes brauchte nur die Sonne – und seine Tonne, in der er angeblich schlief. Er gehörte zu den Kynikern, diese glaubten, dass Besitz und Reichtum nicht zum Glück beitragen, ja sogar hinderlich sein können. Also übte sich ­Diogenes, selbst Sohn einer reichen Familie, im Verzicht. Das macht ihn zum ersten bekannten Minimalisten der Geschichte.

2. Jahrhundert - Mark Aurel

Lange bevor er römischer Kaiser wurde, fiel Mark Aurel wegen seines Interesses für Philosophie auf. Kaiser Hadrian schrieb an seinen späteren Nachfolger: „Ich habe gesehen, wie du mit Hingabe die Schriften der Philosophen lasest, dich mit roher Wolle kleidetest, auf dem bloßen Fußboden schliefst ()“ Schon als junger Mann war Mark Aurel Stoiker. Diese verzichteten nicht nur auf Luxus, sondern auch auf allzu enge Bindungen zu Menschen. Als Kaiser blieb Mark Aurel dem Verzicht treu. An seinem Hof war Prunk verpönt.

3. Jahrhundert - Antonius aus Ägypten

Kein neuer Trend: Weniger war schon immer mehr: Eine kurze Geschichte des Minimalismus
© INTERFOTO / LISZT COLLECTION

Antonius gilt als Begründer des christlichen Mönchtums. Er wurde um 250 in Ägypten geboren und wuchs bei wohlhabenden Eltern auf. Als junger Mann gab er seinen Besitz seiner Dorfgemeinde und zog sich in eine Wüste bei Kairo zurück. Askese bedeutete für Antonius: frei werden für ein gottgefälliges Leben. Die Wüstenväter des 3. bis 6. Jahrhunderts, zu denen er gehörte, nutzten Minimalismus nicht, um mehr Zeit und Freude am Leben zu haben. Sie wollten alle Ablenkung ausschalten – und sich nur Gott zuwenden.

13. Jahrhundert - Franziskus von Assisi

Ein Familienstreit im Jahr 1207: Auf dem Domplatz im italienischen Assisi übergibt Giovanni di Pietro di Bernardone sein Geld und seine Kleider seinem Vater und verzichtet auf sein Erbe. Als Jugendlicher ­hatte er vom Geld seiner ­Familie gut gelebt. Später berichtete er von Gottes­erscheinungen und nannte sich Franziskus. Er trug eine Kutte, lief barfuß, bettelte um Essen und schlief in Scheunen. Mitglieder des von ihm gegrün­deten Franziskanerordens ­legen noch heute das ­Armutsgelübde ab.

18. Jahrhundert - Die Amischen

Im 18. und 19. Jahrhundert flohen einige Hundert Mitglieder einer Täuferbewegung vor Verfolgungen und Kriegen in Europa nach Nordamerika. Sie nannten sich die „Amisch“, nach dem Kirchenältesten Jakob Ammann. Heute leben in den USA mehr als 300000 Amische „alter Ordnung“. Sie führen ein stark in der Landwirtschaft verwurzeltes Leben und legen großen Wert auf Familie und Abgeschiedenheit. Die ­Amischen akzeptieren technische Neuerungen nur ausnahmsweise und nach langer Prüfung.

19. Jahrhundert - Henry David Thoreau

HENRY DAVID THOREAU
© mauritius images / Pictorial Press Ltd / Alamy

Im Sommer 1845 zog der Schriftsteller Henry David Thoreau in eine Blockhütte in den Wäldern von Massachusetts, um der zunehmenden Industrialisierung seines Landes zu entgehen. Er gab die Parole aus: „Vereinfachen. Vereinfachen.“ Die Erfahrungen aus seinem etwa zweijährigen Selbstversuch schrieb er nieder in dem Buch: ­„Walden. Oder Leben in den Wäldern“. Es heißt darin: „Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“

20. Jahrhundert - Leo Tolstoi

In seinen Romanen „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ geht es um die Frage nach dem richtigen Leben. Im Alter beantwortete der russische Schriftsteller Leo Tolstoi diese ­Frage mit der Erkenntnis: „Nichts fördert die Annäherung der Menschen mehr als Einfachheit.“ Tolstoi trug also Bauernkittel, aß vegetarisch und arbeitete auf den Feldern seines Guts. Seiner Familie gefiel diese Wandlung nicht. Nach einem Zerwürfnis mit seiner Ehefrau begab sich Tolstoi 1910 auf eine Pilgerfahrt, während der er verstarb.

20. Jahrhundert - Die Wandervögel

Wandervögel 1913
© picture alliance / ullstein bild | Conrad Huenich

Die Härte und Disziplin des deutschen Kaiserreichs machte aus vielen jungen Menschen vermeintlich gute Staatsbürger und Soldaten. Sie führte aber auch im Jahr 1901 zur Gründung der „Wandervögel“. Studenten und Schüler schlossen sich zusammen und unternahmen Ausflüge. Der Name war Programm: Sie wollten schweifen, erleben und frei sein. Sie übernachteten im Freien oder bei Bauern, kochten über dem Lagerfeuer. Übermäßiger Besitz – so hieß es – enge nur die persönliche Freiheit und Freude ein.

21. Jahrhundert - Joshua Becker

Der neue Hype des Minimalismus begann in den USA, bekannt als „Simplify“-Bewegung. Ein gleichnamiges Buch stammt von Joshua Becker. Als er 2008 an einem Samstag die Garage aufräumte, sah er nach eigener Darstellung zum ersten Mal klar: „All die Besitztümer, die ich besaß, brachten keine Freude in mein Leben.“ Becker, bis dahin als Pastor tätig, sagt, er habe sich von 60 Prozent seines Besitzes getrennt. Er veröffentlicht seine Strategien zum Verzicht off- und online. Millionen Menschen folgen ihm.

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