Fünf Monate danach fällt Dieter Kuske plötzlich auf, dass es Orte gibt, an denen seine Tochter noch lebt – obwohl sie doch gestorben war: Genevieve, erstickt nach einem allergischen Schock. 19 Jahre war sie, als es geschah, auf ihrer Abi-Fahrt in Barcelona. Sie hatte Vanilleeis gegessen, das Spuren von Walnüssen enthielt, auf die ihr Körper so heftig reagierte.
„Eine junge Frau, so voller Leben“, beschreibt sie ihr Vater, „gescheit, durchtrainiert, sozial“. Mathematik wollte sie studieren, drei Jahre zuvor war sie Deutsche Vizemeisterin in einer koreanischen Kampfkunst geworden. Durch die Schule und ihren Sport stand sie mit der halben Welt in Kontakt – auch über die sozialen Netzwerke.
Und dort, auf ihren Profilen, pulsiert noch immer das Leben: selbst nach ihrem Tod. Algorithmen versenden ihre Lieblingsmusiktitel an digitale Freunde, fordern sie auf, ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Genevieve erhält Werbemails, Freundschaftsanfragen und ebenfalls Erinnerungen an Geburtstage von Menschen, mit denen sie vernetzt ist.
Der Vater erfährt davon, als er nach einem knappen halben Jahr die Kraft findet, ihre E-Mails einzusehen; die Familie besitzt eine eigene Domain, daher gelingt dies relativ unkompliziert. Schon beim Öffnen des Postfachs wird ihm mulmig zumute, so erzählt er es später.
Er hat damals gerade wieder begonnen zu arbeiten und eine vage Hoffnung geschöpft, dass dieser entsetzliche Verlustschmerz irgendwann erträglicher werden wird, dass er Frieden finden wird über Genevieves Tod.
Die Benachrichtigungen über all ihre vermeintlichen Aktivitäten etwa bei Facebook aber werfen ihn zurück „in ein Gefühls-Chaos“. Wie soll er mit dem digitalen Vermächtnis seiner Tochter umgehen?
Bei Facebook gibt es mindestens 30 Millionen Profile Verstorbener
Was nach dem Tod von einem Menschen bleibt, was es zu bewahren gilt – das war noch nie leicht zu beantworten. Das Internet aber hat alles noch einmal verkompliziert. Neun von zehn Deutsche sind online, die allermeisten täglich: Sie chatten, surfen, shoppen – und hinterlassen dabei Datenspuren, die Rückschlüsse auf sie zulassen.
Fast jeder Zweite ist zudem in mindestens einem sozialen Netzwerk aktiv. Immerzu bespielen dabei vor allem jüngere Menschen zwischen 16 und 24 Jahren ihre Profile bei Facebook und Co. mit neuen Statusmeldungen, tauschen sich in Gruppen aus, inszenieren sich bei YouTube oder Instagram – und setzen damit virtuelle Zwillinge in die Welt, die sie im Todesfall bisweilen überleben.
Denn wenn ein Mensch stirbt, verschwindet seine virtuelle Existenz nicht, vor allem nicht automatisch. Im Gegenteil: Das Internet hortet gewissermaßen die Toten. Allein bei Facebook gibt es darum mittlerweile mindestens 30 Millionen Profile Verstorbener, manche schätzen diese Zahl noch viel höher.
Und sie steigt ständig und bald immer schneller: weil die erste Generation von Internet- und Social-Media-Nutzern immer älter wird. Irgendwann könnten dann mehr verstorbene als lebendige User registriert sein, wie kürzlich Datenexperten des Oxford Internet Institute errechneten.
Nur einer von zehn Menschen hat seinen digitalen Nachlass vollständig geregelt
Auch in Deutschland nimmt die Zahl der Geisterprofile zu. Statistisch stirbt hierzulande etwa alle drei Minuten ein Facebook-Nutzer – meist ohne sich je damit befasst zu haben, was mit all den Daten nach dem Tod passiert, wer Zugriff haben soll auf die Profile und Konten bei der sozialen Plattform.
Laut einer repräsentativen Umfrage hat nur einer von zehn Menschen, die sich regelmäßig im Netz bewegen, seinen digitalen Nachlass vollständig geregelt und etwa festgelegt, wer wie mit dem Datenerbe umgehen soll.
Rund 80 Prozent haben sich gar noch nie näher mit dem Thema beschäftigt: haben es verschoben, vertagt, verdrängt, weil alles, was mit dem Tod zu tun hat, unangenehm und ängstigend ist.
Wem gehören die Daten, die ein Toter hinterlässt?
Wird ein junger Mensch wie Genevieve Kuske plötzlich aus dem Leben gerissen, erben daher in der Regel die nächsten Angehörigen neben allen Habseligkeiten auch den digitalen Nachlass. So ist es – eigentlich – an ihnen, zu entscheiden, ob sie ihren Verstorbenen auch aus dem Netz nehmen möchten oder ihn dort weiterleben lassen.
Etliche Eltern verstorbener Jugendlicher lassen deren Profilseiten in den sozialen Netzwerken ganz bewusst stehen: als Adresse für Freunde und Bekannte, die ihr Mitgefühl ausdrücken wollen, als Ort der Erinnerung, an dem sich Menschen noch nach Jahren über den Verstorbenen, über den Verlust austauschen können.
Doch auch anderswo im Netz gibt es Orte nur aus Bits und Bytes, an denen sich Menschen über alle räumlichen und zeitlichen Grenzen hinweg an Verstorbene erinnern können. Hinterbliebene erstellen eigens Gedenk-Websites für ihre Toten, die deren Leben und Sterben in Schilderungen und Fotogalerien dokumentieren.
Oder sie sichern ihnen Grabstätten auf einem der vielen Online-Friedhöfe, auf denen Menschen virtuelle Kerzen entzünden oder mitfühlende Worte hinterlassen können – jederzeit, von überall her und für alle Welt sichtbar.
Solche Seiten, die die Anzahl brennender Lichter mitzählen und Kondolenzeinträge mit Datum und Uhrzeit festhalten, mögen auf viele anfangs befremdlich wirken. Birgit Janetzky aber sieht in all den modernen Formen von Anteilnahme einen „großen Gewinn“.
„Wir kommunizieren längst in jeder Lebenssituation digital“, sagt die Theologin und Expertin für digitale Nachlässe und Trauer im Netz, „da ist es auch in Zeiten der Trauer ganz natürlich.“ Tod und Trauer führten häufig zu Rückzug und Schweigen. Durch das Netz lasse sich diese Sprachlosigkeit womöglich überwinden. Denn: Vieles sei eben leichter geschrieben als gesagt.
Birgit Janetzky glaubt nicht, dass die digitale die persönliche Anteilnahme ersetze – oder dadurch bei den Menschen die Bereitschaft abnehme, Trauernden von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. „Digitale und reale Kommunikation sind eng verzahnt“, erklärt sie. Eine Studie zu Trauerforen zeigt, dass das Netz oft nur der Ort ist, an dem Gespräche zwischen Trauernden beginnen, die dann in realen Räumen fortgeführt werden.
Doch längst nicht jeder teilt solche Ansichten. Viele Hinterbliebene wollen weder Gedenkseiten noch digitale Grabstätten. Mehr noch – sie sehnen sich danach, dass die digitalen Spuren eines Toten schnell verschwinden; weil sie es nicht aushalten, im Netz immer wieder auf Textschnipsel oder Schnappschüsse ihrer Verstorbenen zu stoßen.
Weil ihnen die große, in Teilen oft unbekannte Öffentlichkeit, die über das Netz Anteil nimmt, unheimlich ist. Und zugleich der Gedanke daran, dass alle Informationen von ihrem und über ihren Verstorbenen nun zum Datenschatz von Global Playern wie Facebook gehören, die darüber noch verfügen.
Dieter Kuske zählt zu diesen Menschen. Da er Zugriff auf Genevieves E-Mail-Account hat, gelingt es ihm, das Facebook-Passwort zurückzusetzen und so ihr Profil aufzurufen. Schon beim Lesen der ersten Einträge spürt er, dass er diesen Account löschen will.
Vor allem die Geschwindigkeit, mit der sich die Nachricht von Genevieves Tod über das Netzwerk verbreitet hat, erschreckt ihn. Die Patentante in den USA wusste bereits nach Stunden von der Katastrophe, da hatten Kuske und seine Frau ihre verstorbene Tochter noch nicht einmal gesehen, im Leichenkeller des spanischen Krankenhauses. Auch ihr Freund erfuhr von Genevieves Tod früh aus dem Netz; dabei hatte Kuske ihn sofort informiert, nachdem er sie in Barcelona gesehen hatte.
Die weiten Kreise, die die Todesnachricht im Netz zog, machten Kuske ebenfalls fassungslos. Viele Einträge stammen von anonymen Verfassern. Können sie so etwas überhaupt ernst meinen?
„Ich hatte große Sorge, dass ich im Netz nicht auf meine Tochter aufpassen kann, dass ich hier nicht verhindern kann, dass jemand etwas Unangebrachtes über sie verbreitet“, erinnert er sich. Er brauchte lange, bis er in dem sozialen Netzwerk die Option fand, das Profil abzuschalten. Und erst mit der Hilfe von Experten gelang es ihm, es gänzlich aus dem Internet zu tilgen.
Dieter Kuske recherchierte, in welchen anderen Netzwerken seine Tochter noch aktiv war – und versuchte auch diese Accounts zu löschen. Manche Unternehmen verlangten eine Sterbeurkunde von ihm; einer Firma musste er mit dem Anwalt drohen, ehe sie seiner Aufforderung nachkam. Aber immerhin: Binnen eines Jahres gelang es Kuske, die digitalen Hinterlassenschaften seiner Tochter aus der Welt zu schaffen.
Oft ist es schwierig, auf die Daten Verstorbener in Sozialen Netzwerken zuzugreifen
Viele andere Angehörige mühen sich hingegen vergebens. Denn die digitalen Plattformen machen es ihnen schwer, auf die Daten Verstorbener zuzugreifen, alle haben sie ihre eigenen Regeln. Manche verlangen von den Hinterbliebenen Sterbeurkunden oder Bestätigungen, dass sie auch wirklich die Erben sind.
Facebook bietet die Funktion, noch zu Lebzeiten in den Kontoeinstellungen einen Nachlasskontakt zu bestimmen und festzulegen, dass ein Account gelöscht werden soll. Bloß: Kaum jemand kennt und nutzt diese Funktion. Familienangehörige müssen das Löschen des Accounts darum oft recht aufwendig beantragen.
Gibt es zum digitalen Vermächtnis keine Angaben und Wünsche, geht das Facebook-Konto in einen sogenannten Gedenkzustand über, sobald das Netzwerk etwa vom Tod des Kontoinhabers erfährt (bei Genevieve war das noch nicht geschehen): User können das Profil dann zwar noch besuchen, Kommentare und Wünsche hinterlassen – sich einzuloggen, den Account zu pflegen oder zu löschen, ist allerdings nicht mehr möglich.
Das Profil friert ein im Moment des Todes – und ist doch weiter online. Es ist, als gewähre ein Wohnungsbesitzer nach dem Tod seines Mieters den Angehörigen keinen Zutritt, als rücke er nicht einmal dessen Möbel heraus.
Ist so etwas rechtens? Im Frühjahr 2019 beschäftigte sich der Bundesgerichtshof mit dieser Frage, die im Kern jeden von uns betrifft: Wem gehören eigentlich unsere Daten, wenn wir sterben? Geklagt hatte die Mutter eines 15-jährigen Mädchens, das im Jahr 2012 unter merkwürdigen Umständen von einer Berliner U-Bahn erfasst wurde. War es ein Unfall oder Suizid?
Die Eltern erhofften sich Hinweise, vielleicht sogar Gewissheit durch die Nachrichten in ihrem Facebook-Account. Die Mutter besaß sogar die Zugangsdaten zum Konto ihrer Tochter. Und erhielt doch keinen Einblick weil Facebook das Profil bereits in den Gedenkstatus versetzt und damit alle vorherigen Chats verborgen hatte.
Die Mutter, getrieben vom unbedingten Bedürfnis nach Aufklärung, zog vor Gericht, um an die Daten zu gelangen. Ihr Argument: Schriftstücke wie Briefe und Tagebücher eines Menschen gehen nach dessen Tod doch auch an die Erben.
Die Frau bekam zunächst Recht zu-, dann wieder abgesprochen. Denn Facebook argumentierte dagegen: Den persönlichen Austausch zwischen Menschen auf der Plattform schütze das Vertrags- und Fernmeldegeheimnis. Die User hätten ein Recht darauf, dass kein Dritter von der Korrespondenz erfahre. Was wiegt schwerer?
Der Rechtsanwalt Christlieb Klages, der mit einem Kollegen die Mutter durch die Instanzen begleitet hat, sagt, das Verfahren sei für fast alle Beteiligten eine Zerreißprobe gewesen. „Da war an unserer Seite die Mutter, die Informationen brauchte, um Frieden zu finden. Und ihr gegenüber saßen die Facebook-Verteidiger, die so unfassbar kühl und klar gegen eine solche Grundsatzentscheidung ankämpften“, erzählt Klages.
Sicherlich zielt Facebook darauf ab, sich gegen künftige Fälle juristisch abzusichern. Nicht ausgeschlossen, dass das soziale Netzwerk auch wirtschaftliche Interessen mit den Daten toter User verknüpft. Denn auch die Profile Verstorbener ziehen die Klicks vieler Nutzer und Neugieriger auf sich. Nicht zuletzt dient dies der Kundenbindung.
Die Entscheidung der Richter war am Ende jedoch eindeutig: Die Daten Verstorbener gehörten, wie Briefe, in die Hände der Erben, nicht in die großer Internetplattformen. Vertrauten Menschen obliegt es damit auch zu entscheiden, was mit dem digitalen Vermächtnis geschehen soll.
Klages nennt es „ein wertes, wichtiges Urteil“. Doch seine Mandantin hat den Account ihrer Tochter noch immer nicht einsehen dürfen, denn Facebook mauert weiterhin. Mittlerweile läuft ein Ordnungsverfahren.
Experten empfehlen, den digitalen Nachlass rechtzeitig zu regeln
Christlieb Klages sagt, ihm sei erst durch diesen langen Prozess klar geworden, wie leichtfertig viele Menschen nach wie vor mit dem umgingen, was ihnen eigentlich heilig sein sollte: den höchstpersönlichen Informationen und Daten. „Wir müssen uns darum schon zu Lebzeiten um unsere Accounts und Profile kümmern wie um unsere Grundstücke, müssen Zugänge und Verwalter bestimmen für den Fall des Todes“, sagt er.
Auf zwei Punkte kommt es bei der digitalen Vorsorge besonders an:
- Internetnutzer sollten frühzeitig überlegen, wer welche Konten und digitalen Daten wie nach ihrem Tod verwalten soll – und sollten diese Vertrauten mit Vollmachten ausstatten. Für eine gute Dokumentation von Accounts- und Zugangsdaten haben sich Passwortmanager bewährt. Die Software schützt mit einem sicheren Masterpasswort die Daten in einer Art Tresor. Das Masterpasswort ist damit sicher hinterlegt und wird im Todesfall an die berechtigte Person herausgegeben. Bei Facebook oder für die Google-Dienste können online entsprechende Einstellungen vorgenommen und Kontoverwalter benannt werden.
- Nutzer sollten sich bewusst machen, dass Mitteilungen und Daten im Todesfall auch von anderen gelesen werden können. Was einem zu geheim, zu persönlich erscheint, gehört gelöscht.
Dieter Kuske hat mit alldem längst begonnen. Dass das Internet Verstorbene nicht gehen lässt, dieses Problem beschäftigt ihn trotzdem noch immer. Ein Jahr nach dem Tod seiner Tochter beschlossen er und seine Frau, all ihre Erfahrungen anderen Eltern zur Verfügung zu stellen. Sie ließen sich zu Trauerbegleitern ausbilden – auch, um Genevieves Sterben und ihrem neuen Leben ohne sie einen Sinn zu geben. Im Vorstand des Bundesverbandes „Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland e. V.“, in dem sich Dieter Kuske engagiert, kümmert er sich um das digitale Vermächtnis von Menschen.
Er arbeitet gerade an einem Verzeichnis der Möglichkeiten, die Verwandte von Verstorbenen haben, um sich gegen die großen Internetkonzerne zu wehren. „Damit nicht nur die Toten, sondern auch die Hinterbliebenen endlich ihren Frieden finden“