
Kontaktanzeige, Facebook, Arbeitsplatz: Es gibt viele Arten, eine Frau kennen zu lernen. Die wenigsten suchen die grosse Liebe zwischen Bergen von Knoblauchzehen, Zwiebelringen und Chilischoten, so wie Kajinder Singh. Seit drei Wochen fährt der gläubige Sikh, 37 Jahre alt, jeden Mittag von der Wohnung seiner Eltern mit der Rikscha zum Goldenen Tempel von Amritsar. An einem der Eingänge gibt er seine Schuhe ab, reinigt seine Füsse im Wasserbad und spricht mit gefalteten Händen ein Gebet. Dann lässt er sich von der Masse in den riesigen Küchenbereich schieben. Kajinder Singh setzt sich zur Knoblauchgruppe und fängt langsam an, die Haut von Zehen zu lösen. Gleichzeitig scannt er die weiblichen Geschöpfe um ihn herum. "Meine Mutter sagt zu mir: Du darfst den Goldenen Tempel nicht alleine und auch nicht zu zweit verlassen – sondern nur zu dritt!", erzählt er kichernd und streicht sich über seinen flachen Bauch. Der Wunsch der Mutter ist ihm Befehl, seine Mission. "Die Mutter ist uns heilig. Schliesslich sind wir wegen ihr auf der Erde", sagt der gelernte Bibliothekar, der lange in Bombay wohnte und arbeitete. Doch weder zwischen den Bücherregalen noch auf den vollen Strassen stolperte er über die grosse Liebe. Deshalb ist Kajinder Singh dem Ruf der Mutter gefolgt, hat seinen Job in der Hauptstadt an den Nagel gehängt und ist in den Norden nach Amritsar gezogen - an den Ort, wo das Hoffen noch gross geschrieben wird.
Heute ist ihm das Glück nicht hold: Um ihn herum tummeln nur kugelrunde Männer, stillende Frauen und zahnlose Alte. Von jungen, ledigen Damen fehlt jede Spur. Dennoch bleibt der gläubige Sikh sitzen, schält weiter Knoblauch. Die Fronarbeit sättigt nicht nur den Magen, sondern auch die Seele. Das Herz kann ruhig noch etwas warten. Kajinder Singh formuliert es so: "Wer der Gemeinschaft dient, dient auch Gott."

Freiwillig für die Gemeinschaft
Nach diesem Prinzip funktioniert eine der grössten Küchen der Welt - an durchschnittlichen Tagen essen zwischen 80.000 und 100.000 Einheimische, Touristen und Pilger im Goldenen Tempel. Gratis und fast rund um die Uhr. Statt Chefkochs, Souschefs und Servicepersonal halten freiwillige Mitarbeiter, wie Kajinder Singh die Küche am Laufen. Jeder mit seiner eigenen Geschichte, seinen eigenen Gedanken und Hoffnungen. Von den zahlreichen Helfern erhält nur rund 10 Prozent einen Lohn. Die Restlichen arbeiten für ihr Seelenheil. "Ein Mangel an Freiwilligen hat es noch nie gegeben", sagt Mandeep Singh, Informationsbeauftragter im Goldenen Tempel und schaut etwas verdattert – so als wäre ihm dieser Gedanke ganz neu. "Werbung? Nein. Das ist sicher nicht nötig", prustet er. Bisher kamen immer genug.
Zurück zum Gemüseschneideplatz. Die Knoblauchzehen sind zu einem kleinen Hügel herangewachsen. Der Karottenberg erinnert an das nahe liegende Himalayagebirge. Die Messer tranchieren nicht mehr im Sekundentakt. Der Brautschaujäger Kajinder Singh hilft zwei jungen Männern, das rohe Gemüse in grosse Blechtonnen zu schütten. Die Träger schleppen die Rohkost in den zweiten Küchentrakt. Der riesige Raum ist dunkel, der Boden nass und kalt. Reis klebt auf dem Beton. Hinten im Raum hängen riesige Blechtrommeln über den Feuerstellen. Ein Riese mit buschigen Augenbrauen, Bart bis zum Bauchnabel und weissem Turban, rührt mit meditativen Bewegungen. Er ist seit Jahren professioneller Reiskocher im Tempel. Wenn er vom Reis redet, könnte man meinen er schwärme von seinem Bruder: Er wird böse, er rächt sich, er geniesst es. Der Bärtige gehört zu den wenigen Festangestellten in der Küche. "Wir müssen täglich die Mengen im Griff haben. Das wäre mit Freiwilligen schwierig", erklärt er.

Arbeit für Witwen
Neben dem Reiskocher lehnen sich Frauen leicht gebeugt gegen die Mauer. Einige sitzen auf den Backsteinen, welche zu einem Quadrat angeordnet sind. Schwarze, löchrige Tücher haben sie nachlässig um die grauen Haare geschlungen. Sie erinnern an alternde Rapunzel. Nicht gefangen in einem Turm, sondern in ihrem Leben. Und statt des Traumprinzen warten sie auf das nächste Quäntchen Glück. Einige haben sich an den Sorgen die Lippen aufgebissen. Wenn sie lachen, zeigen sie ihre Zahnlücken. Von Zeit zu Zeit knien sie auf, kneten die in der Mitte herumliegenden Teigkugeln mit dem Walholz zu runden Chapatis und werfen sie wie Frisbees Richtung Feuerstelle. Die meisten der hier sitzenden Frauen sind verwitwet – verloren ihren Mann entweder an Krebs, Drogen oder durch einen Unfall. Manchmal auch alles in einem. "Nach dem Tod blieb nur die Verzweiflung", erzählt Rati Kaur. Die Frau mit den dreckigen Brillengläsern und dem lila Sari war 31 und ihre Kinder 6, 7 und 9 Jahre alt, als ihr Mann vor 13 Jahren starb. Sie ohne Schulbildung, mit einer Familie, die 800 Kilometer weiter im Süden wohnt. Vom Vater Staat erwartet in Indien eh niemand viel. Ratis Glück: Sie kannte jemand der jemand kannte, der im Küchenkommittee des Tempels sass. Kurz darauf erhielt sie den Job. Seitdem kommt sie jeden Morgen gegen sechs Uhr in den Tempel, ein Ort den sie davor nur an hohen Feiertagen besuchte. Ihre Kinder sind mittlerweile erwachsen. Für eine Ausbildung hat ihr Lohn von 6000 Rupies nicht gereicht. Die Söhne halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.
Doch klagen will Rati Kaur nicht. Stattdessen steht sie auf und ruft einem alten Mann etwas zu. Nachschub ist gefragt. Dieser läuft aus der Küche hinaus auf den Vorplatz hinunter in die Vorratskammer der Küche – oder eher einer Tiefgarage. Zwölf Tonnen Mehl werden hier täglich verbraucht. Vier Tonnen Gemüse, vier Tonnen Reis, eine Tonne Butter, 200 Kilogramm Knoblauch, 25 Kilo Curry, 100 Kilogramm Zucker. Kein Fleisch – das verbietet die Religion. Je nach dem wen man fragt, variieren die Angaben. So genau nehmen es die Inder nicht. Gewiss ist: Es sind enorme Berge. Und sie werden immer grösser. "In den letzten Jahren kamen immer mehr Besucher in den Tempel", so Mandeep Singh. Die Küche platzt aus allen Nähten, deshalb bauen die Tempelführer ein neues Küchengebäude – mit Hilfe von freiwilligen Bauarbeitern. In zwei Jahren soll es soweit sein. Bezahlt wird der Umbau, wie auch die millionenteuren Ausgaben für die Küche, von Spenden. Jeder Sikh, der etwas auf sich hält, gibt 10 Prozent seines Einkommens ab.
Im Küchentrakt haben die zwei Reiskocher mittlerweile das Getreide gesiebt und in grosse Tonnen geleert. Träger schleppen den Reis zusammen mit Dahl und Curry in den Speisesaal, wo lange Stoffbahnen am Boden liegen. Junge Schöpfer laufen mit grossen Kellen und noch grösseren Eimern durch die Reihen. Andere verteilen das Fladenbrot. Einer von ihnen ist Narinder Singh. Lila Turban. Verschlissene Hosen. Stolzer Blick. Der 27-Jährige, oder ist er 28? So genau weiss er es nicht, wohnt in einem kleinen Dorf rund 40 Kilometer von Amritsar entfernt, bei seinen Eltern. Seit klein auf kommt er immer in den goldenen Tempel "Es ist gut für mein Karma", sagt er – ohne dabei zu schmunzeln. Aufgewachsen in einer armen Familie, angelt sich Narinder Singh von Job zu Job. Kämpft gegen 1000 Mitbewerber. In Indien sind die Arbeitskräfte auswechselbar. Es gibt ja auch Milliarden. "Menschen haben in Indien keinen Wert", sagt er. Und ohne Geld noch etwas weniger. Da bleibt am Ende nur die Religion. "Durch den Dienst am Nächsten hoffe ich, den Guru gnädig zu stimmen – so dass meine Wünsche in Erfüllung gehen", so Narinder Singh. Wie so viele träumt auch er von einem besseren Leben im Westen. Bis es soweit ist, hilft er weiter in der Tempelküche mit. "Das macht mich glücklich", sagt er, nimmt seinen Korb und wirft die nächste Runde Chapati in die wartenden Hände.
Informationen zur Grossküche
Der Goldene Tempel – das höchste Heiligtum der Sikh – befindet sich mitten in der Millionenstadt Amritsar, im Norden von Indien (Bundesstaat Punjab). Die Anlage ist rund um die Uhr für Gläubige wie auch Touristen geöffnet. Der Eintritt ist gratis, jedoch sind Spenden erwünscht. An einem der vier Eingänge müssen vor dem Betreten die Schuhe abgegeben und das Haar bedeckt werden. Es empfiehlt sich, den heiligen Ort an unterschiedlichen Tageszeiten zu besuchen. Die Stimmung in den frühen Morgenstunden unterscheidet sich erheblich vom Rummel um die Mittagszeit. In der Tempelküche, welche sich im Tempel befindet, gibt es einfache, vegetarische Mahlzeiten. Wer Lust hat, kann Gemüse schneiden oder Teller abwaschen.