Die Entscheidung wurde mit Spannung erwartet: Am Freitag, den 22.11. um 15 Uhr verkündete Shunji Yanai, Präsident des Internationalen Seegerichtshofs (ITLOS) in Hamburg, die Entscheidung im Fall der "Arctic Sunrise". Nachdem fast alle 30 Aktivisten, Journalisten und Besatzungsmitglieder gegen Zahlung einer Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen wurden, muss ihnen nach dem Beschluss des Gerichts nun auch die Ausreise gewährt werden. Auch das Schiff sei sofort freizugeben. Für die Kaution in Höhe von 3,6 Millionen Euro sollen die Niederlande aufkommen. "Das ist eine sehr gute Nachricht", kommentiert Öl-Experte Jörg Feddern von Greenpeace, "denn nach dem Beschluss können die 30 nun nach fast 64 Tagen in Haft endlich wieder ihre Familien in die Arme schließen."

Die niederländische Regierung hatte das Gericht angerufen, um die Freilassung der Aktivisten und der Besatzung und freie Fahrt für das Schiff zu erzwingen. Das Greenpeace-Schiff fährt unter niederländischer Flagge und liegt zur Zeit in Murmansk an der Kette. Die russischen Behörden erkennen die Zuständigkeit des ITLOS nicht an und haben angekündigt, sich dem Beschluss nicht zu beugen. "Russland hat das Internationale Seerechtsübereinkommen ratifiziert, und der Beschluss des Seegerichtshofs ist auch völkerrechtlich bindend. Darum gehen wir davon aus, dass die russische Regierung sich daran hält", sagt Feddern.
Der Beschluss des ITLOS ist ein weiterer Meilenstein in einer dramatischen Auseinandersetzung. Am Morgen des 18. September rasten die Greenpeace-Schlauchboote auf die Prirazlomnaya-Ölplattform des russischen Staatskonzerns Gazprom zu. Es sollte ein friedlicher Protest werden. Die Aktivisten wollten den Stahlriesen entern, um Banner zu entrollen. Die Weltöffentlichkeit sollte erfahren, dass die Ölkonzerne sich anschicken, die Arktis auszubeuten und in Gefahr zu bringen. Aber so weit kam es nicht. Noch während die ersten Kletterer die Außenhaut der Plattform erklommen, berichten die Aktivisten, preschten Schlauchboote der Küstenwache heran und rammten die Greenpeace-Boote. Uniformierte mit Sturmmasken zwangen die Aktivisten mit vorgehaltenen Messern und Schusswaffen zur Umkehr. 28 Umweltschützer und zwei Journalisten wurden festgenommen.
Rund zwei Monate verbrachten sie in Untersuchungshaft - wegen "bandenmäßiger Piraterie". Mittlerweile lautet der Vorwurf der russischen Justiz nur noch auf "Rowdytum". Doch auch dieses Vergehen kann mit einer bis zu siebenjährigen Haftstrafe geahndet werden. Und der Vorwurf der Piraterie wurde nie offiziell fallengelassen. Die meisten Aktivisten sind inzwischen gegen Zahlung einer Kaution von Greenpeace freigekommen, dürfen aber vorerst nicht ausreisen.

Startschuss zur Plünderung der Arktis
Der Protest der Aktivisten richtet sich nicht nur gegen Gazprom. Im April dieses Jahres unterzeichneten Gazprom und der niederländische Shell-Konzern ein Abkommen zur gemeinsamen Erkundung der arktischen Ölvorräte. Deren Ausbeutung wird möglich, weil sich das Meereis wegen der Klimaerwärmung immer weiter zurückzieht. Um rund 30 Prozent ist die arktische Eisdecke seit 1979 geschrumpft. Prirazlomnaya ist weltweit die erste Plattform, die im eisbedeckten Teil der Arktis Öl fördern soll - ganzjährig. In acht von zwölf Monaten wird sie von Eis umgeben sein.
Greenpeace und andere Umweltschutzorganisationen warnen, dass verheerende Umweltkatastrophen vorprogrammiert seien. Öl-Unfälle im Treibeis seien kaum beherrschbar. In der Petschorabucht wären die Küsten von drei Naturreservaten mit ihren sensiblen Ökosystemen bedroht. Experten bemängeln auch die veraltete Technik und die laschen Sicherheitsvorkehrungen auf den Plattformen. Im Fall einer Havarie, mahnt Greenpeace, müsste der größte Teil des Bergungsgeräts aus dem rund 1000 Kilometer entfernten Murmansk herbeigeschafft werden. Tage würden vergehen, bevor effektive Maßnahmen ergriffen werden könnten, eine Ölkatastrophe zu verhindern - eine Katastrophe, die die Nahrungsgrundlagen von Mensch, Eisbär und Walross für Jahrzehnte zerstören könnte. Denn im kalten arktischen Wasser würde sich das Rohöl, wie Meereskundler Rick Steiner im GEO-Interview erläutert, viel langsamer zersetzen als etwa in tropischen Gewässern.
Informationen von Greenpeace zum Protest gegen die Prirazlomnaya-Ölplattform