Der zwölfjährige Howard Dully liegt festgeschnallt auf einem Krankenbett. Vier Elektroschocks hat ihm der Neurologe Walter Freeman versetzt. Nach dem ersten Stromstoß aber kam der Junge schnell wieder zu Bewusstsein. Der Arzt hat das Gehirn des Kindes daraufhin gleich drei weitere Male unter Spannung gesetzt – mit Erfolg: Howard fällt ins Koma.
Jetzt kann Freeman mit der Operation am Gehirn beginnen. Er greift zu seinem Spezialinstrument: einer etwa 20 Zentimeter langen, stabilen Stahlnadel mit einer scharfen Klinge an der Spitze. Mit der freien Hand hebt er ein Lid des Jungen an und schiebt das Instrument seitlich am Augapfel vorbei, immer tiefer in den Kopf hinein. Als er an die Wölbung stößt, die Augenhöhle und Gehirn voneinander trennt, nimmt Freeman ein Hämmerchen: Ein kurzer Schlag genügt, um die Stahlnadel durch die dünne Knochenschicht zu treiben.
Lobotomie soll Howard Dullys Persönlichkeit verändern
Jetzt kann Freeman sein Werkzeug direkt in das Stirnhirn des Jungen drücken, fünf Zentimeter tief. Auch durch die andere Augenhöhle führt er eine Stahlnadel ein.
Dann fasst er beide Instrumente zugleich und schwenkt sie in bestimmten Winkeln hin und her: So will Freeman Nervenfasern in den Stirnlappen des Gehirns durchschneiden. Signalstränge, die zum Zwischenhirn führen, Wahrnehmungen und Gedanken mit Gefühlen verbinden, und die in Howards Kopf falsch verknüpft seien. Die Schnitte ins Gehirn sollen seine Persönlichkeit verändern.
Freeman lässt noch ein Foto des Zwölfjährigen aufnehmen, dann zieht er beide Stahlnadeln heraus. Nicht einmal zehn Minuten dauert die Operation im Doctors General Hospital in San Jose, Kalifornien. Es sind die Minuten, die Howard Dullys Leben zerstören.

Zwei Monate zuvor, im Oktober 1960, war Howards Stiefmutter in Walter Freemans Büro erschienen. Etwas stimme nicht im Kopf des Jungen. Er sei aufsässig, schneide boshafte Grimassen, benehme sich schlecht bei Tisch. Auch kleinere Diebstähle hat der Junge schon begangen, Bonbons oder Kleingeld aus einem Zeitungskasten geklaut. Sechs Psychiater hat die Stiefmutter bereits aufgesucht. Alle haben sie fortgeschickt mit der Diagnose Howard sei völlig normal. Doch das ist nicht die Antwort, die seine Stiefmutter hören will.
Walter Freeman unterhält sich mit dem Jungen. Howard mag ihn sofort. Der kultivierte, elegante, freundliche Mann mit dem sorgfältig getrimmten Spitzbart hat warme Augen und eine sanfte Stimme. Und er kann zuhören – anders als Howards Eltern. Zu Hause wird der Junge verprügelt, wenn er sich auf dem Heimweg von der Schule verspätet oder unerlaubt eine Banane vom Küchentisch nimmt. Oft ist sein Körper von Blutergüssen übersät. Dabei hat Howard gute Noten und ist ein ausgezeichneter Schachspieler. Aber seine Stiefmutter will ihn loswerden.
Pionier der Psychochirurgie ist ein Portugiese
Nach mehreren Gesprächen steht Freemans Diagnose fest: Howard leide an Schizophrenie. Doch er könne geheilt werden: Durch eine „Lobotomie“, eine Operation an den Stirnlappen des Gehirns, die sein trotziges Wesen besänftigen werde. Die Eltern stimmen zu.
Howard ahnt nicht, was mit ihm geschehen soll, als er 16 Tage später ins Krankenhaus kommt. Er weiß nicht, dass Walter Freeman schon Tausende „lobotomisiert“ hat. Dass der 65-Jährige ein Revolutionär ist, einst angetreten, die psychiatrische Medizin zu erneuern.
Mit einer Operation, die manche für einen Meilenstein der Wissenschaft halten und andere an ein mittelalterliches Folterritual gemahnt.

Walter Freeman, geboren am 14. November 1895 in Philadelphia, stammt aus wohlhabenden Verhältnissen. Er studiert Sprachen und Geschichte in Yale, eher ziellos. Dann jedoch wendet er sich mit 20 der Medizin zu. Freeman faszinieren plötzlich Nervenkrankheiten und die Physiologie des menschlichen Gehirns.
Es sind die Jahre, in denen Sigmunds Freuds Psychoanalyse in den USA populär wird. Doch die neue Theorie hat auch starke Widersacher. Sie glauben, dass Erkrankungen der Psyche rein organische Ursachen haben: Fehlfunktionen des Nervenapparats, die nicht durch Gespräche zu kurieren sind. Auch Walter Freeman zählt sich zu den Anti-Freudianern.
Tatsächlich versagt Freuds Analyse zumeist bei schweren Psychosen, viele Patienten werden in den Heilanstalten nur verwahrt. Deshalb wagen Nervenärzte in Europa und in den USA immer rabiatere Kuren: Sie lassen Elektrizität durch die Körper Depressiver laufen, traktieren Schizophrene mit Eisbädern und Duschen, injizieren ihnen sogar Malaria-Erreger, um ein „heilendes“ Fieber zu erzeugen, oder giftige Zyanide, um Gehirn und Nervensystem zu stimulieren.
Auch Walter Freeman, der seit 1924 in Washington als Neurologe und Psychiater arbeitet, wendet die Schocktherapien an. Er spritzt Substanzen wie Insulin und Metrazol – ein Analeptikum, dass starke Krampfanfälle auslöst, ähnlich wie bei der Elektroschocktherapie –, auch wenn sich die Patienten danach in so starken Krämpfen winden, dass sie manchmal Knochenbrüche erleiden.
Die Nebenwirkungen nimmt er in Kauf. Denn dass die Psychiatrien in den USA so überfüllt sind, hält Freeman für eine Verschwendung menschlicher Ressourcen. Er will aus Kranken nützliche Mitglieder der Gesellschaft machen – gleichgültig mit welchen Mitteln.
Im Frühjahr 1936 liest Freeman in einem medizinischen Journal von einer Methode, die radikaler ist als alles bisher Erprobte. In Portugal operiert der Neurologe Egas Moniz psychisch Kranke direkt am Gehirn, um zu sie kurieren. Er bohrt ihnen zwei Löcher ins Schädeldach, um mit einer Kanüle zu den Stirnlappen vorzudringen.
Bisher ist wenig bekannt über die Funktion der einzelnen Gehirnareale. Man weiß aber, dass sich in den Stirnlappen unzählige Nervenfasern verzweigen. Moniz glaubt, dass diese Verbindungswege bei Gemütskranken gleichsam erstarrt sind, dass sich in ihnen fixe Ideen und Wahnvorstellungen verfestigt haben. Man müsse die Nervenbahnen zerstören und das Gehirn zwingen, neue, gesündere Verbindungen zu knüpfen.
Anfangs spritzt Moniz Alkohol in die Stirnlappenregion, um die Nervenfasern abzutöten. Dann vollführt er mit einer Stahlschlinge oder kleinen Schneideklinge kreisrunde Schnitte, um Nervengewebe zu durchtrennen – ein höchst ungenauer und zerstörerischer Eingriff.
Viele Patienten leiden danach an Fieber, Gesichtsstarre, wirken desorientiert und apathisch: alles angeblich nur vorübergehende Symptome.
Nach 20 Operationen verkündet Moniz in einem Aufsatz, siebzig Prozent seiner Patienten seien völlig kuriert oder in besserer Verfassung – und sie hätten weder an Gedächtniskraft noch Intelligenz eingebüßt. Besonders gut wirkten die Schnitte ins Gehirn gegen Depressionen.

Doch die Erhebung ist viel zu hastig publiziert, die langfristigen Folgen sind vollkommen ungewiss. Viele Psychiater reagieren empört auf die neue „Psycho-Chirurgie“, wie Moniz seine Methode nennt. Zumal er für seine Theorien jeden Beweis schuldig bleibt.
Doch Walter Freeman ist beeindruckt von den Ergebnissen des Portugiesen – ob dessen Theorie stimmt, ist ihm gleichgültig. Der Mann aus Philadelphia träumt davon, der Pionier der „Psycho-Chirurgie“ in den USA zu werden. Dämmert nicht eine halbe Million Patienten in den staatlichen Psychiatrien vor sich hin, ohne Hoffnung auf Heilung? Und jedes Jahr werden es mehr.
Fehlschläge bremsen Freemans Eifer nicht
Kurzerhand bestellt er einige der Spezialinstrumente, mit denen Moniz operiert. Weil er keine chirurgische Ausbildung hat, bittet Freeman einen Neurochirurgen um Hilfe. Gemeinsam üben beide an den Gehirnen von Leichen die neue Operationsmethode.
Im September 1936 fühlen sie sich für den Eingriff gerüstet: Ihr erster Fall ist eine 63-jährige Hausfrau aus Kansas, die an Schlaflosigkeit, Ängsten und Depressionen leidet. Sie trepanieren in den Schädel zwei Löcher und setzen an zwölf Stellen Schnitte in die Stirnlappen.
Mehrere Tage danach stottert die Patientin und ist unfähig leserlich zu schreiben. Doch Freeman und sein Kollege gratulieren sich zum einem „brillanten“ Ergebnis: Offenbar sind alle Ängste verschwunden – und sie kann bald wieder ihren eigenen Haushalt führen.

Freeman nimmt die Nebenwirkungen gern in Kauf, er ist wie euphorisiert. Zumal auch die zweite Patientin von ihren Depressionen und Halluzinationen befreit zu sein scheint: Die Buchhalterin kann zwei Monate nach der Operation sogar ihre Arbeit wiederaufnehmen.
Doch es gibt auch Rückschläge: Die vierte Patientin leidet nach sechs Wochen erneut an ihren alten Angstzuständen. Beim fünften Eingriff verletzen die beiden Operateure Blutgefäße im Gehirn des Operierten. Die Folgen: epileptische Anfälle und Blaseninkontinenz.
Aber die Fehlschläge bremsen Freemans Eifer nicht. Nach nur sechs Versuchen lädt er einen Zeitungsreporter ein, bei einer „Lobotomie“, wie er die Schnitte in die Stirnlappen (von engl: frontal lobes) nun nennt, dabei zu sein. In dem Artikel, der im November 1936 erscheint, wird die Lobotomie als eine der wahrscheinlich „größten chirurgischen Erfindungen“ der Gegenwart gefeiert.
Dabei gibt es nur wenige Wochen später den ersten Todesfall: Eine 60-jährige Frau stirbt nach der Operation an einer Gehirnblutung. Doch der Kunstfehler hat keinerlei Konsequenzen für die beiden Ärzte.
Dabei erleiden auch andere ihrer Patienten Hirnschäden, müssen teils gefüttert oder lange gepflegt werden. Rosemary Kennedy, die Schwester des späteren US-Präsidenten, bleibt nach ihrer Lobotomie 1941 mit einem kindlichen Verstand zurück und verbringt die restlichen 63 Jahre ihres Lebens in geschlossenen Einrichtungen.
Selbst Walter Freeman hält den Eingriff zu dieser Zeit nach wie vor für ein letztes, da besonders riskantes Mittel. Zugleich aber propagiert er die Lobotomie auf Mediziner-Kongressen im ganzen Land. Die meisten Fachkollegen bleiben jedoch skeptisch. Sie halten die Operation für zu zerstörerisch, manche auch kriminell.
Nur einige andere Neurologen erproben die neue „Psycho-Chirurgie“. Weniger wohl, als sich Freeman erhofft hat. Zwischen 1940 und 1944 verzeichnen die Krankenakten in den USA 684 Lobotomien. Allein Walter Freeman hat bis 1943 in über 200 Fällen operiert, die Erfolgsquote gibt er mit 63 Prozent an.
Sein missionarischer Eifer ist damit nicht gestillt. Zumal nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die 180 staatlichen Psychiatrien des Landes überfüllt sind. Hunderttausende, schätzt Freeman, warten in den Anstalten auf Behandlung. Möglichst vielen will er mit einer Lobotomie helfen. Sie soll bald nicht mehr das allerletzte Mittel, sondern der erste Schritt zu einer Therapie sein.
Dazu aber muss er den aufwendigen Eingriff vereinfachen.
Operationswerkzeug stammt aus der Küchenschublade
Freeman erinnert sich, dass es einen leichteren Zugang zum Gehirn gibt als Löcher in die Schädeldecke zu bohren: Durch die Augenhöhle (Orbita), die von den Stirnlappen nur durch eine dünne Knochenwand getrennt ist. Aber noch fehlt ihm ein geeignetes Werkzeug, die Spezialinstrumente des Portugiesen brechen zu leicht. Freeman wird zu Hause in der Küchenschublade fündig: ein langer stählerner Pickel, mit dem man Cocktail-Eis zerstoßen kann, scheint genau richtig.
Im Januar 1946 erprobt Freeman erstmals die „transorbitale“ Lobotomie. Einer 29-jährigen Frau, die unter manischen Schüben und Depressionen leidet, schiebt er den Eispickel am Augapfel vorbei bis in das Stirnhirn. Dann schwingt er sein neues Instrument hin und her, um Nervenbahnen zu durchtrennen. Wieder scheint die Patientin schlagartig geheilt; zwar wirkt die Frau in ihrem ganzen Wesen auffallend gedämpft, kann aber wieder als Krankenschwester arbeiten.
Diesmal hat Freeman nicht in einem Krankenhaus operiert, sondern in seinem Bürozimmer – das spart Zeit und Geld. Auch die Betäubungsmethode ist unkonventionell: Freeman versetzt seine Patienten fortan durch Elektroschocks in ein kurzes Koma. Nach dem Aufwachen schickt er sie im Taxi nach Hause. Er operiert ohne sterile Handschuhe, ohne Gesichtsmaske und Arzt-Kittel, alles soll schnell gehen.
Erfindung der Lobotomie wird mit einem Nobelpreis geehrt
Freemans Vision: Künftig sollen Psychiater im ganzen Land die Eispickel-Lobotomie in ihren Untersuchungszimmern praktizieren. Die „transorbitale“ Methode dauert ja nur etwa sieben Minuten.
Und sie ist lebensgefährlich, jederzeit können Blutgefäße im Kopf verletzt werden, kann Gehirngewebe sich infizieren. Entsetzt wendet sich nun der Neurochirurg, mit dem Freeman bisher operierte, von ihm ab. Der aber lässt sich nach dem Modell des Eispickels neue Spezialwerkzeuge anfertigen, aus hartem Stahl und mit scharfer Klinge.
Denn inzwischen öffnen ihm immer mehr Psychiatrien im Land ihre Tore. Das Personal ist mit den Patienten oft überfordert – und Freemans Versprechungen klingen verlockend. Tatsächlich können nach seiner Eispickel-Lobotomie viele entlassen werden. Weil die Schnitte offenbar alle Emotionen kappen, aus Psychotikern friedfertig-apathische Wesen machen.
Der Operateur hofft, in die Geschichte der Medizin einzugehen, als ein Revolutionär, der alte Menschheitsübel wie Depression und Hysterie ausmerzt. Freeman macht sich möglicherweise sogar Hoffnungen auf den Medizin-Nobelpreis; den jedoch bekommt 1949 Egas Moniz zugesprochen, der Erfinder der herkömmlichen Lobotomie.
Die Ehrung aus Stockholm ist wie ein offizielles Gütesiegel; sie lässt viele Gegner verstummen. Inzwischen praktizieren Ärzte in vielen Ländern Europas den Eingriff, in Japan, Neuseeland und in einigen Staaten Südamerikas. Wurden bis dahin weltweit etwa 5000 Lobotomien vorgenommen, so sind es in den ersten vier Jahren nach der Preisvergabe allein in den USA 20000. Ein Drittel davon nach Freemans transorbitaler Methode.
Er operiert nun überall. Das Operationsbesteck passt in seine Jackentasche; er hat ein tragbares Elektroschock-Gerät dabei, ein Hämmerchen sowie eine Fotokamera – mehr braucht er nicht. Freeman bereist mit Auto und Flugzeug die US-Staaten an Atlantik- und Pazifikküste, im Mittleren Westen und im Süden.
Allein im Sommer 1951 legt er 11000 Meilen zurück, operiert wie am Fließband. Im Jahr darauf behandelt er in West Virginia 228 Patienten in zwölf Tagen; nach der Massen-Lobotomie – vier Menschen sterben – können 81 Patienten die Anstalten verlassen; der Bundesstaat spart Zehntausende Dollar an Unterbringungskosten.

Freeman genießt die großen Auftritte. Einmal operiert er vor einem Auditorium von 50 Ärzten und Reportern. Ein anderes Mal sogar mit gebrochenem Arm, wie besessen von seinem Feldzug. Und er ist fahrlässig. Ein Patient stirbt, weil das Lobotomie-Messer ins Gehirn abrutscht, als Freeman während der Operation das übliche Foto schießt.
Trotz solcher Pannen erscheinen in populären Magazinen wie „Life“, „Time“, „Newsweek“ und „Reader‘s Digest“ Artikel über Freeman. Er ist zu Beginn der 1950er Jahre eine Berühmtheit, muss sogar Autogrammkarten verschicken; Anrufer erbitten eine Lobotomie – für sich selbst oder für Verwandte.
Doch dann wird der Revolutionär von einer neuen Erfindung gestoppt: 1954 kommt Thorazine, das erste Neuroleptikum auf den Markt. Eine „chemische Lobotomie“, wie die Herstellerfirma wirbt. Das Medikament unterdrückt Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Das Anstaltspersonal kann damit tobende und schreiende Patienten ruhig stellen.
Schon im ersten Jahr wird das Wundermittel an zwei Millionen Menschen erprobt. Der Effekt ist erstaunlich: Viele Patienten sind so gedämpft, dass man sie nach Hause entlassen kann. Die Zahl der Psychiatrieinsassen beginnt nach Jahren der Überfüllung stetig zu sinken.
Thorazine ist weitaus ungefährlicher als Freemans Psychochirurgie. Die große Zeit des Lobotomisten ist vorbei. Walter Freeman zieht 1954 von Washington nach Los Altos, Kalifornien. Nur ein Krankenhaus in einem Außenbezirk dort erlaubt ihm noch, Lobotomien durchzuführen.
Los Altos ist die Stadt, in der Howard Dully aufwächst. Nicht überall hat sich herumgesprochen, dass Freemans Ruhm verblasst und seine Eispickel-Methode umstritten ist. Jemand muss den gefallenen Star der Stiefmutter des Jungen empfohlen haben. Am 16. Dezember 1960, um 13.30 Uhr, erledigt Freeman den raschen Eingriff.
Am Morgen danach wacht Howard Dully desorientiert auf, wie in einen Nebel gehüllt. Sein Kopf schmerzt und die Augen sind von Blutergüssen schwarz umrandet (Freeman rät den Operierten stets, eine Sonnenbrille zu tragen). Nach fünf Tagen wird der Zwölfjährige aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen.
Er kann nicht zur Schule gehen, starrt apathisch vor sich hin. Howard scheint ein anderer Mensch geworden zu sein: abgestumpft, interesselos, betäubt. Doch für Walter Freeman ist der Eingriff ein voller Erfolg: „Howard wirft seiner Stiefmutter keine gruseligen Blicke mehr zu“, schreibt er etwa drei Wochen nach dem Eingriff in die Krankenakte.
Eine Woche später fährt er im Auto vor. Der Operateur will Howard in San Francisco einem Auditorium von Ärzten vorführen – noch immer führt er unermüdlich seinen Feldzug für die Lobotomie. Doch im Saal wird Empörung laut, als Freeman das Alter des hoch gewachsenen Jungen nennt. Er hat ein zwölfjähriges Kind lobotomisiert?
Walter Freeman verliert die Fassung. Er schleudert einen Kasten auf das Podium, gefüllt mit Hunderten von Gruß- und Weihnachtskarten, geschrieben von dankbaren Patienten. „Wie viele Weihnachtskarten bekommen Sie von ihren Patienten?“, schreit er in den Saal. Dann wird Freeman von der Bühne gebuht.
Der Skandal beschleunigt seinen Abstieg. Dass Freeman weiterhin die Lobotomie an Kindern propagiert, ruiniert seinen wissenschaftlichen Ruf endgültig.
Howard Dullys Leidenszeit beginnt jetzt erst. Zwar spürt er keine Ausfälle – wie so viele andere Patienten Freemans, kann klar sprechen und denken. Doch der Nebel im Kopf bleibt. Und noch immer ist die Stiefmutter unzufrieden mit Howards Tischmanieren: Sie will ihn aus dem Haus haben. Freeman hilft mit einem Gutachten, das Kind wegzuschaffen. Howard kommt zu einer Pflegefamilie, wird dann zu Verwandten abgeschoben.
Obwohl er wieder zur Schule geht, ist seine Stiefmutter entschlossen, ihn in einer Psychiatrie unterzubringen. 1963 wird der Vierzehnjährige in Handschellen dorthin abtransportiert. Ein Jahr dauert die Internierung – eine verlorene Zeit, die Ärzte wissen nichts mit dem Jungen anzufangen. Dann kommt Howard auf eine Sonderschule und erneut für zwei Jahre in die Psychiatrie.
Freemans letzte Patientin stirbt an einer Gehirnblutung
1969 findet sich in Freemans Notizen ein Eintrag über Howard Dully: Der Junge mache eine „unbefriedigende“ Entwicklung durch. Zwei Jahre zuvor hat Walter Freeman die letzte seiner etwa 3500 Lobotomien ausgeführt. Nach drei Tagen stirbt die Patientin an einer Gehirnblutung. Kein Hospital in Los Altos erlaubt ihm mehr zu operieren.
Freeman verkauft sein Haus, fährt fortan im Camperbus durch die USA. Wie ein Gespenst auf der Spur seiner Patienten, die er besucht und befragt. Die Datensammlung soll seinen Ruf retten. Dabei waren Freemans Erfolgsstatistiken stets von zweifelhafter Aussagekraft, stützten sich auf flüchtige Beobachtungen. Als Walter Freeman am 31. Mai 1972 mit 76 Jahren an Darmkrebs stirbt, praktiziert wohl kaum noch ein Arzt die Lobotomie.
Doch in den Jahrzehnten zuvor, so hat ein Historiker geschätzt, wurden weltweit 100 000 Menschen lobotomisiert, darunter auch Gefängnisinsassen und womöglich Dissidenten in der Sowjetunion. 1978 erlässt das US-Gesundheitsministerium strenge Restriktionen gegen jegliche Psychochirurgie, lehnt es jedoch ab die Psychochirurgie gänzlich zu verbieten; in Japan, Australien und Deutschland ist die Lobotomie bereits vorher verboten worden.
Womöglich steht das Operieren am Gehirn heute, im Zeitalter bildgebender Verfahren und moderner Präzisionsinstrumente, vor einer Renaissance. Noch aber sind solche Eingriffe sehr selten und werden von Ärzten nur in Erwägung gezogen, wenn alle anderen Behandlungsmethoden erfolglos bleiben: weil Neurologen und Psychiater wissen, dass das Gehirn ein kompliziertes Netzwerk ist, in dem sich einzelne Funktionen nicht genau lokalisieren lassen. Und weil der Schatten des Lobotomisten Walter Freeman über der Psychochirurgie liegt.
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Howard Dully kommt erst im Frühjahr 1969 endgültig frei, mehr als acht Jahre nach der Lobotomie. Er hat keine Ausbildung, lebt zeitweise als Obdachloser und von staatlicher Fürsorge. Er lässt sich treiben. Mit 45 Jahren macht er einen Abschluss als Computer-Fachmann, findet aber keine Stelle. Später arbeitet Howard Dully als Busfahrer und lebt mit seiner Frau in San Jose, Kalifornien.
Er wird nie genau herausfinden, was die Schnitte in seinem Gehirn angerichtet haben.