GEOkompakt: Herr Professor Beier, ist ein Mann bereits Fetischist, wenn er eine Frau in schwarzen Netzstrümpfen besonders erotisch findet?
Klaus M. Beier: Nicht unbedingt. Es kann durchaus sein, dass nicht die Kleidung an sich den Mann erregt, sondern die Frau in der Kleidung, also ihr Körper und auch ihre Beine. Die Netzstrümpfe allein würden ihn nicht stimulieren. Bei einem Fetischisten wäre das aber so. Bei ihm ist es ein bestimmtes Objekt, das zur sexuellen Erregung führt – in diesem Fall die Netzstrümpfe. Fetische können alle möglichen leblosen Gegenstände sein, etwa Strümpfe, Seide, Lack oder Gummi. Aber auch bestimmte Körperteile, zum Beispiel Hände oder – besonders häufig – Füße.
Bedeutet das, ein Fetischist kann nur in Verbindung mit einem solchen Objekt sexuelle Lust verspüren?
Nein, er kann zugleich auch andere sexuelle Ansprechbarkeiten aufweisen. Um das zu verstehen, müssen wir zunächst erkennen, wie unsere erotische Vorstellungswelt aufgebaut ist. Als Wissenschaftler spreche ich von der „sexuellen Präferenzstruktur“ eines Menschen. Sie umschließt sämtliche sexuellen Vorlieben, und die entwickeln sich im Laufe der Pubertät.
In jener Zeit reifen individuelle Fantasien, erotische Wunschbilder und Abneigungen. Letztlich sind dafür komplexe Neuronennetze verantwortlich, die sich im jugendlichen Hirn entwickeln. Bei jedem Menschen bildet sich die sexuelle Präferenzstruktur auf drei Achsen aus. Die erste Achse bestimmt, welches Geschlecht jemand anziehend findet. Ob er also sexuell auf das weibliche oder auf das männliche Geschlecht orientiert ist. Oder – wie in seltenen Fällen – auf beide Geschlechter.
Auf der zweiten Achse manifestiert sich, welches körperliche Entwicklungsalter einen Menschen erregt: Fühlt er sich zu kindlichen Körpern hingezogen, zu Jugendlichen, Erwachsenen oder Greisen? Auf der dritten Achse findet sich die bevorzugte sexuelle Praktik – also die gesamte Bandbreite dessen, was ein Mensch sexuell mit einem Partner erleben möchte. Das reicht vom bloßen Betrachten bis zum martialischen Quälen.
Auf dieser dritten Achse der sexuellen Präferenzstruktur sind auch die fetischistischen Neigungen eingelagert. In den allermeisten Fällen liegen sie allerdings als sogenannte Nebenströmung vor. Das heißt, es tauchen auch noch andere erregende Fantasien auf – etwa orale oder manuelle Stimulationen, die überhaupt nichts mit dem Fetisch zu tun haben.
Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass fetischistische Neigungen selten die sexuelle Präferenzstruktur ausschließlich dominieren. Viel häufiger machen sie nur einen Teil dieser Struktur aus.
Das klingt so, als seien derartige Tendenzen weiter verbreitet als gemeinhin vermutet.
Genau so ist es. Wir wissen mittlerweile, dass es erstaunlich viele Abweichungen vom vermeintlichen Durchschnitt gibt. In Berlin haben wir auf der Basis einer repräsentativen Umfrage ermittelt, dass mehr als 50 Prozent der Männer irgendeine sexuelle Ansprechbarkeit auf „paraphile“, also von der Norm abweichende Reizmuster aufweisen. Das schließt nicht nur fetischistische, sondern beispielsweise auch masochistische oder sadistische Stimuli ein. Oder das Verlangen, die Kleider des jeweils anderen Geschlechts zu tragen, also transvestitischen Fetischismus.
Man könnte beinahe sagen: Die Ausnahme ist eigentlich der Regelfall. In den allermeisten Fällen ist dies allerdings nicht Ausdruck einer krankhaften Störung. Vielmehr zeigt sich daran die Vielfältigkeit menschlicher Sexualität. Und: Bei Männern treten Paraphilien häufiger auf als bei Frauen – vor allem, wenn sie mit der Gefährdung anderer verbunden sind, etwa die Pädophilie. Die kommt bei Frauen extrem selten vor.
Pädophil zu sein, bedeutet ja, dass mit zunehmender Erregung in der Fantasie des Betroffenen der Kinderkörper auftaucht. In meiner mehr als 20-jährigen klinischen Tätigkeit als Sexualmediziner ist mir nur eine Frau begegnet, bei der dies zutraf.

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Wonach haben Sie die Probanden in Ihrer Studie befragt?
Wir haben gezielt nach Masturbationsfantasien geforscht. Also danach, was sich jemand bei der Selbstbefriedigung vorstellt. Gerade diese Fantasien sind besonders aussagekräftig. Denn sie bilden die sexuelle Präferenzstruktur vollständig ab.
Weil die Fantasie bei der Masturbation völlig frei ist?
Nein. Weil die Fantasie bei der Masturbation gerade nicht frei ist. In den präorgastischen Fantasien wird bei Ihnen genau das auftauchen, was in Ihrer Präferenzstruktur angelegt ist. Wenn Sie auf Frauen orientiert sind, tauchen da Frauen auf. Wenn Sie auf Latex stehen, taucht da Latex auf. Und Sie stellen sich genau das vor, was Sie am liebsten erleben möchten.
Ob die Fantasien dann auch ausgelebt werden, steht auf einem ganz anderen Blatt; daraus müssen ja keine Handlungen werden – bei fremdgefährdenden Begierden ist die Beschränkung auf die gedankliche Ebene für den Betroffenen sogar unverzichtbar, wenn er nicht verantwortungslos handeln möchte. Für die Untersuchung der sexuellen Präferenz spielt die Fantasie die entscheidende Rolle. Und hierbei stellt sich heraus, dass manche Menschen ausschließlich durch paraphile Inhalte sexuell erregt werden, dass also eine Hauptströmung vorliegt.
Dann nimmt ein einzelnes Wunschbild die gesamte dritte Achse der sexuellen Präferenzstruktur ein. Der Betroffene empfindet beispielsweise nur in Verbindung mit einem Fetisch Lust. Das aber kann zu erheblichen psychischen und sozialen Problemen führen.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Einer meiner Patienten, ein Beamter mittleren Alters, verspürt seit einiger Zeit den immer stärkeren Wunsch, seinen Fetisch – Gummi – so intensiv wie möglich zu spüren. Er hat sich einen hautengen Gummianzug gekauft, in dem er seither jede Nacht verbringt. Unter dem Material aber kann seine Haut kaum atmen. Schon nach kurzer Zeit beginnt der Patient extrem zu schwitzen. Und doch bleibt er die ganze Nacht lang eingehüllt. Am nächsten Tag ist er so erschöpft, verschwitzt und entkräftet, dass er nicht mehr zur Arbeit gehen kann.
Ein anderer meiner Patienten, ein verheirateter Ingenieur, leidet unter einer Extremform von Haarfetischismus. Er fühlt sich nur dann stimuliert, wenn er das Haar seiner Frau direkt an sich spürt, wenn er es etwa an sein Gesicht drückt. Auch bei ihm liegt eine Hauptströmung vor. Weder der Busen noch die vaginale Penetration erregen ihn. Sie sind gewissermaßen neutral.
Seine Frau aber weiß von dem Haarfetischismus nichts. Sie bemerkt nur seine Zurückhaltung – und ist verunsichert.
Zumal ihr Mann immer öfter Erektionsstörungen hat, die den von ihr begehrten vaginalen Koitus unmöglich machen. Der Mann findet sein Verlangen selber merkwürdig. Und die Frau wundert sich. Sie fragt sich: Warum blickt er nicht auf meinen Busen? Warum will er meinen Po nicht berühren?
Der Mann wiederum merkt, dass sie sich wundert. Er gerät also zunehmend in einen Konflikt. Denn er liebt sie ja. Und empfindet es als ungehörig, sich beim Sex gedanklich von ihr zu entfernen. Das Resultat ist ein enormer Leidensdruck. Lange Zeit hat er gehofft, dass seine fetischistische Hingabe eines Tages verschwinden würde – das wünschen sich im Übrigen viele Patienten.
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Besteht die Chance, dass der Mann seine Neigung irgendwann ablegen kann?
Nein. Die sexuelle Präferenzstruktur eines Menschen ändert sich nach der Pubertät nicht mehr. Sie wird unter dem Einfluss von Hormonen im Jugendalter in ihrer individualspezifischen Erscheinung im Gehirn regelrecht arretiert, also gleichsam festgeschrieben.
Der pubertäre Prozess beeinflusst die für unsere Sexualität zentralen Steuerungszentren, etwa den Hypothalamus, ein kleines unbewusst arbeitendes Kerngebiet im Gehirn. Es ist ein irreversibler Vorgang. An der individuellen Ausrichtung wird sich dann bis zum Tod nichts mehr ändern. Das gilt auch für den „Regelfall“, also die sexuelle Orientierung auf das Gegengeschlecht. Und natürlich für Homosexuelle, die man ja noch vor wenigen Jahrzehnten „umzupolen“ versuchte, was so wenig funktionieren konnte wie das Verändern einer fetischistischen Neigung.
Was genau empfindet ein Fetischist? Was etwa spürt der Mann im Gummianzug?
Auch wenn es zunächst schwer zu begreifen ist: Es geht immer um die besondere Beziehung zum Fetisch und ein damit verknüpftes Zugehörigkeitsgefühl. Seiner sexuellen Präferenz entsprechend, sucht jeder Mensch nach einem Partner, der seiner Vorliebe entgegenkommt. Mit diesem strebt er eine Beziehung an. Es geht dabei aber weniger um sexuelle Erregung und Höhepunkte.
Nehmen wir einen sexuell auf Frauen orientierten Mann. Er verliebt sich in eine Frau, will mit ihr eine Beziehung führen, will zu ihr gehören – und wünscht sich, dass sie genauso empfindet. Er will mit der Partnerin also offensichtlich keineswegs nur Orgasmen erleben.
Aber warum ist das so?
Das liegt daran, dass die Beziehung als solche psychosoziale Grundbedürfnisse erfüllt, auf die alle Menschen angewiesen sind. Diese Bedürfnisse wurzeln in dem tiefen Wunsch nach Akzeptanz, nach Sicherheit und Schutz, nach Geborgenheit und Vertrauen. Letztlich danach, als Mensch angenommen zu werden, sich zugehörig zu fühlen. Das ist ein evolutionäres Erbe. Als hoch entwickelte, sozial organisierte Säugetiere sind wir biologisch auf Bindung programmiert. Denn isoliert, nur für uns allein, ohne soziale Anerkennung können wir nicht glücklich werden.
Darum sind Bindungen von existenzieller Bedeutung. Und besonders intensiv vermögen wir Akzeptanz und Annahme in einer Liebesbeziehung zu erleben. Wenn wir es schaffen, eine solche Beziehung zu gründen, dann ist das ein Garant für Lebensqualität.
Das klingt ja erst einmal ganz normal und für viele nachvollziehbar.
Hoffentlich. Ein Problem entsteht aber, wenn das Liebesobjekt gar keine Person ist. Wenn also jemand Trost, Vertrautheit, Sicherheit nur im Kontakt mit einem Fetisch erleben kann. Der Gummifetischist aus meiner Praxis etwa ist vollkommen beziehungsunfähig. Er ist noch nie eine enge Bindung zu einem anderen Menschen eingegangen. Im Grunde bedeutet der Fetisch für ihn das, was andere Menschen in einem Partner sehen. Der Fetisch soll seine Beziehungswünsche erfüllen.
Folglich geht es auch ihm nicht nur um Orgasmen. Er liegt nicht in seinem Gummianzug und hat die ganze Nacht einen Höhepunkt nach dem anderen. Der Anzug verschafft ihm vielmehr die psychoemotionale Stabilisierung, die andere Menschen in Beziehungen zu ihren realen Partnern finden. Erst im Kontakt mit dem hautengen Anzug fühlt er sich geborgen, sicher und angenommen.
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Kann man solche extremen Paraphilien auf Schlüsselerlebnisse in der Kindheit zurückführen?
Man findet bei Weitem nicht immer einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Kindheit und der späteren Neigung. Denn nicht allein Vergangenes, sondern immer auch biologische und soziale Faktoren bestimmen, welche Begierden ein Mensch in der kritischen Phase der Pubertät ausbildet.
Heranwachsende sind ja viel mehr als Erwachsene auf der Suche nach stimulierenden Erfahrungen. Und die ergeben sich letztlich daraus, welche Reize aus der Umgebung auf den Einzelnen einströmen und welche er davon aufnimmt. Allerdings: Wie jemand diese Reize verarbeitet, hängt mit Sicherheit auch damit zusammen, wie die Qualität der Bindungen war, die er in seiner Kindheit erlebt hat.
Wie sehr wurden seine psychosozialen Wünsche zuvor befriedigt? Gab es da beispielsweise viele Defizite? Fühlte er sich als Kind oft einsam, vernachlässigt, wurde er misshandelt? Ich kenne Biografien von Menschen, in denen angesichts solcher psychoemotionaler Mangelsituationen bestimmte Fetische eine besondere Besetzung erfahren können. Sie spenden etwa Trost, bieten Sicherheit, wirken antidepressiv und vermögen emotional zu stabilisieren.
Bei einem meiner Patienten bespielsweise lassen sich entsprechende, sehr ernst zu nehmende Anknüpfungspunkte in seiner Biografie finden. Er ist Bauarbeiter, Anfang 30. Und: Seit seiner Jugend erregen ihn Gipsverbände. Die Rekonstruktion seines Lebenslaufs ergab, dass der Betroffene als Kind in einem Mangelmilieu aufwuchs und von seiner Familie vernachlässigt wurde. Früh bemerkte er, dass Menschen, die infolge eines Unfalls einen Gips trugen, deutlich mehr Schonung und Fürsorge erfuhren.
Dann hatte er selber einen Unfall, sein Arm wurde eingegipst und seine Beobachtung bestätigte sich: Menschen zeigten Mitgefühl, kümmerten sich um ihn – er erfuhr Zuneigung. Als er dann in die Pubertät kam, tauchten in seinen sexuellen Fantasien mit einem Mal Frauen mit einem Gipsfuß auf – oder einem gebrochenen Arm, der eingegipst werden musste.
Viele Menschen würden eine derart sonderbare Vorliebe als „pervers“ bezeichnen. Gibt es diesen Begriff in der Sexualwissenschaft überhaupt?
Der Begriff „Perversion“ stammt aus der Psychoanalyse und ist mittlerweile eher antiquiert. Fachwissenschaftlich versteht man darunter einen gestörten Konfliktverarbeitungsmodus: Der „Perverse“ sucht etwa durch sexuelle Impulse und Erlebnisse einen Konflikt aus ganz anderen Lebensbereichen zu bewältigen. Ein klassisches Beispiel ist der sogenannte Don-Juanismus. Vor Jahren kam ein Verwaltungsjurist zu mir. Den ganzen Tag dachte er darüber nach, wie er am Abend eine neue Frau finden könnte. Nur der sexuelle Kontakt mit einer Unbekannten konnte ihn vergewissern, dass er ein ganzer Mann war. Das verschaffte ihm ein Gefühl von Akzeptanz. Nur so vermochte er Selbstwertgefühl aufzubauen. Aber bloß für kurze Zeit. Nach dem sexuellen Akt zerfiel die Bestätigung sofort wieder. Am folgenden Tag musste er also von Neuem überlegen, woher er den nächsten Beweis bekommen würde. Er war nicht mehr arbeitsfähig.
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Haben Sie bei ihm eine klinische Störung diagnostiziert?
Ja. Hier gelten die Kriterien der international gültigen Klassifikationssysteme, insbesondere das Diagnose-Handbuch der amerikanischen Psychiatrievereinigung. Danach liegt eine Störung vor, wenn der Patient unter seinen sexuellen Impulsen leidet oder in seiner sozialen Gestaltungsfähigkeit eingeschränkt ist – hier war ja beides der Fall. Eine Störung liegt aber auch dann vor, wenn das paraphile sexuelle Verlangen einen Menschen dazu treibt, einen anderen zu verletzen. Das wird in jedem Fall als Störung klassifiziert, unabhängig davon, ob der Täter nun einen Leidensdruck verspürt oder nicht.
Ein extremes Beispiel dafür ist sicherlich der als „Kannibale von Rotenburg“ bekannte Armin Meiwes. Er hat im März 2001 den Ingenieur Bernd Brandes mit dessen Einwilligung getötet und anschließend Teile der Leiche gegessen. Sie haben Armin Meiwes psychiatrisch begutachtet. In seinem Fall sprechen Sie von einer fetischistischen Neigung. Was ist hier der Fetisch?
Armin Meiwes hat eine starke fetischistische Bindung an das Fleisch eines erwachsenen Mannes. Es muss zudem ein Mann sein, der ihm sympathisch ist. Meiwes hat sich intensiv mit der Anatomie und Struktur männlicher Muskeln beschäftigt. Er hat den Körper von Brandes gleich einem Schlachtvorgang zerlegt, um an das Fleisch zu gelangen.
Neben dem sexuell erregenden Element ging es ihm jedoch auch darum, eine tiefe zwischenmenschliche Bindung zu erreichen. Er wollte seine Einsamkeit überwinden.
Und das konnte er nur – zumindest hat er sich das vorgestellt –, indem er sich das Fleisch eines anderen Mannes einverleibte. Wieder einmal finden sie die Durchmischung der Lust- und der Bindungsdimension. Beide wohnen der Sexualität inne. Hier verknüpfen sie sich im Extrem.
Hatte das Opfer Bernd Brandes auch einen Fetisch?
Nein, Brandes litt an einer ganz schweren masochistischen Paraphilie. Er empfand Erregung durch körperliche Qualen, die er wiederum von einem anderen Mann zugefügt bekommen wollte. Seine sexuellen Fantasien gipfelten in dem authentischen Wunsch, sein Penis möge ihm abgetrennt werden. Auf der Beziehungsebene ist an dem Fall besonders interessant, dass sich Meiwes und Brandes gegenseitig belogen haben. Nur dadurch konnten sie ihr jeweiliges Ziel überhaupt erreichen.
Meiwes vermittelte seinem Gegen-über, er wäre ein Sadist und täte nichts lieber, als Brandes zu quälen. Dabei wollte er diesem gar keine Schmerzen zufügen. Ihm war das zuwider. Er hat sogar gedacht: Der tickt doch nicht richtig, dass er sich so quälen lassen will. Meiwes ging es lediglich um das Fleisch. Das wollte er essen. Brandes dagegen gab Meiwes gegenüber vor, sich nichts sehnlicher zu wünschen, als von einem anderen Menschen gegessen zu werden. Doch in Wirklichkeit war ihm das vollkommen gleich-gültig. Er wollte nur, dass Meiwes ihm maximale Schmerzen zufügte und ihm schließlich den Penis abschnitt.
Das klingt ziemlich bizarr.
Ist es auch.
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Haben Brandes und Meiwes denn letztlich ihre Wünsche verwirklichen können?
Brandes war unheimlich eingenommen von der Vorstellung, die Abtrennung seines Penis verschaffe ihm ein bisher nicht erreichtes Glücksgefühl. Ich weiß aber, dass er enttäuscht war, als wider Erwarten dieses Gefühl nicht eintrat. Die beiden haben ja ihre Zusammenkunft – einschließlich der Penisabtrennung – auf Video aufgenommen.
Meiwes sagt übrigens das Gleiche. Auch er hat sich ein intensiveres Gefühl von der Einverleibung des Fleisches versprochen. Das hätte ich den beiden aber vorher sagen können. Denn nichts ist realer als die Fiktion. In gewisser Weise geht das wirkliche Erleben mit einer Entzauberung der Fantasie einher.
Können Sie uns erklären, weshalb jemand Schmerz empfinden möchte und das auch noch sexuell erregend findet?
Man kann das kaum begreiflich machen, da die damit verknüpften emotionalen Vorgänge sehr stark von irrationalen Kräften durchwirkt sind. Gleichwohl streben wir nach plausiblen, rationalen Erklärungen, doch gerade hier scheitern Wissenschaftler häufig. So lassen sich beispielsweise keine regelhaften Ursachen in den Lebensgeschichten der Betroffenen finden.
Wenn es aber keine eindeutigen Gründe gibt, fühlen wir uns als Menschen unwohl. Wir haben große Schwierigkeiten, das so hinzunehmen. Aber genau das müssen wir. Ich kenne etliche Fälle von schweren sadistischen oder masochistischen Neigungen, bei denen kein wirklich plausi-bler Grund dafür angeführt werden könnte, weshalb gerade dieser Mensch so fühlt. Manchmal tauchen in den Biografien allerdings Startpunkte auf, die gewissermaßen den Beginn des besonderen Erlebens markieren.
Beispielsweise dann, wenn sich einer meiner Patienten mit einer sadistischen Neigung daran erinnert, dass er schon vor der Pubertät – im Alter von zehn Jahren – eine eigentümliche Lust verspürte: dass er sich etwa bei „Cowboy und Indianer“-Spielen wünschte, das „Martyrium“ der am Marterpfahl Gefesselten solle möglichst lange dauern.
Treten sadomasochistische Tendenzen häufiger bei Menschen auf, die in ihrem Beruf viel Macht ausüben – die aber im Gegenzug auch mal beherrscht werden wollen? Es gibt ja das berühmte Bild des Managers, der sich am Wochenende von einer Domina auspeitschen lässt.
Dieses Bild wird häufig kolportiert. Vielleicht weil die Vorstellung reizvoll ist, dass ein Chef auch seine Schwächen hat. Es klingt sensationell – und interessiert die Menschen. Aber ich sage Ihnen: Die Wirklichkeit sieht anders aus. Es finden sich überhaupt keine Zusammenhänge zwischen sexuellen Präferenzen und Persönlichkeitseigenschaften, Intelligenz oder sozialer Schichtzugehörigkeit. Man kann daher nur ausdrücklich davon abraten, nach allgemeingültigen Modellen und Typologien zu suchen.
Denn ich kenne auch Männer, die überhaupt keine Machtmenschen sind, eher „Underdogs“, und dennoch eine ausgeprägte masochistische Neigung haben. Einige von ihnen würden bestimmt ebenso gern zur Domina gehen wie mancher Manager, haben aber dazu schlicht nicht die finanziellen Mittel.
Auch hier gilt: Der Lustgewinn aus dem Orgasmus ist das eine, der Wunsch nach Anerkennung und Akzeptanz in Bindungen das andere. Das kann bei Menschen mit sadomasochistischen Präferenzstrukturen zu Problemen führen – etwa, wenn sie in einer Beziehung keinen Weg finden, ihren Partner über die Besonderheiten des eigenen sexuellen Erlebens ins Vertrauen zu ziehen.
Nicht wenige koppeln gewissermaßen ihre Lustdimension vom restlichen Leben ab. Sie treffen sich in Zirkeln Eingeweihter, wo allen klar ist, dass es nur um das Ausleben sexueller Wünsche geht, losgelöst von der Partnerschaft. Doch dieses „second life“ kann die Vertrauensbasis in bestehenden Bindungen – in ihrem „first life“ – massiv unterhöhlen. Das ist immer so, wenn Partner im Unklaren gelassen werden.
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Nicht selten sind die Betroffenen aber auch mit sich selbst nicht im Reinen – wenn beispielsweise ihre sexuellen Begierden mit ihren sozialen Rollenbildern kollidieren. Einer meiner Patienten scheitert immer wieder in Beziehungen. Beruflich ist er höchst erfolgreich, ein sehr dynamischer Ingenieur, sportlich, steht voll im Leben. Doch sein Beziehungsproblem resultiert aus einer tief verwurzelten Ambivalenz: Mit seinem Rollenbild als Mann verbindet er, eine Frau aktiv gewinnen zu müssen, die Initiative zu ergreifen, in der sexuellen Interaktion der Gestaltende zu sein. Auf der Fantasieebene aber stellt er sich das Gegenteil vor: Da gibt er sich der Frau hin.
Da lässt er alles über sich ergehen. Sie ist die Aktive, er völlig passiv. Er möchte von ihr geführt werden, sich unterwerfen. Es ist eine masochistische Komponente, die in seinen Masturbationsfan-tasien zentral auftaucht. Das widerspricht aber so sehr seinen Rollenvorstellungen, dass er nicht in der Lage ist, sein Verlangen auszuleben. Er setzt sich unter einen Erwartungsdruck, der mit seinem eigentlichen Erregungsmuster auf jener dritten Achse der Praktiken nicht vereinbar ist. Die Folge: Er hat Erektionsstörungen, weil er etwas anstrebt, auf das er gar nicht programmiert ist.
Wie kann man einem paraphilen Menschen helfen, dennoch glücklich in einer Beziehung zu werden – selbst wenn seine Partnerin anders fühlt?
In Beziehungen ist es entscheidend, derart viel Vertrauen aufzubringen, dass ein Partner die Chance bekommt, den anderen so kennenzulernen, wie er wirklich ist. Erst dann kann das Gefühl entstehen, wirklich geliebt zu werden. Andernfalls bleiben Zweifel, und die können Beziehungen destabilisieren. Nehmen wir den Haarfetischisten. Eigentlich könnte man sich fragen: Wo liegt das Problem? Tatsächlich aber weiß der Mann im Grunde nicht, ob seine Frau ihn wirklich liebt. Er zweifelt sogar daran und sagt sich: Wenn sie wüsste, was mich sexuell tatsächlich erregt, würde sie mich verlassen.
Genau darum geht es aber in Beziehungen. Deshalb versuche ich bei Betroffenen darauf hinzuwirken, dass sie sich zunächst vor sich selbst und in einem zweiten Schritt vor ihrem Partner zu ihren sexuellen Vorlieben bekennen. Niemand sollte sich für seine Wünsche, wie auch immer die geartet sind, verurteilen. Er sollte sie vielmehr als Teil von sich selbst akzeptieren und verantwortlich damit umgehen.
Dann fällt es auch leichter, dem Partner seine Neigung anzuvertrauen. Das aber bedeutet keineswegs, dass der sich diese besonderen sexuellen Wünsche infolgedessen selbst zu eigen macht. Liebe zeigt sich eher darin, dass man den Partner gänzlich akzeptiert und zu ihm steht. Intimität sollte in einer Beziehung immer authentisch sein. Wenn eine Frau aufgesetzt die Domina spielt, wird das die Erregung des Mannes kaum steigern. Zudem haben auf der Beziehungsebene dann beide den Schaden.
Was man in Partnerschaften sexuell auslebt, sollte von Zuneigung getragen sein. Dann besteht ein Gewinn darin, dem anderen Glück zu verschaffen.
Würde dazu gehören, dem Partner gelegentlich zu erlauben, seine Bedürfnisse außerhalb der Beziehung auszuleben?
Nein. Davon rate ich ab. Denn das öffnet eine Beziehung. Menschen aber wollen in ihrer Bindung zu einem geliebten Partner letztlich immer Exklusivität.
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Wie könnte eine Integration aussehen?
Die Frau des Haarfetischisten zum Beispiel könnte seine sexuelle Beschränkung auf Haare dann besser mittragen, wenn sie wüsste, dass dies Ausdruck seiner unveränderbaren sexuellen Präferenzstruktur ist. Die hat er sich ja nicht ausgesucht. Sie könnte einen Gewinn darin sehen, dass er durch ihre Haare zum Höhepunkt kommt, wenn er sich diesen konfliktfrei widmen darf. Und sie würde diesen Gewinn sicher auch dann sehen, wenn sie selbst keinen Orgasmus erlebt.
Je nach Einzelfall kann eine Integra-tion in die Beziehung sehr unterschiedlich aussehen. Ein anderes Beispiel: Die Frau eines Polizisten hat durch Zufall im Keller Tüten voller Frauenkleider gefunden. Wie sich herausstellte, hatte ihr Mann immer wieder heimlich Damenwäsche getragen. Er hat einen transvestitischen Fetischismus vor seiner Frau abgeschirmt – über Jahre.
Die beiden kamen zu mir. Die Frau fühlte sich überfordert und hilflos. Er hatte sie ja gewissermaßen hintergangen. Sie war besorgt und fragte sich, wo das enden werde, also welche sexuellen Vorlieben als Nächstes zum Vorschein kommen würden. Ob er womöglich demnächst losginge und Frauen umbrächte. Das ist kein Witz! Im Laufe der Paargespräche hat sich die Frau dann zunehmend beruhigt. Die beiden liebten ja einander – und sie war schließlich einverstanden, dass ihr Mann gelegentlich auch daheim und in ihrem Beisein Damenwäsche trug. Das Einzige, worauf sie bestand: Ihre Kinder durften das auf keinen Fall mitbekommen. Das hat er akzeptiert und darauf schließlich mehr geachtet als sie. Das hat die Frau entlastet und den Mann natürlich auch. Insofern war dieser Verlauf vertrauensfördernd und beziehungsstabilisierend.
Kann das Ausleben solcher Fantasien zur Sucht werden? Kann es etwa vorkommen, dass jemand anfangs eine Gummi-Unterhose anzieht, mit der Zeit einen immer stärkeren Stimulus braucht – und am Ende jede Nacht in einem Anzug schläft?
Nein. Zwar schirmen viele Menschen vor allem als problematisch empfundene paraphile Erregungsmuster lange vor sich selbst ab. Aber die bestehen ja bereits seit der Jugend – und das Ausmaß der inneren Auseinandersetzung damit ist von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich: Manch einer verbirgt seine sexuelle Begierde sein ganzes Leben, ein anderer dagegen ringt immer stärker mit sich – und möchte sie dann irgendwann doch ausleben. Das kann mitunter den Eindruck erwecken, es handele sich dabei um eine Steigerung. Aber im Grunde genommen wird nur etwas offengelegt, was seit Jugendjahren ohnehin schon als Muster bestand. Es war nur eben lange Zeit nicht zugänglich.
Viele Betroffene versuchen ja, ihre abseitigen Wünsche zu verdrängen. Unter anderem auch aus Angst vor den Reaktionen der anderen. Denn sobald uns Mitmenschen etwas fremd oder sonderbar vorkommt, neigen wir leider dazu, es auszugrenzen, lächerlich zu machen, zu verspotten, ja manchmal gar zu verteufeln. Doch auf den drei Achsen, die ich Ihnen genannt habe, birgt der große Garten Gottes eine unglaubliche Variationsbreite. Und wir sollten uns davor hüten, die sexuellen Vorlieben eines Menschen zu bewerten.
Professor Klaus M. Beier, Jahrgang 1961,
leitet das Institut für Sexualwissenschaft und
Sexualmedizin an der Charité in Berlin.