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Stadt ohne Gesetz Deadwood: So mörderisch war die "härteste Stadt der Welt"

Deadwood
Fuhrunternehmer liefern pausenlos Baumaterial, Eisenwaren und Lebensmittel nach Deadwood. Selbst auf offener Straße graben Schürfer nach Gold. Noch gibt es niemanden, der ihnen Einhalt gebieten könnte
© Courtesy Nebraska State Historical Society
Zu Hunderten strömen Goldschürfer, Abenteurer, Spieler und Händler 1876 in die Black Hills im heutigen South Dakota. Aus ihrem illegalen Camp in einem Reservat der Sioux erwächst binnen weniger Monate die Stadt Deadwood. Ein Ort ohne Sheriff, ohne Bürgermeister - ohne Recht und Ordnung

Was bedeuten Recht und Gesetz an einem Ort, an dem jeder ein Gesetzloser ist? In einer Stadt, die eigentlich gar nicht existiert? Es gibt keinen Sheriff in dieser Stadt, keinen Bürgermeister, kein ordentliches Gericht, nicht einmal ein Gefängnis, sodass ein Urteil der Bürgertribunale notgedrungen nur auf Freiheit oder Tod hinauslaufen kann.

Am bequemsten für diese Jurys ist es, auf Freispruch zu erkennen und den Angeklagten dann, schuldig oder nicht, aus der Stadt zu jagen, in der Hoffnung, er werde seine Verbrechen fortan anderswo begehen. Gerechtigkeit – dieses Wort ist zu groß für einen Ort wie Deadwood, eine illegale Goldgräbersiedlung im Reservat der Sioux, die als „härteste Stadt der Welt“ bekannt ist. Wer als Weißer die Grenzen des Reservats übertritt, übertritt auch das Gesetz. Denn wer hier lebt, lebt jenseits von Recht und Ordnung.

Und dennoch: Selbst für die mageren Ansprüche von Deadwood geht dieser Prozess im Sommer 1876 zu weit. Dieses Urteil ist eine Beleidigung der Zivilisation, das Gericht ein trauriger Witz, das wie zur Bekräftigung der Farce ausgerechnet im Theatersaal der Stadt zusammentritt – einer Holzkonstruktion mit Wänden und Dach aus Segeltuch, Sägemehl auf dem Boden und Sitzen aus zusammengenagelten Pfosten und Brettern.

Nur 30 Minuten braucht die Jury, um den Angeklagten freizusprechen: Jack McCall, der am Vortag vor aller Augen einen Mann ermordet hat. Ohne Warnung, ohne Anlass hat er seinem Opfer aus einem Meter Entfernung von hinten in den Kopf geschossen. McCall ist ein Niemand, ein Trunkenbold mit schütterem Bartwuchs, das Gesicht meist unter der Krempe eines Sombreros verborgen.

Der Name seines Opfers lautet: James Butler Hickok. Und jeder in Deadwood, im ganzen Westen, kennt diesen Mann. „Wild Bill“ Hickok, der „Prinz der Pistoleros“. Bisonjäger, Scout, Revolverheld. Eine Legende. Erst gut drei Wochen zuvor hat er in Deadwood sein Lager aufgeschlagen. Jetzt ist er tot.

Vor Gericht behauptet McCall, er habe seinen Bruder rächen wollen, den Hickok in der Stadt Abilene erschossen habe. Damit geben sich die Geschworenen zufrieden und plädieren einstimmig auf „nicht schuldig“. (Später wird sich herausstellen, dass McCall gar keinen Bruder hat.)

Die Menschen im Saal sind empört, es werden Rufe laut, beim nächsten Prozess werde „Richter Lynch“, also der Strang, „den Vorsitz führen“. Und der „Black Hills Pioneer“, die örtliche Zeitung, kommentiert: „Sollte es je unser Schicksal sein, einen Mann zu töten – was Gott verhüten möge –, werden wir darum bitten, dass uns der Prozess hier gemacht wird.“

Schnell gehen Gerüchte um, die Geschworenen seien gekauft worden, von den gleichen Gangstern, die angeblich auch McCall zu der Tat angestiftet hatten. Manche Einwohner Deadwoods behaupten, schon bei der Wahl der Geschworenen sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen: Einige seien Saufkumpane des Mörders.

Die Verhandlung sowie das Urteil sind den Rechtschaffenen unter den Bürgern des Ortes ein Zeichen, dass sich etwas ändern muss. Wie in den meisten Goldgräbersiedlungen regeln noch immer miners’ meetings – informelle Versammlungen der Schürfer – alle Belange der Gemeinschaft. Und miners’ courts, hastig zusammengerufene Gerichte, entscheiden über Claim-Streitigkeiten, Wasserrechte und Verbrechen.

Deadwood zieht Menschen aller Gesellschaftsschichten an

Doch Deadwood ist inzwischen zu groß geworden für diese improvisierten Tribunale. Es ist kein überschaubares Camp mehr, in dem die Goldgräber sich alle kennen und vertrauen, sondern eine stetig wachsende Stadt. Und eine Stadt, selbst eine illegale, kann nur überleben, wenn das Gesetz regiert.

Tausende strömen in diesem Jahr, 1876, nach Deadwood. Wo zu Jahresanfang nur ein paar Zelte zwischen Bäumen gestanden hatten, lebten im Februar schon 400 Menschen, 600 im März – und jetzt, im Sommer, sind es wohl mehr als 5000, niemand weiß es so genau. Und längst kommen nicht mehr nur Goldgräber. Auch Krämer, Wirte, Eisenwarenhändler und Apotheker verstauen ihre Waren auf Planwagen und treten auf morastigen trails die Reise durch die Wildnis an.

Schlachter und Anwälte, Priester und Bäcker, Zimmerleute und ungelernte Arbeiter werfen ihr schmales Gepäck für ein paar Dollar Gebühr auf die Ladeflächen der Fuhrwerke und folgen den Trecks zu Fuß. Sie alle eint der Traum von Wohlstand und einem besseren Leben in den neuen Siedlungen des Westens. An Gesetz und Ordnung verschwenden sie dabei kaum Gedanken, an das Fehlen staatlicher Strukturen, die Rechte der dort lebenden Indianer oder Gefahren durch Banditen.

Andere machen sich gerade wegen der Gesetzlosigkeit auf den Weg: Desperados und Trickbetrüger, Falschspieler, Pferdediebe und Bordellbosse. Häufig sind es Kriminelle, die steckbrieflich gesucht werden und sich keinen besseren Platz zum Leben denken können als eine Stadt ohne Sheriff und Gefängnis.

Und dann gibt es noch eine dritte Gruppe, die ein Ort wie Deadwood anzieht. Es sind Männer des Grenzlands, Abenteurer und Hasardeure, die von Camp zu Camp ziehen, von Boomtown zu Boomtown. Die sich durchschlagen als Scouts, Trapper oder Gelegenheitsarbeiter. Die vorrückende Zivilisation ist diesen frontiersmen beständig auf den Fersen, und sobald der Fortschritt ankommt, treten sie die Flucht an.

Deadwood
Deadwood liegt zwischen bewaldeten Bergen, die den Sioux heilig sind. Anfangs konnten US-Truppen die Schürfer noch vertreiben, doch ab Frühjahr 1876 kommen einfach zu viele Goldsucher
© Granger Collection/ullstein bild

In "Deadwood Gulch" bricht der Goldrausch aus

Zu dieser Art von Männern gehört Wild Bill Hickok. Am 27. Juni 1876 bricht er mit einigen Freunden und zwei Planwagen von Cheyenne, der Hauptstadt des Territoriums Wyoming, nach Deadwood auf. Wenige Tage später erreicht die Gruppe Fort Laramie.

Jeder kennt den Namen dieses Armeestützpunkts, seit die US-Regierung und die Sioux dort den Vertrag geschlossen haben, der die Indianer zum Frieden verpflichtet und ihnen im Gegenzug ein Reservat nördlich des Forts zusichert. Das riesige Gebiet liegt fernab aller Siedlungen, Trails und Eisenbahngleise der Weißen. Bisonherden und Gabelböcke durchstreifen die Prärie.

Am Rande des Reservats erhebt sich aus der Ebene schroff ein Bergmassiv, das wegen seiner dunklen Kiefernwälder von den Sioux „Paha Sapa“ genannt wird, die „Hügel, die schwarz sind“. Den Indianern ist es ein heiliger Ort. Und ausgerechnet dorthin, in die Black Hills, zieht es die Weißen.

"Verbrechen der Vergangenheit"

Seit Anbeginn seiner Geschichte stiehlt, raubt und mordet der Mensch. Tötet aus Hab- und Machtgier, um seiner Ehre willen, aus sadistischer Lust - und manchmal schlicht, um selbst zu überleben. Im Podcast "Verbrechen der Vergangenheit" widmen wir uns Taten, die noch heute erschrecken und berühren. Präsentiert als packende Zeitreisen ohne Staub und Zahlenkolonnen, akribisch recherchiert und sachkundig erläutert von Mitarbeitern der Redaktion.

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In einer Schlucht ist Gold entdeckt worden, und weil sie voller umgestürzter Bäume ist, haben die Männer den Ort „Deadwood Gulch“ genannt. Und hierher kommen nun Glücksritter aus allen Richtungen. Das ist ein klarer Verstoß gegen den Vertrag von Laramie, der den Weißen das Betreten des Reservats verbietet. Anfangs hat die Armee noch alle Schürfer vertrieben. Aber es waren einfach zu viele – und da zudem oft Soldaten desertierten, um eine Goldpfanne in die Hand zu nehmen, hat Präsident Ulysses S. Grant dem Militär befohlen, sich zurückzuziehen. Nun kommt es immer wieder zu Scharmützeln zwischen den Weißen und Indianern, die Siedler überfallen und töten.

Wegen der Gefahr von Indianerangriffen schließt Hickoks Gruppe sich einem Treck von 30 Wagen an, deren Passagiere – vor allem Saloonbetreiber, Berufsspieler und Prostituierte – auf dem Weg nach Deadwood sind. Gut zehn Tage dauert die Reise durch das Grasland und hinauf in die unwegsamen Hills. Die Wagen passieren Geisterstädte, deren Bewohner dem Goldrausch nach Norden gefolgt sind, und Gräber am Wegesrand, in denen Opfer der Indianer verscharrt liegen. Wohl am 11. Juli 1876 erreicht der Treck sein Ziel. Von einer Hügelkuppe aus führt ein steiler Pfad mehrere Hundert Meter hinab in ein Tal. An dessen nördlichem Ende liegt Deadwood.

Wie können in einer so engen Schlucht so viele Menschen leben? Vielleicht 250 Meter misst die Spanne zwischen den Hängen links und rechts. Kiefern, Espen und Weiden ziehen sich die Bergflanken hinan, im Tal schimmert ein Fluss, dessen Lauf sich immer wieder ändert, weil die Schürfer sein Bett umleiten, um im Kies Gold zu waschen. Parallel dazu verläuft die Main Street.

Von der Hügelkuppe aus wirkt es so, als bestünde Deadwood nur aus dieser Hauptstraße: Alles andere ist ein Gewirr aus Menschen und Fuhrwerken zwischen Zelten, Blockhütten und Holzhäusern mit breiten Fronten und Balkonen. Ein Besucher der Stadt notiert, der Anblick der Gebäude erinnere ihn an „einen Haufen Zitronenkisten, die man auf einen Hinterhof gekippt hat“.

Viele Bauten stehen auf Pfählen, da die Goldsucher auch mitten in der Stadt Schächte in den Boden treiben. Das Tal ist voller Gruben, Löcher und Erdhaufen, als lebte ein Teil der Bewohner unterirdisch.

Der Rauch unzähliger Lagerfeuer steigt nach oben durch die klare Bergluft, an den Felsen brechen sich die rhythmischen Schläge der Hämmer, das Sirren von Sägen, die dumpfen Hiebe der Äxte. Schon am nächsten Tag wird Deadwood eine andere Stadt sein – wird ein neuer Unterstand den Platz eines Zeltes eingenommen haben, eine Blockhütte den eines Unterstands, ein zweistöckiges Schindelhaus den einer Blockhütte.

Seit kurz zuvor erste Sägemühlen in Betrieb genommen worden sind und Baumstämme endlich in großer Zahl zu Brettern zurechtgeschnitten werden können, ist die gesamte Stadt im Baufieber. Wild Bill Hickok schlägt sein Lager im Süden des Ortes auf, in einem Hain aus Fichten und Kiefern, wenige Minuten von der Main Street entfernt. Er hat noch 22 Tage zu leben.

Auch Wild-West-Legende "Wild Bill" Hickok zieht nach Deadwood

Hickok ist eine Erscheinung, die für Aufsehen sorgt, als er das erste Mal über die Hauptstraße reitet. Fast 1,90 Meter ist er groß, mit breiten Schultern, eine seltsame Mischung aus Frontiersman und Dandy. Das blonde, lockige Haar fällt ihm bis über die Schultern, unter dem kunstvoll bestickten Wildledermantel trägt er eine Schärpe, aus der zwei silbern beschlagene Revolver ragen.

Aber was, fragen sich die Einwohner, treibt den berühmten Revolverhelden nach Deadwood? Seiner Ehefrau – ein paar Monate zuvor hat Wild Bill eine frühere Wanderzirkusbesitzerin geheiratet – berichtet er in einem Brief, dass er mit dem Schürfen begonnen habe, doch niemand im Ort sieht ihn je mit einer Goldpfanne oder Schaufel.

Die meiste Zeit verbringt Hickok in den Saloons, wo er Poker spielt oder den tenderfeet, den Neulingen im Grenzland, für ein paar Drinks von seinen Abenteuern berichtet. Seit das „Harper’s Magazine“ 1867 einen Artikel über sein Leben gebracht hat, ist Wild Bill eine nationale Berühmtheit. Dabei sind fast alle Episoden der Story – seine vermeintlichen Heldentaten als Spion im Bürgerkrieg, Duelle in der Mittagssonne auf staubigen Straßen, Schießereien allein gegen zehn Desperados – reines Fantasiewerk.

Deadwood
Schon wenige Wochen nach dem ersten Spatenstich säumen Hotels und Läden die Straßen von Deadwood. Fast täglich eröffnet ein Geschäft, im Sommer 1876 gibt es bereits 21 Lebensmittelhändler
© Granger Collection/ullstein bild

Doch dies hält andere Reporter und die Autoren der Groschenromane nicht davon ab, die Geschichten noch weiter auszuschmücken. Und Wild Bill Hickok macht mit, behauptet gegenüber Interviewern zuweilen, er habe „mehr als 100 Männer“ getötet.

In Wahrheit aber unterscheidet sich sein Dasein nicht so sehr von dem anderer Frontiersmen: Hickok war Scout und Soldat, er hat als Kutscher und Tagelöhner gearbeitet, als Saloonbetreiber und Darsteller in armseligen Wildwest-Shows.

Acht Monate lang diente er sogar dem Gesetz, als Marshal in Abilene, Kansas, doch nach der Meinung vieler Bürger verbrachte er mehr Zeit damit, mit zwielichtigen Gestalten zu zechen und zu pokern, als sie zu überwachen. Sieben, vielleicht acht Männer hat Hickok wohl erschossen, einen aus Versehen – einen Freund in Abilene, der ihm während einer Schießerei vor den Revolver lief.

Zuletzt hat man ihn in Cheyenne wegen Landstreicherei angezeigt und aus der Stadt geworfen. Hickok ist 39, alkohol- und spielsüchtig, ein Scharfschütze, dessen Augen immer schwächer werden, seit er an Gonorrhö erkrankt ist.

Dennoch beeindruckt er Besucher seines Lagers mit täglichen Schießübungen, bei denen er Ziele aus 20 Meter Abstand trifft und in die Luft geworfene Tomatendosen durchlöchert (nur Neider würden unterstellen, er habe die Ziele zuvor heimlich mit Einschüssen versehen).

Zum Schlafen zieht er sich unter eine schmutzige Armeedecke in seinen Planwagen zurück, nach dem Aufwachen bindet er sich das Haar zum Zopf und wandert noch vor der Morgentoilette hinüber zu den Saloons der Main Street.

Eigentlich hat Hickok sein Lager am falschen Ende der Stadt aufgeschlagen. Denn Deadwoods Hauptstraße teilt sich in einen soliden und einen verkommenen Abschnitt. Im Norden, den badlands, liegen Kaschemmen, Spielhallen, Bordelle und Opiumhöhlen. Im Süden haben sich die Ladenbesitzer und Hoteliers angesiedelt. Das Viertel beginnt an der Ecke Shine Street, die Cheyenne Street hieße, hätte der Namensgeber nicht Schwierigkeiten mit der Orthografie gehabt.

"Wild Bill" Hickok
"Wild Bill" Hickok. Der berühmte Revolverheld, der behauptet, 100 Männer getötet zu haben, zieht im Juli 1876 nach Deadwood. Im August wird er selbst erschossen
© Everett Collection/ Bridgeman Images

„Big Bill“ Lynn, mit mehr als zwei Meter Körpergröße der höchstgewachsene Mann in den Black Hills, hat an der Kreuzung einen Korral abgesteckt, in dem die Fuhrleute der Wagentrecks ihre Ochsen, Pferde und Maultiere unterstellen, ehe sie sich in die Badlands aufmachen, um ihren Lohn durchzubringen.

Ein paar Meter weiter kündigt ein Schild den „Big Horn Store“ an. Dessen Besitzer P. A. Gushurst aus Omaha ist als einer der frühen Pioniere das Risiko eingegangen, einen Wagenzug mit Säcken voll Bohnen, Speck, Kaffee, Zucker und Mehl durchs Indianergebiet zu führen, und hat im Frühjahr 1876 das erste Lebensmittelgeschäft der Stadt eröffnet.

Deadwood ist voller Schurken, Schwindler und Bauernfänger

Inzwischen sind ihm viele gefolgt, zum Ende des Sommers gibt es in Deadwood 21 Läden, die Nahrungsmittel verkaufen. Goldpfannen und Teekessel, Spitzhacken, Zaumzeug, Sprengpulver und Gewehre finden die Schürfer in „Ayres Hardware“, dem Eisenwarenhandel ein Stück die Straße hinauf.

Im Drugstore von C. M. Wilcox kann man Medikamente, Farben, Schmiermittel sowie Pillen und Tinkturen gegen jene Leiden erwerben, die von „den Fehltritten der Jugend oder den Exzessen des Erwachsenenlebens herrühren“, wie es in einer Annonce heißt. Die meisten dieser Arzneien gegen Geschlechtskrankheiten bestehen allerdings aus nicht viel mehr als Abführmitteln und Opium.

All diese Geschäfte müssen beliefert werden, und so stauen sich auf der Main Street die Planwagen, oft in zwei Reihen. Während Arbeiter Säcke und Kisten mit Waren entladen, versuchen die Passanten, sich an den spitzen Hörnern der Longhorn-Ochsen vorbeizudrücken und schimpfen auf die Fuhrwerke, deren Räder sie mit Dreck bespritzen. Die Kutscher lassen ihre sechs Meter langen, ledernen Bullenpeitschen knallen und verfluchen ihrerseits die störrischen Tiere, den Wagen vor ihnen, den Zustand der Straße.

Kniehoch steht der Schlamm auf der Main Street – eine Brühe aus Tierkot, Schmutzwasser und Abfällen, über der Schwärme von Fliegen kreisen. Auch die hölzernen Bürgersteige und die Planken, die als Fußgängerüberwege dienen sollen, versinken im Schlick. Fliegende Händler und Hausierer schieben sich durch das Menschengedränge, bieten geröstete Erdnüsse, Süßigkeiten, Beeren an.

Die Straße ist unter anderem deshalb überfüllt, weil nur etwa jeder dritte Einwohner einer festen Arbeit nachgeht oder auf einem Goldclaim schürft. Ein Reporter des „Scribner’s Monthly“, der kurz nach Hickok eintrifft, schreibt, nie habe er „so viele verhärtete und brutal aussehende Männer versammelt gesehen“: Schwindler, Schurken und Bauernfänger in einer „unordentlichen, sündigen, kranken Stadt“.

Hinter der nächsten Straßenkreuzung liegt das „Grand Central“ – nicht das einzige Hotel Deadwoods, aber das erste, das eröffnet hat. Und das luxuriöseste: Gerade ist eine Anzeige im „Black Hills Pioneer“ erschienen, die den Bau eines dritten Stockwerks ankündigt, „mit der besten Schlafzimmerausstattung im westlichen Dakota“. Kost und Logis sind für zwölf bis 20 Dollar die Woche zu haben.

Pensionen bieten Unterkunft und Verpflegung ab acht Dollar an, anspruchslosere Neuankömmlinge können auch schon für drei Dollar einen Schlafplatz plus Essen in einem Zelt oder Unterstand ergattern, sofern sie nichts gegen schmieriges Schweinefleisch und feuchte Pfannkuchen einzuwenden haben.

Im „Grand Central“ dagegen kocht „Aunt Lou“ Marchbanks, eine frühere Sklavin aus Tennessee, die mit ihren Südstaaten-Spezialitäten kulinarische Maßstäbe in Deadwood setzt. Viele Restaurants verkaufen wöchentliche meal tickets, die neben der Verpflegung auch einen Schlafplatz auf dem staubigen Fußboden des Gastraums einschließen.

Restaurants und Hotels sind die wahren Goldminen der Stadt

Restaurants und Hotels: Das sind die wahren Goldminen in einer Stadt, in der jeden Tag ein neuer Wagentreck ankommt. „Betten gab es nur gegen Aufpreis, und schon ein Stuhl wurde als großer Luxus angesehen. Viele konnten sich beides nicht leisten und waren gezwungen, im Schatten der Gebäude zu schlummern oder in den Saloons herumzustehen“, schreibt Annie Tallent in ihren Erinnerungen, die erste weiße Frau, die sich (gemeinsam mit ihrem Ehemann) in die Black Hills gewagt hat.

In Deadwood leben kaum Kinder, kaum Alte, vielleicht ein Prozent der Einwohner sind weiblich. Junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren stellen den Hauptteil der Bevölkerung, mehr als 40 Prozent sind Einwanderer, vor allem von den Britischen Inseln – und aus Deutschland.

Auf die Deutschen ist es auch zurückzuführen, dass es schon seit Juni eine Brauerei gibt und viele Lokale, die Bier ausschenken. Am 4. Juli 1876, dem 100. Jahrestag der Unabhängigkeit, ist in einer Hütte das erste Kind der Stadt zur Welt gekommen. Ein Ereignis, schreibt ein Bewohner, „das ebenso viel Aufregung und Entzücken hervorrief wie die Entdeckung einer neuen Goldmine“.

An der Kreuzung hinter dem „Grand Central“ steht jenes Gebäude, das im Frühjahr 1876 als Erstes in Deadwood errichtet worden ist: ein vier mal sechs Meter großes Blockhaus, in dem Ike Brown eher fragwürdigen Whiskey ausschenkt. „Lieber eine Indianerkugel in den Eingeweiden als diesen Fusel im Magen“, so lautet das Urteil eines Kunden über das Gesöff.

Im Lebensmittelladen nebenan ist ein improvisiertes Postamt eingerichtet. Weil noch keine Postkutsche die Stadt anfährt, bringen Kuriere, manche zu Pferd, andere zu Fuß, die Briefe durch das Sioux-Gebiet in die nächstgelegenen Forts. Sie reisen nachts und abseits der bekannten Pfade, um den Indianern zu entgehen. 25 Cent pro Brief erhalten sie für die gefährliche Mission.

„Colorado Charley“ Utter – ein guter Freund Hickoks, der mit ihm nach Deadwood gekommen ist – richtet Anfang August eine regelmäßige Pony-Express-Linie ein. Seine Reiter legen die Strecke bis Fort Laramie in unglaublichen 48 Stunden zurück.

Menschen stehen vor dem Postamt an, wann immer ein Kurier eingetroffen ist, und lange Schlangen bilden sich auch einmal die Woche vor dem Gebäude dahinter, wenn die neue Ausgabe des „Black Hills Pioneer“ gedruckt wird.

Von einem „Unterfangen ohne Parallele in den Vereinigten Staaten“ haben die zwei Herausgeber dieser Zeitung in der ersten Ausgabe vom 8. Juni 1876 geschrieben und ihre Probleme aufgezählt: 650 Kilometer weit mussten die Druckerpressen transportiert werden, sie selbst waren auf der Strecke vom Rheumatismus niedergeworfen, das Redaktionsgebäude nicht fertiggestellt und ohne Dach, dazu zwei Tage schwerer Regen. „Wir arbeiten praktisch im Freien, und die Elemente haben sich gegen uns verschworen.“

"Gem Theater", Deadwood
Das »Gem Theater« am nördlichen Ende der Main Street täuscht mit seiner bürgerlichen Fassade. Es gehört dem berüchtigsten Zuhälter der Stadt: Ellis Albert »Al« Swearengen aus Iowa
© Mary Evans/Pharcide/ INTERFOTO

Wegen Papiermangels muss das Blatt zeitweise auf Packpapier gedruckt werden, und da es noch keinen Telegraphen gibt, herrscht Mangel an Neuigkeiten. Nachrichten aus den „Staaten“ schreiben die Herausgeber aus monatealten Zeitungen ab, die Neuankömmlinge nach Deadwood mitbringen. Andere Spalten füllen sie mit Neuigkeiten wie „Präsident Grant wird 54 Jahre alt“ oder „Eine Warnung an Mädchen, die Hosen tragen wollen“.

Aber der „Pioneer“ berichtet auch über Indianerüberfälle, Goldfunde und Entwicklungen der Stadt. Im Juli meldet die Zeitung die Premiere einer „erstklassigen Lustspielgruppe“. Denn Jack Langrishe, der „Publikumsliebling der Western Camps“, ist am 10. Juli mit Schauspielern und einem Wagen voller Kostüme und Requisiten in Deadwood eingetroffen, hat an der Ecke Gold Street in aller Eile einen mit Segeltuch bespannten Rohbau hochgezogen und zwölf Tage später die erste Vorstellung gegeben, das Drama „The Banker’s Daughter“.

Und obwohl ein Gewittersturm während des Spiels das halbe Dach losriss, war die Aufführung ein Erfolg. Langrishe ist Hauptdarsteller seiner Truppe, malt die Bühnenbilder, hängt Plakate auf und verkauft Tickets. Wenn das Theatergeschäft mäßig läuft, schürft er auf eigenem Claim oder schreibt Artikel und Gedichte für den „Pioneer“.

Tagsüber dient sein Theater als Raum für Versammlungen, Trauerfeiern und Gerichtsprozesse. Die Bühne ist einer der wenigen Orte, an denen auch die braven Bürgerinnen der Stadt Unterhaltung finden können.

Die Prostitution in Deadwood boomt

Wenn am Abend die Kerosinlampen entzündet werden und aus den Saloons die Musik der Pianospieler klingt, drängen sich die Menschen auf der Main Street. Die Schürfer in den Zelten auf den Hügelflanken schlingen ihr Essen hinunter und eilen zur Hauptstraße, um nichts zu verpassen. Alle, so erinnert sich ein Pionier, „lebten in ständiger Erwartung und fragten sich, was wohl als Nächstes geschehen würde“.

Vielleicht eine Schlägerei in Gus Schugarts Bierhalle an der Wall Street? Ein gezinktes Blatt im „Wide West Saloon“, wo „Big Thumb“ Jake und die Croupière Madame Mustache, benannt nach ihrem Oberlippenbart, die Karten geben? Oder wieder der Suizid eines Straßenmädchens, verübt mit einem Gemisch aus Opium und Laudanum und in der Zeitung wie üblich als „Lungenentzündung“ verbrämt?

Manche Saloons bestehen aus nicht mehr als einem Brett, das der Besitzer auf zwei Fässer genagelt hat, und einigen dreckigen Gläsern als Inventar. Andere sind ausgestattet mit Spiegeln hinter der Theke, Teppichen, erotischen Gemälden und intarsienverzierten Decken.

Es gibt die hurdy-gurdy houses, die Tanzhallen, in denen die Mädchen nicht nur für einen Tanz bereitstehen, und die variety theaters, wo der Besucher von einer Frau seiner Wahl in einer privaten Loge unterhalten wird. Es gibt die Spielsalons mit Roulette und Poker. In der „Eureka Hall“ amüsieren sich die Gäste beim Bingo-ähnlichen Keno, und im „Melodeon“ singt „Handsome Dick“ Brown die neuesten Lieder und begleitet sich selbst auf dem Banjo dazu.

Whiskey ist teuer, 50 Cent das Glas, weil Alkohol im Reservat offiziell verboten ist. Bezahlt wird mit Goldstaub, den der Mann hinter dem Tresen in einem geübten Griff mit Daumen und Zeigefinger aus dem Beutel des Schürfers fischt. Viele Barkeeper fahren sich nach der Transaktion wie beiläufig durchs geölte Haar und filtern dann nach Feierabend das Gold aus ihrem Badewasser.

Will ein Gast nicht zahlen oder macht Ärger, gibt es einen „Mickey Finn“ aufs Haus – einen Drink, der mit Chloralhydrat versetzt ist und jeden außer Gefecht setzt. Fast alle Barkeeper leben „schamlos mit der niedrigsten Klasse Huren zusammen“, wie ein Bewohner schreibt, „und viele der führenden Geschäftsleute machen sich desselben schuldig“.

Schon mit den ersten Trecks sind Straßenmädchen nach Deadwood gekommen, „geschminkt, ausgepolstert und anzüglich grinsend“, so stand es in der Zeitung. Sie reihen sich auf an den Bars, spazieren im Lampenlicht über die Bürgersteige, rufen den Passanten aus ihren Fenstern in der ersten Etage der Hurenhäuser hinterher.

Als berüchtigtster Zuhälter der Stadt gilt Al Swearengen, der erst den „Cricket Saloon“ betreibt und dann am nördlichen Ende der Main Street das „Gem Theater“ eröffnet, offiziell eine Tanzhalle, tatsächlich ein Bordell. Im vorderen Teil des zweistöckigen Gebäudes gibt es eine Bar und Sitzgelegenheiten, hinten kleine Räume, in denen Swearengen Frauen wie Sklaven hält.

Oft reist er in die Städte im Osten, lockt seine Opfer mit dem Versprechen auf eine respektable Arbeit als Kellnerin nach Deadwood und zwingt sie dann zur Prostitution. Wer sich verweigert, wird von den Rausschmeißern verprügelt und wie Abfall auf die Straße geworfen. 5000 Dollar Umsatz macht Swearengen jede Nacht mit dem „Gem“, diesem „Verführer der Jugend und Zerstörer der häuslichen Bindungen“, wie ein Bewohner Deadwoods die Lasterhöhle nennt.

Prostituierte, Deadwood
Bereits mit den ersten Trecks kommen Prostituierte nach Deadwood. Reporter, für jede Neuigkeit dankbar, beschreiben sie als »geschminkt, ausgepolstert und anzüglich grinsend«
© Courtesy Nebraska State Historical Society

Im Treck mit Wild Bill Hickok sind auch zwei bekannte Prostituierte eingetroffen. Die eine ist „Kitty“ Arnold, von der man sich erzählt, sie habe schon Bordelle in Hongkong und Japan betrieben; nun will sie hier ihr eigenes Etablissement eröffnen.

Die andere ist Martha Canary, genannt „Calamity Jane“. Und so wie bei Hickok werden die Groschenheftschreiber in den folgenden Jahren auch ihr Leben zum Mythos verklären. Die 24-Jährige hat ein Gespür fürs Theatralische, behauptet unter anderem, als Kundschafterin für Oberstleutnant Custer gearbeitet zu haben – und wird später eine Liebesgeschichte mit Wild Bill Hickok erfinden, einschließlich heimlicher Hochzeit.

In dieser Zeit aber ist sie in den Black Hills vor allem bekannt als schwere Trinkerin und Gelegenheitsprostituierte, die von Goldgräbercamp zu Goldgräbercamp zieht. Oft trägt sie Hosen und Stiefel, bevorzugt Whiskey vor Bier, kaut Tabak und wechselt ihre Männer oft. In Deadwood findet sie Arbeit als Kellnerin und in einer Wäscherei, vor allem aber zieht sie durch die Hurdy- Gurdy- Houses und bietet sich als Tanzgirl an.

Am 2. August 1876 wird "Wild Bill" Hickok ermordet

Hier in den Badlands verbringt auch Wild Bill Hickok die meiste Zeit – ein begeisterter, aber nicht sehr erfolgreicher Kartenspieler, wie sich ein Mann erinnert: „Falls er je gewonnen hat, so hat man nie davon gehört.“ Will er wirklich nach Gold schürfen? Oder nur seinem neuen Leben als Ehemann entfliehen? Manche vermuten, dass der Ex-Marshal auf einen gut bezahlten Posten als Gesetzeshüter in Deadwood hofft, sobald sich erst eine Art Stadtverwaltung gebildet hat.

Aber er scheint auch von dunklen Ahnungen verfolgt. Wild Bills letztes Schreiben an seine Ehefrau liest sich fast wie ein Abschiedsbrief, und einem Freund sagt er, er habe das Gefühl, „dass ich in meinem letzten Camp angelangt bin und dieses Tal nicht lebend verlassen werde“.

Am 2. August spielt er Karten im Saloon „Number Ten“, ganz am nördlichen Ende der Main Street. Entgegen seiner Regel sitzt er mit dem Rücken zur Tür, weil kein anderer Platz am Tisch mehr frei ist. Um drei Uhr nachmittags tritt Jack McCall in den Raum, brüllt „Nimm das und fahr zur Hölle“ und schießt Hickok in den Hinterkopf.

Die Kugel tritt an der rechten Wange wieder aus und gräbt sich in das Handgelenk eines Mitspielers. Hickok ist sofort tot. McCall will fliehen, aber der Sattelgurt seines Pferdes sitzt lose, und beim Versuch aufzusteigen, fällt er zu Boden. Schnell wird er überwältigt.

Was war sein Motiv? Manche sagen, Berufsspieler und Gangster der Stadt hätten ihn angeheuert, um den gefürchteten Revolvermann Hickok als künftigen Marshal zu verhindern – aber für dieses Gerücht findet sich kein Beweis. Am Vorabend, so heißt es, soll Hickok mit McCall gepokert und ihn gedemütigt haben. Vielleicht wollte der Mörder, schwer betrunken, diese Kränkung vergelten.

Nach dem skandalösen Freispruch verlässt er die Stadt. Doch in Fort Laramie, wo er prahlt, den größten Schützen des Westens getötet zu haben, wird er erneut verhaftet: Deadwood ist eine illegale Siedlung – und das Urteil nichtig. McCall wird erneut angeklagt, verurteilt und im Jahr darauf gehängt.

Niemanden wird es überraschen, dass Hickok gerade in Deadwood erschossen worden ist. In Tageszeitungen und Magazinen schildern Reporter – die in der Stadt gewesen sind oder auch nicht – schrill die Gewalt und Ruchlosigkeit der Siedler. „Jeder in Deadwood trägt etwa sechs Kilogramm Feuerwaffen am Gürtel“, so ein Bericht, „fünf oder sechs Männer am Tag werden umgelegt.“

Die Probleme im Ort nehmen überhand

All jene, die sich nicht für die Artikel der Zeitungen interessieren, kennen die Stadt aus den dime novels. Früher handelten die Groschenromane vor allem von gefährlichen Indianern, dann von den gesetzlosen Zuständen in den Camps des kalifornischen Goldrauschs – nun aber ist Deadwood häufig Schauplatz der fiktiven Handlung. „Deadwood Dick“ heißt eine der populärsten Figuren dieser Wildwest-Geschichten, ein Postkutschenräuber in Robin-Hood-Manier, der unzählige Seelen auf dem Gewissen hat.

Es ist wahr: Fast jeder Mann in der Stadt trägt eine Waffe. Abends hallen die Badlands von den Schüssen wider, die Betrunkene in die Luft feuern. Doch meist entladen sich Streitigkeiten in Schlägereien – die angeblichen Duelle zweier Pistoleros im Morgengrauen gibt es nur in den Groschenheften. Die Leser an der Ostküste würden es kaum glauben, aber Hickok ist das erste Mordopfer in der Geschichte Deadwoods (1876 werden in der Stadt insgesamt vier Männer ermordet).

Knapp zwei Wochen nach Hickoks Tod finden sich die Bürger wieder zu einer Versammlung ein. Denn die Probleme im Ort nehmen überhand: der schändliche Prozess gegen McCall, die ständige Bedrohung durch Indianer, die Feuergefahr in der engen Schlucht voller Holzhäuser, die chaotische Anlage neuer Straßen und Bürgersteige. Zudem sind mehrere Bewohner überraschend erkrankt und gestorben – ein Spieler aus Cheyenne hat die Pocken eingeschleppt.

Ein Bürger-Komitee soll die Probleme in Deadwood lösen

Am 14. August richten die Bürger ein Komitee aus fünf Männern ein, dem sie die Kontrolle über Deadwood anvertrauen. Da der Kampf gegen die Seuche Priorität hat, nennt sich das Gremium „Board of Health“.

Eines der Mitglieder heißt Seth Bullock. Der 29-Jährige ist erst elf Tage zuvor in Deadwood eingetroffen und hat an der Ecke Main und Wall Street einen Eisenwarenladen eröffnet. Noch am Abend seiner Ankunft begannen er und sein Kompagnon vom Planwagen aus die ersten Nachttöpfe zu verkaufen.

Bullock ist ein großer, hagerer Mann mit mächtigem Schnauzbart. In Montana, wo er lange lebte, hat er nicht nur Geschäfte gemacht, sondern sich in der Politik engagiert: Er war Mitglied im Rat des Territoriums und County-Sheriff. Daher nun seine Wahl ins Komitee: Viele Einwohner Deadwoods stammen wie er aus Montana, kennen ihn.

Wie Wild Bill Hickok ist Bullock ein echter Frontiersman, trinkfest, Respekt gebietend – ein Mann, der sich im Sattel wohler fühlt als hinter einer Ladentheke. Gegen die rauen Sitten des Grenzlands hat er nichts einzuwenden, aber er glaubt auch, durchaus eigennützig, an das Gesetz: weil ein Geschäftsmann wie er nur unter geordneten Verhältnissen zu Wohlstand kommen kann.

Das Komitee macht sich an die Arbeit, treibt Geld ein, um Bauholz zu kaufen und eine Quarantänestation außerhalb des Ortes zu errichten. Reiter des Pony-Express werden in den benachbarten Staat Nebraska geschickt und besorgen Impfstoff. Während die Stadt noch gegen die Epidemie ankämpft, kommt es zu einem zweiten Mord – und Schauplatz ist wieder der „Number Ten“-Saloon.

Der Barkeeper Harry Young hat einen Mann erschossen und stellt sich sofort dem Gesundheitsausschuss. Es ist eine verworrene Geschichte, die er im Verhör erzählt. Man müsste lachen darüber, läge jetzt nicht eine Leiche auf dem Boden des Saloons.

Sam Hartman, genannt „Laughing Sam“, sei einige Zeit zuvor mit Young in Streit geraten und habe gedroht, ihn bei nächster Gelegenheit zu töten. Ein Mann namens „Bummer Dan“, ein Freund des Barkeepers, habe von der Auseinandersetzung erfahren und sich einen Streich ausgedacht.

Er tauschte mit „Laughing Sam“ die Jacke und betrat darin den Saloon, um dem Barkeeper einen Schrecken einzujagen. Der glaubte im Dämmer der Bar seinen Feind zu erkennen und jagte „Bummer Dan“ ohne Zögern eine Kugel in den Leib.

Diesmal wollen die Bürger Deadwoods alles richtig machen. Drei Tage dauert der Prozess, Seth Bullock fällt die Aufgabe zu, die Geschworenen einzuberufen. Sämtliche Anwälte, die sich in Deadwood niedergelassen haben, nehmen an der Verhandlung teil, drei aufseiten der Anklage, drei als Verteidiger, einer unterstützt das Gericht.

Am Ende, nach gut dreieinhalbstündiger Beratung, erkennen die Geschworenen zwar erneut auf „nicht schuldig“, aber die Bürger trennen sich in dem sie vermutlich beruhigenden Gefühl, dieses Mal wirklich Recht gesprochen zu haben.

Zur gleichen Zeit nehmen in den Wäldern rund um Deadwood die Überfälle der Indianer zu, die um ihre Jagdgründe kämpfen. Am 20. August 1876 sterben drei Goldsucher bei einem Vergeltungsangriff auf die Sioux, außerdem wird der Prediger Henry Weston Smith getötet, der unter der Woche in einer Sägemühle sein Brot verdiente und sonntags auf einer Kiste an der Main Street das Wort Gottes zu verkündigen pflegte.

Smith war zu Fuß auf dem Weg ins Nachbarcamp, um dort einen Gottesdienst zu halten, als ihn vermutlich ein Indianer erschoss. Das Komitee kümmert sich um die Bergung der Leichen und die Begräbnisse.

Am selben Tag kommt ein Mann namens „Texas Jack“ die Main Street herabgaloppiert, in einer Hand den blutigen Kopf eines getöteten Sioux. Eine Menschenmenge bildet sich um ihn, und Texas Jack, ein Geschäft witternd, tauscht einige Indianerlocken gegen Goldstaub. Auch hier schreitet der Gesundheitsausschuss ein: Die Mitglieder nehmen den Kopf in ihre Obhut und begraben ihn. Texas Jack erhält eine Prämie des Komitees, weil, so Bullock, „das Töten von Indianern der Gesundheit der Gemeinde zuträglich ist“.

Der Gesundheitsausschuss leistet ganze Arbeit, und doch wird der Ruf nach einer offiziellen Führung immer lauter. Eine effiziente Verwaltung würde Deadwood einen Platz „auf der Straße in Richtung Wohlstand und Ehre sichern“, schreibt der „Pioneer“.

Obwohl sich jeder darüber im Klaren sein muss, dass die Siedlung auf dem Indianergebiet nach wie vor illegal ist, ruft das Komitee am 11. September zur Abstimmung über eine Stadtregierung auf. 1082 Bürger plädieren dafür, nur 57 dagegen – ein Zeichen dafür, wie groß die Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen ist. Die Einwohner wählen einen Bürgermeister und Richter, einen Polizeichef und vier Stadtverordnete. Binnen eines Monats erlässt die neue Verwaltung eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen.

Brandschutzwächter werden nun eingesetzt, um alle Öfen und Schornsteine zu überprüfen; wer Abfall auf die Straße kippt, wird mit einer Strafe von bis zu 20 Dollar belegt. Ansteckende Krankheiten müssen gemeldet, Tierkadaver binnen 24 Stunden aus der Stadt geschafft werden. Der Magistrat erhebt jetzt auch Gewerbesteuern.

173 Geschäftsleute gibt es gemäß dem Zensus vom September in Deadwood – Saloons leisten fortan zehn Dollar Abgabe im Quartal, Schmiede, Bäcker und Zimmerleute fünf, chinesische Wäschereien zehn, Brauer 15 Dollar. Hausierer werden mit 25 Dollar Steuern belegt, um sie von der Stadt fernzuhalten.

Viele Einwohner kritisieren die niedrige Abgabe für die Saloons, doch die Verwaltung argumentiert, da Alkoholkonsum im Reservat ungesetzlich sei, gingen die Schankwirte das Risiko hoher Geldstrafen durch die Bundesbehörden ein.

Straßenräuber werden für Deadwood zunehmend zum Problem

Doch die provisorische Stadtverwaltung regiert nur kurz. Denn bereits im Oktober 1876 zwingt die US-Regierung den Sioux ein neues Abkommen auf. Darin werden die Indianer dazu genötigt, den westlichen Teil ihres Gebiets zu verlassen – die Black Hills gehörten nun nicht mehr zum Reservat, sondern zum US-Territorium Dakota.

„Seit uns der Große Vater versprochen hat, dass man uns niemals vertreiben wird“, bemerkt einer der Sioux-Verhandlungsführer bitter, „sind wir fünfmal vertrieben worden. Ihr hättet die Indianer besser auf Räder schnallen sollen, dann könntet ihr sie hin und her schieben, wie ihr wollt.“

Im Februar 1877 ratifiziert der Kongress in Washington das Abkommen, und Dakota gründet einen neuen Landkreis: Lawrence County, mit Deadwood als Sitz der Verwaltung. In der einst illegalen Goldgräbersiedlung gilt nun das Recht der Vereinigten Staaten von Amerika.

Bald darauf beruft die Regierung des Territoriums drei Landräte, einen Richter, einen Staatsanwalt und einen Kämmerer zur Verwaltung des neuen County. Seth Bullock wird als Sheriff vereidigt. Er ist damit der erste offiziell ernannte Gesetzeshüter Deadwoods.

Sein Büro richtet er im Eisenwarenladen ein, ein Teil seines Lagerhauses dient als Gefängnis. Bullock wirbt acht Stellvertreter an und macht sich an die Arbeit. Vieles ist Routine: Diebstähle, Unterschlagungen, Schlägereien. Da er für das ganze County die Verantwortung trägt, ist er oft in den Hills unterwegs, jagt Wegelagerer und Pferdediebe.

Schnell wird klar, dass mit dem neuen Sheriff nicht zu spaßen ist. Bullock erhebt selten die Stimme, zieht noch seltener die Waffe, aber mit seinem Blick kann er „eine wütende Kobra oder einen wilden Elefanten niederstarren“, erinnert sich ein Einwohner. Als zwei Männer in einem Streit um Land einen dritten erschießen, führt er die Täter ab, ohne sie auch nur zu entwaffnen.

Dass sich etwas ändert in Deadwood, kann man an den Verhaftungen ablesen: Noch im März 1877 sitzt niemand hinter Gittern, im Juli sind es elf Mann, im Oktober 40. Der Magistrat muss ein größeres Gefängnis bauen.

Zu einem ernsten Problem entwickeln sich die road agents, die Straßenräuber. Im September 1876 ist die erste Postkutsche in der Stadt eingetroffen, mittlerweile verkehren zwischen Deadwood und Fort Pierre im Osten zehn in jeder Woche. Die Fahrt dauert 36 Stunden.

Seit die Indianer die Black Hills verlassen haben, ist es für Verbrecher weniger gefährlich als zuvor, in den Wäldern abseits der Siedlungen zu kampieren, und so lauern Wegelagerer an den Straßen. Die lohnendste Beute wäre die Kutsche, die zweimal im Monat das geschürfte Gold aus Deadwood abholt, aber acht bewaffnete Reiter begleiten den Transport, und der Wagen ist gepanzert.

Zudem wird das Gold zu Barren von 90 Kilogramm Gewicht zusammengeschmolzen, die ein Reiter abseits der Trails unmöglich allein fortschaffen kann. Daher konzentrieren sich die Gangster auf die Passagierkutschen.

Am 25. März legt die Bande von „Little Reddy“ McKimie außerhalb Deadwoods einen Hinterhalt. Als der Wagenlenker Johnny Slaughter keine Anzeichen macht anzuhalten, schießt ihm McKimie mit einer abgesägten Schrotflinte direkt ins Herz. Slaughter stürzt tödlich getroffen vom Kutschbock, die Pferde galoppieren weiter in die Stadt.

Bullock befragt Zeugen und Verdächtige, bis die Spur auf McKimie weist. Der Sheriff verfolgt den Gangster über Wochen bis in den Staat Ohio, aber er kommt zu spät: McKimie ist dort bereits wegen anderer Verbrechen verhaftet worden und wird nicht ausgeliefert.

Idaho Springs
Goldsucher-Städte wie Deadwood oder hier Idaho Springs in Colorado entwickeln sich rasch – und verlieren oft ebenso schnell wieder ihre Bedeutung, wenn die Minen erschöpft sind
© Denver Public Library

Nur neuneinhalb Monate lang, bis zum Dezember 1877, dient Bullock als Sheriff, aber in dieser Zeit legt er das Fundament für Recht und Ordnung in dem neuen County. Der örtliche Richter sieht in ihm „den Maßstab, an dem alle Nachfolger gemessen werden sollten“, und die Zeitung schreibt, er habe den Einwohnern „eine Sicherheit für Leben und Besitz“ beschert, „die bei seinem Amtsantritt unmöglich zu erreichen schien“.

Doch Bullock macht sich auch Feinde. Als die Arbeiter einer Goldmine wegen ausbleibender Löhne in den Streik treten und sich in der Grube verbarrikadieren, setzt er nicht lange auf Verhandlungen, sondern lässt alle Luftschächte abdichten und wirft brennenden Schwefel in den Stollen. Die Dämpfe und der Gestank treiben die Streikenden heraus.

Den Arbeitern in den Bergwerken ist Bullock seither verhasst. Die nächste Wahl zum Sheriff verliert er gegen seinen Herausforderer, der einen Saloon betreibt und Unterstützern reichlich Drinks spendiert.

In den Black Hills kennt jedermann Bullocks Namen. Aber er wird nie zu einer Legende wie Wild Bill Hickok. In seiner Zeit als Gesetzeshüter erschießt er, anders als Hickok, keinen einzigen Mann, und es findet sich auch kein Reporter, der Bullocks Leben zu einem Mythos umschreibt. „Wenn er mittags hinaus auf die Straßen trat, war er auf der Suche nach seinem Lunch, nicht nach jemandem, den er erschießen konnte“, erinnert sich später sein Enkel.

Da die Indianer vertrieben sind und die Black Hills ein legaler Teil der USA, wagen sich nun auch Investoren und Spekulanten nach Deadwood. Darunter sind Geschäftsleute, die sich nicht damit zufriedengeben, in den eisigen Gebirgsbächen Nuggets zu waschen, sondern mit Maschinen und schwerem Gerät professionellen Goldabbau betreiben wollen. Bald schon bebt die Erde vom unaufhörlichen Stampfen Dutzender Gesteinsmühlen.

Die freien Schürfer, die Goldstaub gegen Whiskey tauschten, verlassen die Gegend – oder heuern in einem der Bergwerke an. Aber auch Arbeiter und Angestellte siedeln sich jetzt mit ihren Familien in Deadwood an, ziehen in neue Viertel an den Hügelflanken: etwa nach Forest Hill an der Westseite der Schlucht, oder nach Ingleside gegenüber – dort, wo ordentliche Häuser an ordentlichen Straßen stehen, keine 100 Meter von der Main Street und den Badlands entfernt.

Inzwischen hat die Stadt sogar eine Telegraphenverbindung. Bald darauf gibt es mehrere Banken in Deadwood, ein staatliches Postamt, eine Schule, protestantische und katholische Kirchen, eine Feuerwehr, eine Bibliotheksgesellschaft und einen Wohltätigkeitsverein der Damen.

Am 25. September 1879 steht Deadwood in Flammen

Doch dann, am Abend des 25. September 1879, bricht in einer Bäckerei ein Feuer aus, schlägt auf einen Eisenwarenladen über, in dem große Mengen Sprengstoff lagern, und frisst sich durch die Stadt. Die Bürger fassen, was sie tragen können, fliehen auf die Hügel und starren die Nacht hindurch auf die brennende Stadt. 300 Gebäude sind zerstört, 2000 Menschen obdachlos, das Zentrum an der Main Street ein Haufen Asche.

Das „sündigste Camp der Welt“ existiert nicht mehr. Aber die Bürger von Deadwood wären keine Pioniere, würden sie sich nicht schon am nächsten Morgen an den Wiederaufbau machen. Ein neuer Ort entsteht, keine Boomtown diesmal, sondern eine solide Stadt aus Ziegeln und Stein, errichtet von Menschen, die entschlossen sind zu bleiben. Wie in den Tagen des Goldrauschs brechen sich an den Felswänden von Deadwood Gulch wieder die Schläge der Hämmer, das Sirren von Sägen, die Hiebe der Äxte.

Und irgendwo zwischen den noch rauchenden Trümmern hat ein Mann, dessen Saloon in Flammen aufgegangen ist, ein Brett auf zwei Fässer genagelt und schenkt in schmutzigen Gläsern Whiskey aus.

Geo Epoche Panorama Nr. 13 - Der Wilde Westen

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