Anarchie! Kostümierte Horden ziehen lärmend durch die Straßen, singen Lieder, betrinken sich hemmungslos, ergehen sich in wüsten Schlägereien. Diebe treiben ihr Unwesen, niemand arbeitet. Fastnacht in Köln, um 1820.
Der strenge preußische Obrigkeitsstaat, der die Stadt in jener Zeit regiert, ist entsetzt. König Friedrich Wilhelm III. rügt die Kölner Hemmungslosigkeit als "anomalische, in polizeilicher Hinsicht bedenkliche Volkslustbarkeit". Für den preußischen Staat, aber auch die zusehends entnervte Kölner Oberschicht, steht fest: Der Karneval muss diszipliniert werden – oder weg.
Deshalb entsinnt eine Clique schöngeistiger Männer im Winter 1822 einen Rettungsplan: Statt ungezügelter Lustbarkeiten soll es einen bürgerlich-gesitteten Maskenumzug geben. Dieser Rosenmontagsumzug sollte die Fastnachtzeit für immer verändern, er ist die Geburtsstunde des modernen Kölner Karnevals.
Die preußischen Besatzer können mit Karneval wenig anfangen
Schon in den Jahrhunderten zuvor gab es ausschweifende Feiern auf den Straßen, Festessen und Bälle für die Reichen zu Beginn der Fastenzeit vor Ostern: Schließlich musste in der letzten Nacht vor dem Fasten, jener Zeitspanne, in der 40 Tage lang außer Fisch keine tierischen Produkte auf den Teller kommen, alles übriggebliebene Fleisch vertilgt werden. (Das aus dem Italienischen stammende "Karneval" bedeutet denn auch "Wegnahme des Fleisches".)
1341 erstmals in Köln dokumentiert, bestand das närrische Feiern vor allem darin, Verwandte und Freundschaften zu üppigen Speisen einzuladen. Außerdem zogen an den drei Fastnachttagen, von Sonntag bis Dienstag vor Aschermittwoch, Gesellen-Banden mit Trommeln von Tür zu Tür und bettelten bei den Reichen um Gaben. "Nun begann das tolle Treiben auf allen Gassen, in allen Häusern, drei Tage hindurch. Jede Art Privatgeschäfte waren eingestellt, nur der tollen Lust war die Zeit gewidmet", hielt ein Zeitgenosse um 1600 fest. Die Vornehmen dagegen zelebrierten in Köln ab dem 18. Jahrhundert nach italienischem Vorbild gesittete Maskenbälle.

Als 1794 französische Truppen in Köln einmarschierten, konnten sie mit dem wilden Geschlemme und Besäufnis in der Stadt wenig anfangen und verboten den Karneval prompt (arrangierten sich bald aber mit dem Kölner Karnevals-Bedürfnis). Nach den Franzosen kamen 1815 die Preußen. Sie konnten noch weniger mit dem Karneval anfangen als die vorigen Besatzer, hatte die Reformation in Preußen doch das Fasten und damit den Karneval längst abgeschafft. Deshalb sind viele protestantisch geprägte Städte bis heute karnevalfreie Zonen.
Gleichzeitig wandelte sich die Fastnacht in Köln: "Das Fest verrohte und wurde immer vulgärer", beschreibt die Autorin Monika Salchert in ihrem Buch "Kölner Karneval seit 1823". Banden kostümierten sich nicht einfach, sondern vermummten sich regelrecht. Statt Frohsinn herrschte immer häufiger Angst auf den Straßen, zudem galt das Fest galt als fürchterlich primitiv. Der zeitgenössische Dichter Christian Samuel Schier beobachtete "Ausgeburten der Trivialität".
Der Karneval sollte kein wildes Volksfest mehr sein, sondern eine bürgerliche Veranstaltung
Also schmiedete ein kleiner Kreis der Oberschicht – Kaufleute, Fabrikanten, Amtspersonen, Kunstsammler, Schriftsteller und Mediziner – in einer Weinschenke den Plan für den Karnevals-Neustart: Sie, allesamt Vertreter der deutschen Romantik, deklarierten den Karneval in "Kultur" und "Brauchtum" um, und wollten den Frohsinn organisieren. Die Herren riefen das "Festordnende Comité" ins Leben, das einen großen Maskenzug am Montag vorbereitete, den heutigen Rosenmontagszug.
"Die Reform des Kölner Karnevals 1823 hatte zum Ziel, das ungezügelte Karnevalstreiben auf den Straßen in geordnete Bahnen zu lenken und aus dem wilden Volksfest eine bürgerliche Veranstaltung zu machen", so Monika Salchert.
Am Fastnachtsmontag 1823 veranstaltete das Komitee den ersten straff organisierten Karnevalszug. Das Motto: "Die Thronbesteigung des Helden Carneval" (die Figur "Prinz" gibt es erst seit 1872). Acht Pferde zogen den Triumphwagen samt Helden, der auf einem goldenen Delphin saß, im Kreis um den Neumarkt, gefolgt von gut einem Dutzend weiterer Wagen. Dermaßen neue Maßstäbe setzte dieser geordnete Festzug, die Mutter aller Züge, dass etliche Städte im Rheinland das Kölner Modell kopierten – der Rosenmontag war nicht aufzuhalten.

Umstritten blieb der Karneval in Köln bei aller Neuordnung trotzdem. Die Preußen "begrüßten die geordneten Bahnen, in denen das Fest jetzt zelebriert wurde, die häufigen Treffen der Karnevalisten zu den Generalversammlungen in der Zeit von Neujahr bis Karnevalssonntag waren ihnen jedoch suspekt", schreibt Salchert. Planten die Karnevalisten etwa eine Verschwörung gegen den preußischen Staat? Und dann waren da noch die Fantasieuniformen und Narrenordnen, mit denen die Kölner den Militärfimmel der preußischen Besatzer doch sehr offensichtlich verulkten.
Gerade weil der Karneval ständig zwischen Erlaubnis und Verbot pendelte, versuchten die Mitglieder des "Festordnendes Comités" in den ersten Jahren, jede Provokation mit den Behörden zu vermeiden. Ab etwa 1829 mischten sich kritische Töne in die Reden und Texte (tatsächlich wurden die Karnevalsfeiern als Gefahr für die öffentliche Ordnung später mehrfach verboten).
Wirkte die Neuordnung des Karnevals 1823 zunächst "zivilisierend", war es schon Ende des 19. Jahrhunderts mit der gediegenen Bürgerlichkeit des Rosenmontags vorbei: Seitdem wettern konservative Kreise gegen die "Scheußlichkeiten" des Volksfestes – bis heute.