GEO WISSEN: Frau Professor Schneider, selbst Menschen, die in ihrem Leben nie ängstlich waren, entwickeln nach der Geburt des ersten Kindes plötzlich Ängste. Wie kommt das?
PROF. SILVIA SCHNEIDER: Ein Kind zu bekommen verwandelt nicht die Persönlichkeit. Aber diese Wende im Leben macht Mütter und Väter zweifellos ängstlicher. Das lässt sich biologisch erklären: Für jeden komplexen Organismus ist die wichtigste und schwierigste Herausforderung, Nachwuchs zu zeugen, aufzuziehen und so die eigenen Gene zu erhalten.
Die Angst der Eltern ist ein zweckmäßiger Mechanismus der Natur?
Ja, und viele Befürchtungen sind auch berechtigt. Ohne Fürsorge würde ein Kind nicht überleben. Die Eltern müssen da wachsam sein, wo es der Nachwuchs nicht ist. Gerade im frühen Säuglingsalter ist es deshalb zwingend, das Kind stets im Auge zu behalten.
Wovor ängstigen sich Väter und Mütter am häufigsten?
In den ersten Lebensmonaten des Neugeborenen sorgen sie sich vor allem um dessen Überleben. Je älter der Nachwuchs wird, desto mehr entzünden sich die Ängste an Gefahren, die sich aus der Aktivität des Kindes ergeben. Vom Grundschulalter an kreisen die Sorgen vorwiegend um die Zeit, in der sich das Kind eigenständig immer weiter vom Elternhaus entfernt. In der Pubertät verlagert sich die Angst dann noch einmal: Nun ist die Sorge groß, dass der Nachwuchs sich selbst schaden könnte, sich etwa auf eine gefährliche Mutprobe einlässt, Drogen nimmt oder sich zu Straftaten hinreißen lässt.
Haben Mütter andere Befürchtungen als Väter?
Nein, die Ängste sind ähnlich. Doch deren Ausmaß ist unterschiedlich. Studien zeigen: Väter trauen ihren Kindern meist mehr zu und gehen mit ihnen größere Wagnisse ein. So haben Forscher Eltern gebeten, ihr Kleinkind spielerisch in die Luft zu werfen und aufzufangen. Das Ergebnis: Die Väter schleuderten die Kleinen eher schwungvoll in die Höhe, die Mütter dagegen konnten ihre Hände oft kaum von ihnen lösen. Zu groß war ihre Angst, das Kind könne dabei Schaden nehmen.

Wie können Väter oder Mütter mit ihrer Angst umgehen?
Sie zu unterdrücken – damit ist es nicht getan. Kinder merken es, wenn Mutter oder Vater zu verbergen versuchen, dass sie angespannt oder nervös sind. Deshalb müssen Eltern lernen, die Angst nach und nach zu bezwingen. Dabei helfen drei Wege.
Zum einen sollten sie sich umfassend informieren. Wenn sie wissen, wie gering das Risiko einer Infektion ist, wie wenige Kinder wirklich Opfer einer Straftat werden, welches Verhalten in welchem Alter völlig normal ist, dann geraten sie nicht mehr in Gefahr, völlig überzogene Ängste zu entwickeln.
Zum anderen müssen sie üben, ihrem Kind zu vertrauen. Wenn sie es aus Angst vor etwas zurückhalten wollen – etwa, den Weg zur Schule allein zu gehen –, sollten sie sich innerlich sagen: Es schafft das! Denn je älter es wird, desto besser wird sein Gespür dafür, wie weit es in gefährlichen Situationen gehen sollte.
Und schließlich sollten Mütter und Väter sich immer wieder, auch gegenseitig, bewusst machen: Es gibt kein Nullrisiko. So banal es klingen mag: Es ist völlig unmöglich, ein Kind vor allen Risiken des Lebens zu bewahren. Wer das versucht, wird selber zur größten Gefahr für seinen Nachwuchs.
Weshalb?
Damit sich der kindliche Organismus gesund entwickelt, ist er auf Reize aus der Umwelt und eine gute Interaktion mit den Eltern angewiesen. Gehen Eltern allzu behutsam mit dem Neugeborenen um – schützen es etwa vor allen äußeren Einflüssen wie neuen Umgebungen oder fremden Menschen –, kann es zu „Regulationsstörungen“ kommen, wie Forscher es nennen.
Das Kind schläft etwa nicht richtig, schreit sehr viel oder hat Schwierigkeiten, allmählich neue Nahrungsmittel anzunehmen. Es lernt nicht ausreichend, Erregungen zu regulieren – was aber ungemein wichtig ist für eine gesunde Entwicklung. Zudem sind die Ängste der Eltern eng mit der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes verknüpft: Wenn die Erwachsenen sich fürchten, verzagt auch der Nachwuchs.

Können Sie das erläutern?
Dies zeigt sich besonders deutlich an der Angst der Kinder, von den Eltern getrennt zu werden. Dieses „Fremdeln“ ist im Alter von etwa acht Monaten eine völlig normale Reaktion: Das Kind fürchtet, seine Bezugsperson zu verlieren. Zum Beispiel schreit es, sobald Mutter oder Vater sich von ihm abwenden, gar das Zimmer verlassen. Doch die Eltern – vor allem die Mutter – haben einen großen Einfluss darauf, wie stark die Trennungsangst ist und wann sie wieder nachlässt.
Wir konnten in Studien zeigen: Je schwerer sich eine Mutter tut, ihr Kind eigenständig seine Umgebung entdecken zu lassen, je eher sie eingreift, desto größer ist seine Angst, allein gelassen zu werden. Es wird zögerlich und zaudert, beobachtet eher, als aktiv seine Geschicklichkeit zu üben und seine Grenzen auszutesten. Doch genau das lässt die Mutter wiederum fürchten, dem Kind könne ein Unglück geschehen.
Das Problem ist: So etwas geschieht auch, wenn die Mutter die besten Absichten hat. Es ergibt sich einfach aus der Interaktion zwischen Kind und Erwachsenem.
Gibt es also eine Rückkopplung zwischen elterlicher und kindlicher Angst?
Ja. Lange Zeit haben Psychologen sich allein um die Ängste von Kindern gesorgt. Doch nun geraten auch die Mütter und Väter in den Blick. Inzwischen wissen wir: Viele psychische Störungen von Eltern oder Kindern sind das Ergebnis eines Prozesses zwischen beiden Seiten, der sich selbst verstärkt. Wenn ich in meiner Praxis ein Kind behandele, das sich überdurchschnittlich stark fürchtet, widme ich mich in einigen der Sitzungen nur den Eltern. Und oft zeigt sich dabei: Auch sie leiden unter starken Ängsten.
Wie übertragen sich Ängste aufs Kind?
Zum Teil spielen dabei bestimmte Gene eine Rolle. Aber die Übertragung geschieht oft auch über nonverbale Signale, etwa die Höhe der Stimmlage oder die Anspannung des Körpers. Kinder nehmen sehr genau wahr, in welcher Gemütslage sich andere befinden. Wenn sie etwas Neues ausprobieren wollen, prüfen sie etwa durch kurzen Blickkontakt, ob Mutter oder Vater entspannt sind. Das gibt ihnen die Bestätigung, auf dem richtigen Weg zu sein. Doch weitaus problematischer als solche meist unbewussten Signale kann das konkrete Verhalten der Eltern sein.
Ein Beispiel, bitte.
Manche Eltern glauben, dass ihr Kind nicht im eigenen Zimmer einschlafen kann, auch wenn es schon älter als ein Jahr alt ist. Deshalb darf es stets im elterlichen Bett liegen. Aber das führt erst recht dazu, dass es sich allein in der Dunkelheit fürchtet. Denn wenn es immer bei den Eltern ist, lernt es nicht, die Angst auszuhalten und zu erproben, ob sie eigentlich begründet ist, ob nachts wirklich ein Monster im Zimmer lauert. Nur wenn es übt, seine Angst aus eigener Kraft zu besiegen, kann es sie allmählich verlieren. Die Eltern begründen ihr Tun scheinbar rational: „Unser Kleines ist besonders sensibel, ängstlicher als andere Kinder“. In einigen Fällen mag das stimmen. Aber manchmal verbirgt sich dahinter eine Angst der Eltern: In Wirklichkeit sind sie es, die nicht allein schlafen können. Es fällt ihnen schwer, das Kind in einem anderen Zimmer zu lassen, unbeobachtet, außerhalb ihrer Kontrolle. Im Kleinkindalter ist diese Angst berechtigt. Aber grundsätzlich kann ein Kind schon nach den ersten Wochen im eigenen Bett und in einem anderen Zimmer schlafen, sofern die Eltern es hören können. Ab sechs Monaten kann ein Kind unzweifelhaft ohne Probleme alleine schlafen.
Viele Eltern fürchten den plötzlichen Kindstod. Ist die Angst gerechtfertigt?
Es besteht tatsächlich die Möglichkeit, dass ein Säugling vollkommen unerwartet stirbt, ohne hinreichende Erklärung. Dieses Phänomen ist noch kaum verstanden, aber auch ziemlich selten: Im Jahr 2014 sind von mehr als 700 000 Neugeborenen in Deutschland 119 Kinder durch plötzlichen Kindstod gestorben. Die größte Gefahr besteht im ersten Lebensjahr, und männliche Säuglinge sind häufiger betroffen. Immerhin sind einige Risikofaktoren bekannt, die Eltern minimieren können, etwa Rauchen in der Nähe des Kindes, zu hohe Wärme im Bettchen und Bauchlage im Schlaf.
Die Gefahr einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder eines Unfalls ist für Kinder heute viel geringer als früher. Dennoch machen viele Mütter und Väter sich mehr Sorgen als einst ihre eigenen Eltern. Woran liegt das?
In einer deutschen Familie leben heute durchschnittlich weitaus weniger Kinder als zu früheren Zeiten. Sämtliche Sorgen der Eltern richten sich nur auf ein oder zwei Sprösslinge. Aber vielleicht noch wichtiger: Die höhere Sicherheit für Kinder verstärkt, so paradox es klingt, die Befürchtungen.
Wie meinen Sie das?
Je ungefährlicher unsere Welt wird, desto seltener müssen wir auch einmal ein Wagnis eingehen – und desto geringer ist unser Vertrauen, dass Gefahren auch bewältigt werden können. Daher steigt bei vielen Eltern der Drang, zu kontrollieren und jedes Risiko zu vermeiden. Nicht selten fahren Mütter und Väter ihr Kind jeden Morgen bis vor das Schultor oder überwachen seinen Aufenthaltsort per GPS. »Wenn die Erwachsenen sich fürchten, verzagt auch der Nachwuchs«
Welche Folgen hat so ein Verhalten?
Wenn ein Kind kaum noch die Chance erhält, aus eigener Kraft mit Problemen fertigzuwerden, sich immerzu beobachtet fühlt, wird es kaum eigenständig werden. Und genau das tritt ein: Viele Heranwachsende werden heute deutlich später erwachsen als früher, entwickeln kaum Autonomie. Ob bei Schulabschlüssen, der Berufswahl oder der Wohnungssuche: Immer häufiger sind junge Menschen auf die Unterstützung der Eltern angewiesen. So verwandelt sich die Angst der Eltern um ihr Kind in die Angst der Kinder vor der Welt.
Wie können Eltern heute bestmöglich sicherstellen, dass ihren Kindern nichts geschieht?
Am besten beschützen Eltern ihre Kinder, indem sie ihnen einen guten Umgang mit Risiken vorleben. „Tu dies, lass jenes“: Solche erzieherischen Kommandos mögen das Kind lenken und es das eine oder andere Mal vor einer Gefahr bewahren. Aber viel wichtiger ist, welches Verhalten sich Heranwachsende bei den Eltern abschauen. Wenn Mama und Papa nicht bei Rot über eine Ampel gehen, dann wird ein Kind es höchstwahrscheinlich auch nicht tun - auch wenn es allein ist.