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Die heutige Welt bewegt sich zu schnell, als dass wir uns einmal ausruhen könnten. Die globale Wirtschaft läuft rund um die Uhr. Innovationen ereignen sich in halsbrecherischem Tempo, unermüdlicher Einsatz scheint Voraussetzung zu sein für Erfolg.
Wir sind immer auf Draht und permanent vernetzt. Überarbeitung gilt als Statussymbol; mehr noch: Wir betrachten das Bedürfnis nach Ferien sogar als Schwäche. Aber einige der kreativsten, produktivsten und leistungsstärksten Menschen der Welt sind zu der Einsicht gelangt, dass diese Einstellung kontraproduktiv ist. Viele hochrangige Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller arbeiten viel weniger Stunden als die meisten von uns – schaffen aber dennoch beeindruckende Werke. Topathleten wissen, dass sie schneller sein können als die Konkurrenz, wenn sie sich ausreichend Ruhe gönnen. Piloten und Matrosen achten darauf, Schlafdefizite zu vermeiden, um aufmerksam zu bleiben. Sie alle widerstehen dem Sirenengesang der Überarbeitung. Sie finden Wege, Arbeit und Ruhe in Einklang zu bringen. Offenbar wissen diese Menschen genau, wie wichtig es ist, Pausen einzulegen.
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Ein kreativer Kopf braucht Zeit, um Ideen zu vertiefen
Der Psychologe Anders Ericsson vertritt den Standpunkt, dass Musikschüler von Weltklasse sich vor allem deswegen vom Durchschnitt abheben, weil sie sehr viel und ausdauernd üben: hochkonzentrierte, hochintensive Sitzungen von mehreren Stunden am Tag. Ich bin der Ansicht: Das Geheimnis ihres Erfolgs liegt mindestens ebenso sehr in den Pausen. Die Ruhezeiten geben den Musikern die Möglichkeit, ihre Batterien aufzuladen – sowohl mental als auch körperlich. Kreative Geister brauchen Zeit, um Ideen zu vertiefen und neue zu entwickeln.
Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass das Hirn nicht abschaltet, wenn wir uns entspannen. Zwar fahren jene Gehirnnetzwerke herunter, die für Aufmerksamkeit zuständig sind. Dafür aber wird das Ruhezustandsnetzwerk aktiv. Dieses Netzwerk eignet sich hervorragend dazu, Fakten abzurufen sich die Zukunft vorzustellen und neue Verbindungen zu knüpfen. Viele kreative Menschen haben festgestellt, dass dieser Ruhezustandsmodus auch bei Spaziergängen oder beim Fitnesstraining funktioniert. Gerade der Wechsel zwischen Stunden fokussierter Arbeit – genug, um tief in ein Problem einzutauchen, ohne sich dabei überzustrapazieren – und bewusster Ruhe ermöglicht es kreativen Köpfen, weiter an Problemen zu arbeiten, während sie ihre bewusste Aufmerksamkeit entspannen.
Es kann Jahre dauern, bis man diese Art der bewussten Ruhe meistert. Manche Menschen schaffen dies erst im mittleren Lebensalter; aber es lohnt sich. Die bewusste Ruhe lässt schneller bessere Ideen entstehen. Sie hilft uns, ein ausgeglicheneres Leben zu führen. Im Gegensatz zu hektischen Überstunden, die doch zu nichts anderem als Erschöpfung führen, können gezielte Pausen helfen, einen auf lange Sicht produktiveren Arbeitsstil zu erlernen. Die bewusste Ruhe hilft auch, länger ein kreativeres Leben zu führen: Viele Menschen, die bewusst ruhen, arbeiten bis in ihre Achtziger und Neunziger.

Schon eine kurze Rast erhöht die Wachsamkeit
Wissenschaftler haben entdeckt, dass das Gehirn im Schlaf die Erinnerungen des Tages verarbeitet und toxische Proteine abbaut, die mit Demenz in Verbindung gebracht werden. Schon ein kurzes Nickerchen kann Energie und Wachsamkeit steigern. Etliche Athleten, Ärzte, Piloten und Soldaten nutzen diese wissenschaftlichen Erkenntnisse. In früheren Zeiten galt ihnen Schlafentzug als berufliche Notwendigkeit oder als ein Zeichen der Stärke.
Doch mittlerweile wissen sie: Der Lohn eines gezielten Nickerchens sind erhöhte Wachsamkeit, kürzere Reaktionszeiten, bessere Reflexe und klügere Entscheidungen. Erstaunlich ist auch, wie viele ehrgeizige und hart arbeitende Menschen Hobbys nachgehen, die zeitaufwendig, körperlich anstrengend und sogar gefährlich sind. Sie geben sich etwas hin, das ich „Deep play“ nenne – tiefes Spiel, Versunkensein im Spielemodus. Aktivitäten, die psychisch und körperlich herausfordernd sind, bieten dabei ähnliche Befriedigung wie die Arbeit, aber in einem anderen Kontext. Viele Forscher sagen beispielsweise, Sportklettern habe große Ähnlichkeit mit wissenschaftlicher Arbeit: Am Fels ebenso wie im Labor kommt es darauf an, große Probleme in viele kleinere Teile aufzubrechen und sich dabei total zu konzentrieren.
Wer Ruhezeiten zu nutzen lernt, hat mehr vom Leben
Darüber hinaus regt Klettern das Belohnungszentrum an, bringt einen ins Freie und lockt mit dem Kitzel gefährlicher Herausforderungen – etwas, das das Labor nicht bieten kann. Wir sollten unsere Grundannahmen über die Natur der Ruhe und die Beziehung zwischen Ruhe und Arbeit überdenken. Die wertvollsten Arten von Ruhe sind nicht passiv, sondern aktiv: Eine Stunde im Fitnessstudio gibt uns mehr Energie als eine Stunde auf der Couch. Pausen sind etwas Natürliches; sie richtig einzusetzen ist aber auch eine zu trainierende Fähigkeit.
So wie Sänger lernen, ihre Atmung bewusst einzusetzen, um ihre Stimme zu unterstützen, können wir alle lernen, Ruhe zu nutzen, um mehr kreative Tage zu erleben und mehr vom Leben zu haben. Es ist an der Zeit, Arbeit und Ruhe als Partner und nicht als Konkurrenten zu sehen. Erst im harmonischen Zusammenspiel können sie uns helfen, ein längeres, produktiveres und glücklicheres Leben zu führen.