Der Gletschermann ist die am besten untersuchte Mumie der Geschichte. In den fast 30 Jahren seit ihrer Entdeckung haben sich rund 900 Wissenschaftler mit ihr befasst. Durch immer neue Forschungsansätze und Technologien haben sie dem Toten, der seit 1998 in einer eigens konstruierten Kühlkammer in Bozen ruht, immer neue Details entlockt – über seine Zeit, sein Leben, sein Schicksal.
Schon bald nach der Bergung ließen sich Alter, Größe, Gewicht des Toten klären. Die Machart seines Kupferbeils deutete bereits früh darauf hin, dass er in der ausgehenden Jungsteinzeit lebte. Weitere Untersuchungen winziger Proben seines Körpers und der Ausrüstungsgegenstände brachten die Bestätigung: Der Gletschermann lebte irgendwann zwischen 3350 und 3100 v. Chr.
Die Vermessung seiner Muskeln und Knochen ergab, dass er etwa 1,60 Meter groß und rund 60 Kilogramm schwer gewesen sein muss. Mittels eines Verfahrens, das auch Gerichtsmediziner nutzen, um bereits skelettierte Leichen zu identifizieren, konnten Forscher in Ansätzen sein Antlitz mit den tief liegenden Augen rekonstruieren. Dass Falten sein sonnengegerbtes Gesicht durchfurchten, nahmen Forscher aufgrund seines Alters und seines Lebenswandels an. Haarreste, unter anderem gefunden in seiner Kleidung, deuten auf einen braunen, struppigen Schopf hin.
Ötzi war laktoseintolerant und hatte die Blutgruppe 0
Später ermittelten die Forscher, dass er auch braune Augen hatte. Überdies gelang es ihnen erstmals in der Geschichte der Mumienforschung, aus Zellen des Beckenknochens 95 Prozent der DNS zu gewinnen und so sämtliche Informationen über den Körper des Ermordeten, seine Krankheitsrisiken und Verwandtschaftsverhältnisse zu entschlüsseln. Bei der Analyse der Daten kamen weitere, verblüffende Details ans Licht – etwa dass er laktoseintolerant war, die Blutgruppe 0 hatte, zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Herzinfarkt oder Gehirnschlag neigte. Und dass die Vorfahren seines Vaters wahrscheinlich erst vor etwa 6000 bis 8000 Jahren aus Mesopotamien nach Europa eingewandert waren.
Aus dem Erbgut lasen die Forscher auch heraus, dass seine Spermien vermutlich nur eingeschränkt beweglich waren. War der Mann damit ein Clanchef ohne Nachkommen? Ist er daher vertrieben worden?
Der Gletschermann war zwischen 40 und 50 Jahre alt
Das Alter des Toten verriet ein Oberschenkelknochen, denn mit den Jahren kommt es zu Veränderungen in der Knochenstruktur. Demnach war der Gletschermann zwischen 40 und 50 Jahre alt.
Darüber hinaus ermittelten Forscher, in welcher Region er geboren worden ist – das lasen sie aus Proben seines Zahnschmelzes heraus. Bilden sich im Kindesalter die zweiten Zähne, werden chemische Stoffe, die Menschen mit Wasser und Nahrung aufnehmen, in den Schmelz eingebaut. Die Zusammensetzung dieser Stoffe ist typisch für eine Region. Geochemiker verglichen die Zahn- mit Wasserproben aus der Gegend und kamen zu dem Schluss, dass der Tote seine frühe Kindheit im oberen Eisacktal verbracht haben muss, rund 60 Kilometer südöstlich von seinem späteren Fundort.
Sie untersuchten auch Knochenproben. Anders als im Zahnschmelz werden die Stoffe in den Knochen Zeit des Lebens ausgetauscht, sodass sich daraus ableiten ließ, wo der Mann sein letztes Lebensjahrzehnt verbracht hat – nämlich im Nonstal. Sein Heimatdorf lässt sich jedoch nur im Analogieschluss beschreiben. Oft dient die Siedlung Arbon in der Schweiz, von der Reste überdauert haben, als Vorbild etwa für die Maße der Häuser. Welche Tiere die Menschen dort hielten, erschlossen sich Wissenschaftler unter anderem über die Fellkleidung des toten Wanderers.
War der Tote vom Tisenjoch ein Clanchef?
Womit der Mann seinen Lebensunterhalt verdient hat, deuten Forscher sehr unterschiedlich. Aufgrund des Fundortes seiner Leiche an einer viel begangenen Nord-Süd-Passage der Alpen sehen manche Archäologen in ihm einen Händler; allerdings hatte er kein Handelsgut dabei, was Skeptiker gegen dieses Szenario anführen.
Spuren von Arsen, das beim Schmelzen von Kupfer frei wird, deuten für andere darauf hin, dass er womöglich ein Schmied war. Allerdings hat er keine typischen Schwielen an den Händen. Und nach neuesten Untersuchungen ist fraglich, ob sich das Arsen tatsächlich zu Lebzeiten in Nägel und Haare des Gletschermannes einlagerte – oder ob dies erst nach seinem Tod durch Umwelteinflüsse geschah.
Nur Männer hohen Ranges besaßen ein kostbares Kupferbeil, das bezeugen etliche Funde. Viele Forscher vermuten daher, dass es sich bei dem Gletschermann um einen Anführer oder Clanchef handelte.
Unstrittig ist nach medizinischen Untersuchungen, dass der Tote durch Wandertouren zwar trainiert war, was sich am Zustand seiner Wadenmuskulatur ablesen ließ, aber unter etlichen Gebrechen litt. Röntgenbilder zeigen Verschleißspuren an Hüft- und Kniegelenken sowie an der Lendenwirbelsäule. Bei der Untersuchung seiner Tattoos kam heraus, dass die Zeichnungen am Rücken und an den Kniegelenken oft exakt auf jenen Körperpunkten liegen, die Akupunkteure zur Behandlung von Gelenkschmerzen und Beschwerden nutzen, die sich durch Kälte verstärken.
Ötzis Mörder agierte heimtückisch
Auf Röntgenbildern entdeckten die Forscher erst nach Jahren eine Pfeilspitze in der linken Schulter sowie millimeterkleine Hautverletzungen nahe am Schulterblatt. Untersuchungen ergaben, dass sich die Spitze in die Schulter gebohrt und dabei eine wichtige Ader getroffen hatte, ehe der Schütze den Pfeil wieder aus der Wunde riss. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist der Gletschermann an den Folgen dieser Schussverletzung gestorben.
Weitere Indizien deuten darauf hin, dass er ermordet worden und nicht, wie lange Zeit angenommen, im Hochgebirge erfroren ist. So ist der tiefe Schnitt zwischen rechtem Daumen und Zeigefinger eine typische Abwehrverletzung. Dieser Schnitt war zum Zeitpunkt des Todes wohl bereits ein bis zwei Tage alt. Stand er in einem Zusammenhang mit dem tödlichen Pfeilschuss? War der Mann ein Gejagter? Es ist die bis heute plausibelste These.
Wo sich der Tote während seiner letzten Lebenstage ungefähr aufgehalten hatte, vermochten Forscher durch die Untersuchung seines Magen- und Darmtrakts zu ermitteln. Denn wann immer ein Mensch isst, nimmt er auch Pollen aus der Umgebung auf. Die Zusammensetzung und Verteilung der Pollen im Darm lässt darauf schließen, dass der Wanderer im Frühsommer unterwegs war. Und dass er sich bereits anderthalb Tage vor seinem Tod in rund 2500 Meter Höhe aufhielt, dann abstieg, um bald darauf in noch größere Höhen zurückzukehren.
Weitere Analysen brachten die Erkenntnis, dass der Mann kurz vor seinem Tod eine große Menge Speck gegessen und Adlerfarn zu sich genommen hatte – offenbar als Medikament gegen die Peitschenwürmer in seinem Darm.
Während seiner letzten Rast war er nicht in Eile, denn niemand, der gejagt wird, nimmt ein so ausführliches Mahl zu sich. Überdies hatte er den Bogen nicht schussfertig oder sein Beil zur Hand. Im Moment seines Todes muss sich das Opfer vor seinen Verfolgern sicher gefühlt haben.
Der Täter wiederum agierte heimtückisch, aus der Ferne – vielleicht weil er bei früheren Kämpfen unterlegen war.
Eine Untersuchung der Werkzeuge und einiger Waffen des Toten fügte die vielen Puzzleteile zu einem vorläufigen Bild zusammen. Den Forschern gelang es zu ermitteln, woher das Rohmaterial für die Werkzeuge stammte – nämlich unter anderem aus dem Südwesten der Region Trentino (die Dolchspitze) sowie aus dem nördlichen Trentino (eine der Pfeilspitzen).
Das Kupferbeil wiederum kam aus der Toskana (das Abbaugebiet lässt sich identifizieren, weil sich die chemische Zusammensetzung von Feuersteinen und Kupfererzen je nach Region unterscheidet).
Die Wissenschaftler prüften auch, in welchem Zustand seine Werkzeuge waren. Und wie es um die handwerklichen Fähigkeiten des Toten stand, der einen Teil seiner Ausrüstung offenbar während seiner Wanderung nachgebessert hatte. Eine zweite Pfeilspitze war definitiv nicht von ihm, einem Rechtshänder, sondern einem Linkshänder gefertigt worden.
Dem Mann fehlte es offenbar an Nachschub, so machten all diese Ermittlungen deutlich. All seine Waffen und Werkzeuge waren abgenutzt. Und obwohl er in tiefere Regionen abgestiegen war, wohl in die Nähe von Siedlungen, war es ihm nicht gelungen, neue Rohlinge zu besorgen.
Das bestärkte die Forscher in der Annahme, dass er in seinen letzten Lebenstagen ein Verstoßener war, der versuchte, sich auf die andere Alpenseite zu retten.
Wenn auch vergebens.